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Die Kunst- und Wunderkammern. Die Welt in der Stube
ОглавлениеJulius von Schlosser, der Verfasser des ersten Standardwerkes zur Frühgeschichte der Museen, hatte um die Wende zum 20. Jahrhundert den Begriff der Kunst- und Wunderkammern wiederentdeckt und neu geprägt. Aus einer bunten Palette verschiedenartiger und ähnlicher zeitgenössischer Begriffe des 17. und 18. Jahrhunderts, die von der Raritäten- oder Kuriositätenkammer oder einer Naturalien- und Artificialienkammer bis zum Lustkabinett oder Museum reichten, hatte er die bis heute gültige Bezeichnung herausgegriffen. Seither wurden die Kunst- und Wunderkammern zum Leitbegriff für entsprechende Sammlungen, die vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts zum kultivierten Lebensstil vor allem von Fürsten und Adligen, aber auch von Gelehrten und Patriziern gehörten. Die wachsende Begeisterung für das Kunstsammeln und die Kunstpatronage gründete auch auf der neuartigen Rechtfertigung des Sammelns durch italienische Humanisten: Ethos und Großartigkeit der Aristokratie und der Fürsten werde, so hatte Giovanni Pontano gelehrt, durch nichts besser demonstriert als durch das Sammeln von Bronzen, Gemälden und anderen Kostbarkeiten. Auch Werke der bildenden Kunst hatten mittlerweile eine große Wertschätzung erfahren, was sie nun zu bevorzugten Objekten fürstlicher Sammellust machte.
Die ideale Kunstkammer, in: Eberhard Werner Happel: Grösseste Denkwürdigkeiten der Welt, Ende 17. Jh. Die Kunst- und Wunderkammern waren Abbild der großen Welt in der Stube des Gelehrten und Sammlers. In idealen Ordnungsentwürfen wie in der Realität vieler fürstlicher Sammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts waren sie Speicher natürlicher und artifizieller Objekte, die als Träger des Wissens fungierten und eine Ordnung bzw. Erfahrung des Wissens erlaubten.
Drei Kunst- und Raritätenkammern fanden bereits unter den Zeitgenossen besondere Beachtung und waren Gegenstand von Reiseberichten, Bestandsbeschreibungen und Inventaren: Die Sammlungen von Erzherzog Ferdinand von Tirol auf Schloss Ambras bei Innsbruck, die Kunstkammern des bayerischen Herzogs Albrecht V. in München sowie die Kunstsammlungen von Kaiser Rudolf II. in Prag. Daneben stellte die Sammlung des Baseler Rechtsgelehrten Amerbach den Typus einer bürgerlichen Sammlung dar, die sich viel mehr auf Zeichnungen konzentrierte und vom Muster der enzyklopädischen Kunst- und Raritätenkammer entfernte.
Bevorzugtes Beispiel für Schlosser war die Sammlung von Erzherzog Ferdinand von Tirol auf Schloss Ambras in Tirol. Der Erzherzog war nicht nur mit den großen Sammlern und Kunstliebhabern seiner Zeit verwandt oder verschwägert, er besaß überdies durch seine Heirat mit Philippine Welser, Patriziertochter aus Augsburg, ein großes Vermögen, das ihm die Erweiterung der ererbten Sammlungen zu einer kostbaren Sammlung von Kunst- und Kuriositäten sowie den angemessenen Ausbau seines Schlosses bei Innsbruck erlaubte. Auch hatte er, ganz italienischen Vorbildern folgend, in der Nähe des Schlosses noch eine Drechslerwerkstatt und eine Gießerei errichtet, ergänzt um seine Glashütte in Hall. Das lockte zahlreiche Handwerker und Künstler an, die für den Erzherzog arbeiteten. Zu seinen Sammlungen zählten eine Rüstkammer wie eine Bibliothek, vor allem aber eine „große Kunstkammer“, die in insgesamt achtzehn Schränken untergebracht war. Sie wurde zur ersten Sammlung, die nach übergeordneten Gesichtspunkten geordnet und auch einer begrenzten höfischen Öffentlichkeit zugänglich war. Die Aufzeichnungen des Inventars geben Auskunft über das Kunstwollen der Epoche. Es geht um die Präsentation der Vielfalt und Ambivalenz, um die Verfremdung von Formen und Materialien und damit auch um die Verunsicherung und Neugierde des Betrachters.
In den Sammlungsschränken waren Kuriosa und Naturseltenheiten aufbewahrt, ferner Kristallgefäße und Gefäße aus Halbedelsteinen, Gold- und Silberschmiedearbeiten, Muscheln und sog. Handsteine aus den heimischen Bergen; in einem weiteren Kasten befanden sich Musikinstrumente mit kostbaren Verzierungen und Brettspiele, in dem nächsten Kasten Kunstuhren, astronomische und mathematische Instrumente wie Astrolabien, Fernrohre und Guckkästen. Auch in den weiteren Kästen befanden sich Sammelstücke, die zu den Raritäten und Kuriositäten gehörten und die man damals an Fürstenhöfen und auch bei Gelehrten besonders schätzte. Dazu gehörten auch Münzen, Waffen und venezianische Bronzen und Gemälde. Vieles war zudem in anderen Schränken und Truhen untergebracht, oft kostbare Arbeiten der oberdeutschen Kunsthandwerker. Die Gliederung der Kunstkammerschränke, betrachtet man sie in ihrer Gesamtheit, folgte einer Hierarchie der Materialien. Innerhalb eines Kastens lässt sich als Ordnungsprinzip eine aufsteigende Linie von der jeweils rohen Naturform über eine gewisse Naturähnlichkeit bis hin zur künstlerischen Gestaltung und Überhöhung erkennen. Das Kunstwerk stellte damit die letzte Vollendung des im rohen Naturstoff angelegten Zwecks dar. Mit diesem Ordnungsgedanken war man der Philosophie von Aristoteles verpflichtet, die in der Natur ein sinnvoll und zweckmäßig geordnetes Ganzes erblickte, ein „Stufenreich der Zwecke“. Darin hat jedes Ding seinen Platz und seine spezifische Funktion. Gleichzeitig befanden sich in diesem Kosmos das Einzelne und das Ganze in einer ständigen Entwicklung zu einer höheren Form und einem höheren Zweck. Darin liegt das Wesen der Dinge. In diesem Prozess der Höherentwicklung, z.B. von einem rohen Stein zu einer Statue, verliert die Stofflichkeit ihre Bedeutung und lässt in der entwickelten Form die eigentliche Idee erkennen.
Sieht man einmal von Sammlungsobjekten aus der heimischen Region ab, so fanden sich hier kaum Gegenstände, weder Naturalia, Mirabilia, Artefacta oder Exotica, die sich nicht auch in den Bestandskatalogen von anderen Kabinetten und Museen der Zeit fanden. Aber sie repräsentierten mit der Ordnung nach Materialien, die die Entwicklung von naturhaftem zur Kunst und Technologie zeigten, ein ausgesprochen reflektiertes Sammlungsprinzip. Darin schienen auch die eigentümlichsten Objekte – von rohen oder teilweise bearbeiteten Handsteinen bis zu einem Schüttelkasten mit zappelnden Reproduktionen von Kröten – aufzugehen bzw. sich in ein Ordnungsmuster einzufügen.
Viele Objekte waren als Geschenke von Standesgenossen nach Ambras gekommen und zeigten den Rang des Sammlers und seiner dynastischen Netzwerke, in denen er lebte. Sie waren aber auch Zeugnisse einer gemeinsamen frühneuzeitlichen Wissenskultur, die von wissenschaftlicher Neugierde und von der gemeinsamen Überzeugung ausging, dass die Gegenstände niemals nur eine einzige, auf eine spezifische Identität begrenzte Bedeutung haben, sondern dass im allegorischen Denken ihnen auch eine weitergehende symbolische Bedeutung zukommt. Sie stehen für etwas anderes, wie beispielsweise die Uhren und die wundersamen (Spiel-)Automaten eben auch die Fähigkeit des Menschen zur Beherrschung der Welt zeigen sollen; die anderen Geräte für die Förderung der technischen Fertigkeiten und den Gewerbefleiß.
Auch die Münchener Kunstkammer, die Herzog Albrecht V. 1565 gegründet hatte, war nicht nur für fürstliche Besucher, sondern auch für Gelehrte und Künstler zugänglich, denen wir überdies eingehende Berichte über die Anlage wie über wichtige Stücke der Sammlung verdanken. Georg Braun (1541–1622) und sein Drucker Franz Hogenberg widmeten in ihrer mehrbändigen Darstellung städtischer topographischer Ansichten „Civitas Orbis Terrarum“ von 1586 ein Kapitel der Stadt München und den Kuriositäten, die man in der Kunstkammer besichtigen konnte. Der Kunsthändler und Sammlungsberater Philipp Hainhofer (1578–1647) erwähnte auch die Risiken und Nebenwirkungen, die eine öffentliche Zugänglichkeit besaß: viele Stücke seien verloren gegangen und die Besuchsmöglichkeiten seien darum eingeschränkt worden. Umgekehrt gebot es allerdings der gute Ton, dass man als Besucher der Sammlung ein Geschenk hinterließ.
Die Münchener Kunstkammer von Albrecht V. mit ihren mehr als 6000 Objekten (ohne die große Zahl an Münzen) war Teil seiner Sammlungen: dazu gehörten außerdem die schon sehr viel ältere Schatzkammer, eine Bibliothek und das Antiquarium. Dort hatte der Herzog als Erweiterung der Residenz einen ersten und in seiner Größe wie Ausstattung unübertroffenen Renaissance-Sammlungsbau errichtet und die bisher zerstreuten Objekte seiner Kunstkammer zusammengetragen. Als die übrigen Räume fertiggestellt waren, blieben im Antiquarium mit seiner Länge von 69 Metern und seiner prachtvollen Deckenbemalung vor allem antike Kunstwerke oder Kopien davon untergebracht. Durch testamentarische Verfügungen waren alle vier Sammlungen unveräußerlich und sollten dazu beitragen, die Kontinuität der Dynastie zu sichern. Sie befanden sich alle in der Residenz oder in unmittelbarer Umgebung. Für die Kunstkammer wurde schließlich ein Gebäude zwischen „Altem Hof“ und der „Neuveste“ vorgesehen; eine Vierflügelanlage mit einem von offenen Arkaden umsäumten Hof und Rundgängen, die Quiccheberg als ideal für die Einrichtung eines Museums pries. Die räumliche Einrichtung der Kunstkammer selbst und ihre themenbezogene Untergliederung entsprachen in der Realität allerdings nicht den idealtypischen Beschreibungen des flämischen Mediziners und Museumstheoretikers.
Was in München zu sehen war und von Autoren wie Philipp Hainhofer als Bestand der Kunstkammer unter Albrechts Nachfolger, Wilhelm V., 1611 beschrieben wurde, entsprach grundsätzlich den Ordnungen anderer Kunstkammern der Zeit. Die Objekte wurden vor allem auf langen Tischen ausgebreitet oder im Raum aufgestellt bzw. an den Wänden aufgehängt. In München wurden im Unterschied zu Ambras und Prag keine Schränke zur Aufbewahrung der Objekte benutzt. Sie wurden so ausgebreitet, dass man sich bei Rundgängen durch den Raum einen raschen Überblick über die heterogene und reiche Sammlung machen konnte. Natürliche Objekte, wie Fossilien und Korallen, waren in München kaum anzutreffen, wohl aber Zähne, Hörner und Knochen von allen möglichen Tieren. Einen großen Raum nahmen Abnormalitäten ein, die als Naturschöpfungen zu den Kernbeständen der Naturalien gehörten. Was in der Sammlung ins Auge fiel, war die große Zahl von Artefakten. Darunter spielten mechanisch-wissenschaftliche Instrumente und Uhren, etwa im Unterschied zur Kunstkammer in Dresden, eine geringe Rolle. Dafür gab es eine große Anzahl von kunstgewerblichen Objekten, die durch ihre kunstvolle Bearbeitung auffielen, wie etwa Majolica-Geschirr, Emaille-Arbeiten aus dem Limousin oder Porzellan und kostbare Gläser. Von großer Bedeutung waren Objekte aus nicht europäischer Herkunft, meistens als „indisch“ oder „türkisch“ bezeichnet. Das waren vor allem Geschenke von Cosimo I. de’ Medici. Eine weitere Besonderheit bestand in der Pflege einheimischer, bayerischer Handwerksund Kunstarbeiten: von einem frühen Stadtmodell München bis zu Druckstöcken von Waffen und Wappen sowie geographische Karten. Wenn Quiccheberg für die Einteilung der Sammlungen zwischen einer Wunderkammer (miraculosarum rerum promptuarium) und einer Kunstkammer (artificiosarum rerum conclave) unterschied, dann nahm er sicherlich Bezug auf die Münchner Sammlungen. Hier spielten Antiken, vor allem aber eine beachtliche Sammlung von Gemälden und Skulpturen eine beherrschende Rolle. Auch künstlerische Hervorbringungen des Fürsten fehlten hier nicht.
Eine erste gravierende Veränderung erfuhren die Bestände der Kunstkammer, als Maximilian I. 1606 eine eigene Kammergalerie einrichtete und die Kunstwerke von besserer Qualität aus der Kunstkammer abzog. Das hatte teilweise konservatorische Gründe, entsprang aber vor allem wohl dem Wunsch, diese Stücke dem öffentlichen Zugang zu entziehen und als persönlichen Besitz des Souveräns zu definieren. Sie gehörten nun zu seinem Arcanum. Der Wert der Kunstkammer wurde noch weiter eingeschränkt (und der Weg zur Spezialisierung von Sammlungen geebnet), als auch die Münzen zu Beginn des 17. Jahrhunderts ins Antiquarium gebracht wurden.
Umgruppierungen und Veränderungen, aber vor allem ständige Erweiterungen erfuhren auch die Kunstkammern von Kaiser Rudolf II. Sie waren die größten ihrer Zeit und Gegenstand zahlreicher bewundernder Reise- und Gesandtenberichte. Später galten die Kunstkammern Rudolfs allerdings als sonderlich, gar als Ausgeburt eines Verirrten. Sicherlich war der Habsburger ein Kunstbesessener, der durch ein Netz von Kunstagenten und Künstlern, die in seinem Auftrag durch Europa reisten, mit Hartnäckigkeit, gelegentlich auch mit Druck und Zwang, die großartigsten Kunstwerke zusammenraffte. „Das ist mein“, soll er ausgerufen haben, als er ein Relief von Giovanni di Bologna, das eine Allegorie auf Francesco I. de’ Medici darstellte, als Geschenk erhalten hatte und dies eigenhändig in sein Privatzimmer trug. Dass er ein wirklicher Kunstliebhaber und -kenner war, ist vielfach belegt. Joachim von Sandrart beschreibt in seiner „Teutschen Akademie“, welche Sorgfalt und Vorsicht beim Transport wertvoller Bilder Rudolf anordnete. Das „Rosenkranzfest“ von Albrecht Dürer, das Rudolf in Venedig hatte erwerben lassen, wurde zuerst in Baumwollwatte, dann in Teppiche und schließlich in Wachsleinwand verpackt und dann von Venedig bis Prag von kräftigen Männern getragen, um dem Bild keinen Schaden durch Erschütterungen beim Transport zuzufügen. Dass seine Kunstkammer jedoch, wie noch Julius von Schlosser behauptete, trotz der dort vorhandenen Kunstwerke derart „bunt und abenteuerlich“ und von keinem methodischen Bewusstsein, sondern nur von der Jagd nach dem Seltenen und schwer Erreichbaren geleitet gewesen wäre, lässt sich nach der Publikation des Inventars von 1607–1611 nicht mehr behaupten. Im Gegenteil, sie hält auch in konzeptioneller Hinsicht jedem Vergleich mit den Kunstkammern in Ambras und München stand. Die Ansprüche, die der Kaiser an die Qualität der Objekte und die Reichhaltigkeit seiner Sammlungen stellte, waren größer als die seiner Zeitgenossen. Vor allem aber war die Kunstsammlung des Kaisers auf der Prager Burg ungleich größer und von bedeutender künstlerischer Qualität. Sie gilt heute in der Kunstgeschichte als das „größte Universalmuseum, das je in einer Hand vereinigt war“ (Bauer).
Rudolf, Sohn von Kaiser Maximilian, hatte schon seit seinen Jugendjahren, die er am Hof in Madrid verbracht hatte und die ihn später auf ausgiebigen Reisen in italienische Städte und Herzogshöfe führten, seine Liebe zur Kunst entdeckt und entwickelt. Wiederholte Kontakte mit bedeutenden Künstlern seiner Zeit dienten ihm als Möglichkeit der Beratung und der intellektuellen Bereicherung. Seine Regentenzeit von 1576 bis 1612 bedeutete für die Zeit der Kunstkammern zugleich den Höhepunkt.
Für seine Sammlungen, die durch Ankauf auf dem Kunstmarkt oder durch Aufträge an lebende Künstler, aber auch durch Erbschaften und Geschenke ständig wuchsen, hatte Rudolf auf der Prager Burg, die er seit den 1580er-Jahren schrittweise zu seiner Residenz ausbaute, zunächst einen Wohntrakt vorgesehen, dann aber angesichts der ständig wachsenden Sammlungen westlich des bestehende Palastes einen neuen Flügel, das sog. Sommerhaus, errichtet. Als diese Räume wiederum zu klein waren, begann man mit dem Bau des sog. Gangbaues, der zwei Obergeschosse für die Sammlungen besaß. Im obersten Geschoss war die Kunstkammer untergebracht. Sie bestand aus drei Räumen, die aufgrund ihrer Architektur das „Erste, Zweite und Dritte Gewölbe“ genannt wurden. Sie zusammen bildeten die „vordere Kunstkammer“; an diese schloss sich durch einen Gang die „Kunstkammer“. Im zweiten Geschoss befand sich über den drei Gewölben ein einziger Raum, der die Gemäldegalerie umfasste.
In der Kunstkammer standen an der Wand zwanzig geschlossene oder offene, ein- oder zweiteilige Schränke. An der Fensterwand befanden sich Tische, Truhen und Globen. In der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch mit Blumen aus Metall, Spielautomaten, Musikinstrumenten, Uhren, Spiegeln, Globen, Handsteinen und mit einem Kästchen mit Schreibutensilien. Das alles entsprach der Anordnung und Aufbewahrung anderer Kunstkammern, etwa auch der in Ambras. Die Bilder in der Galerie waren in drei Ebenen angeordnet. Auf der anderen Seite des rund ein hundert Meter langen Ganges waren sie nur an die Wände oder Fenster angelehnt. Ähnlich war auch der Spanische Saal mit Bildern dekoriert.
Die Zahl der allein in der Kunstkammer untergebrachten Gegenstände muss riesig gewesen sein. Das Inventar aus den Jahren 1607 und 1611 enthält nur etwa die Hälfte aller Stücke, und es umfasste bereits 2814 Posten. Der venezianische Gesandte Soranzo schätzte allein die Zahl der Gemälde auf über 3000, was möglicherweise übertrieben war.
Die Gemäldesammlung enthielt Werke berühmter italienischer, niederländischer und deutscher Meister. Dazu gehörten Bilder von Peter Brueghel, Raffael, Leonardo da Vinci, Parmigianino und Correggio sowie Skulpturen von Adrian de Vries und Giambologna. Besonders stark vertreten waren die Arbeiten Albrecht Dürers, für den Rudolf seit den intensiven Beratungen, die er durch den Nürnberger Maler Hans Hoffmann erhalten hatte, eine besondere Vorliebe hegte. Am Ende besaß niemand so viele Gemälde und Zeichnungen von Dürer wie Rudolf II. Hoffmann hatte auch bei der Auswahl von Dürer-Bildern ein entscheidendes Wort mitzureden, als dem Kaiser die Sammlung des Nürnberger Patriziers Imhoff von dessen Nachfahren zum Kauf angeboten wurde. Mit der Beratung durch Hoffmann wählte er sich die besten Stücke aus und sonderte vor allem Kopien aus. Aber auch andere deutsche Maler fanden sich in der Sammlung: Lucas Cranach sowie einheimische rudolfinische Künstler. Seine besondere Vorliebe für die Werken von Tizian und Giambologna hatte Rudolf von seinem Onkel Philipp II. geerbt. Der Kontakt bzw. die Förderung zeitgenössischer noch lebender Künstler kam durch seine eigene Italienreise wie durch die Vermittlung des Künstlers Hans von Aachen zustande, der im Auftrag des Kaisers in Italien kräftig einkaufte. Hinzu kam eine große Kollektion graphischer Blätter, zu der wiederum Kupferplatten von Dürer und van Leyden gehörten. Im Vergleich zu anderen Sammlungen war die Kunstkammer Rudolfs weniger Ort für höfische Repräsentation und Zurschaustellung von Reichtum und Macht, sondern Ort der Kontemplation und des Forschens. Es waren Künstler und Forscher, die hier vor allem Zugang fanden, und keine fürstlichen Besucher und Diplomaten. Vielleicht lag darin der Grund für das hartnäckige (Vor-)Urteil, dass der Kaiser sich in seine Kunstkammern eingeschlossen und Politik und Herrschaftspflichten vernachlässigt habe. Doch allein die Pracht und der Reichtum der Sammlung sprachen gegen dieses Urteil, denn deren Funktion als Mittel der Repräsentation und Legitimation war dem Kaiser durchaus bewusst. Warum hätte er sonst Inventare seiner Sammlungen anlegen lassen und bereitwillig Kunstkenner und -schriftsteller darüber berichten lassen. Denn er ging wie andere kunstliebende und sammlungsbesessene Zeitgenossen von der Vorstellung aus, dass die Kontrolle über einen Mikrokosmos in einer Kunstkammer die überzeugendste symbolische Rechtfertigung für den Machtanspruch eines Herrschers über den Makrokosmos darstellte. In diesem Sinne hatte der Kardinal d’Este nach einem Besuch in Prag von dem Kunstschatz des Kaisers geschrieben, dass dessen Pracht der Größe seines Besitzers würdig sei.
Als wohlhabender, aber nicht reicher Bürger hatte Basilius Amerbach (1533–1591), humanistisch gebildeter Rechtsgelehrter und Syndikus aus Basel, seine Sammeltätigkeit vor allem auf Münzen, Goldschmiedemodell und auf Werke der bildenden Kunst verlegt und damit das Erbe seines Vaters Bonifacius (1495–1562) fortgesetzt. Zu seinen Beständen gehörten Gemälde, vorwiegend Porträts von Hans Holbein, aber auch Zeichnungen von Dürer. Ein Inventar von 1596 verzeichnete 67 Gemälde, 1900 Zeichnungen, 3900 Holzschnitte, über 2000 Münzen und Medaillen sowie eine umfangreiche Bibliothek. Dazu kamen zahlreiche Musikinstrumente und Goldschmiedearbeiten. Seine Sammlung glänzte vor allem durch die konsequente Auswahl der Objekte und die Konzentration der Kunstwerke, die Amerbach sammelte. Den Schwerpunkt bildete seine oberrheinische Umgebung. Seine Sammlung konnte sich allein schon aus finanziellen Gründen weder im Umfang noch in der historischen Dimension mit den systematischen Grundsätzen messen, die in Italien Vasari in seinem „Libro de’ desegni“ für die Auswahl von Gemälden aufgestellt hatte, noch mit den Leitlinien Quicchebergs für eine Universalienkammer. Das strebte Amerbach aber offenbar auch gar nicht an. Er war vor allem Liebhaber der Kunst und verzichtete darum auf größere Bestände aus dem Bereich der Raritäten und Kuriositäten.
Ein Kabinettsschrank, den er sich nach dem Umzug seiner Sammlung in das väterliche Haus 1562 anfertigen ließ, barg die Schatzkammer seiner Sammlung, wo er seine Münzsammlung nach chronologischen und ästhetischen Gesichtspunkten geordnet (und verschlossen) und mit Gemmen und Edelsteinen ergänzt hatte. Nur seine Gemälde befanden sich außerhalb des großen Schrankes und seine drei italienischen Bronzestatuetten antiker Götter waren bezeichnenderweise nach außen sichtbar in drei Nischen präsentiert. Allein schon die Anordnung der drei Statuetten Venus mit Spiegel, Merkur und Jupiter ist Programm. Venus mit dem Spiegel war Sinnbild von Vergänglichkeit und Eitelkeit und soll auch den Sammler an die Zeitlichkeit der irdischen Güter erinnern. Zudem steht Venus, hier im Mittelpunkt des Arrangements, auch für die Schönen Künste, die in der Sammlung Amerbach einen großen Stellenwert besitzen. Merkur, der Gott des Handels, verweist auf die Münzen und damit auch auf den Besitzerstolz des Juristen Amerbach. Jupiter als Göttervater steht für die großen Männer, die auf den Münzen verehrt werden und für den Schutz des Rechtswahrers Amerbach. Seine Sammlung folgt den Grundsätzen einer „dispositorischen Vernunft“ (Braungart), ohne dass sie den idealtypischen Ausführungen von Quiccheberg über die Ordnung der Kabinettssammlungen verpflichtet war.
Während Amerbachs Sammlungen noch an der Nahtstelle von einer klassischen Kunstkammer zu einer reinen Kunstsammlung anzusiedeln sind, haben andere bürgerliche Sammler nördlich der Alpen zur selben Zeit schon eine konsequentere Konzentration ihrer Sammlertätigkeit auf Kunstwerke ihrer Zeit vorgenommen und auch gute Kontakte mit dem Kunstmarkt in Italien sowie mit herausragenden Künstlern ihrer Zeit aufgenommen. In ihrer Gesamtstruktur war die Sammlung Amerbachs sehr nahe bei dem Praun’schen Kabinett in Nürnberg, nur dass die Vorlieben des bürgerlichen Kunstliebhabers sich bei diesem noch stärker auf die Auswahl der Sammlungsobjekte auswirkten als bei dem Basler Gelehrten. Mit den bürgerlichen Kunstsammlern, die im 16. Jahrhundert noch kaum vertreten waren, dann aber im 18. Jahrhundert einen deutlichen zahlenmäßigen Aufstieg nahmen, aber auch einen Qualitätsgewinn ihrer Sammlungen zeigten, soll sich das folgende Kapitel beschäftigen.