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"Wilde" oder "professionelle" Supervision?
ОглавлениеIch bin ein wilder Analytiker". Mit diesen Worten eröffnete Georg Groddeck 1920 seinen Vortrag auf dem psychoanalytischen Kongress in Den Haag. Was meinte er damit? Groddeck war Arzt und versuchte, organische Krankheiten psychoanalytisch zu verstehen und entsprechend zu behandeln. 1921 erschien von ihm sein erstes grundlegendes Buch "Der Seelensucher" im Internationalen Psychoanalytischen Verlag. Groddeck wurde zu einem Wegbereiter der psychosomatischen Medizin. Freud übernahm 1921 von ihm sogar den Begriff des "Es". Ein Novum bleibt Groddeck, da ihm als Psychoanalytiker weite - wenn auch geteilte - Aufmerksamkeit zuteil wurde, ohne dass er selbst jemals eine entsprechende Ausbildung noch eine eigene Analyse machte. So war er eben ein "wilder Analytiker" und als solcher auch von Urvater Freud anerkannt. In einem Brief an Groddeck (1979, S. 137) schrieb er bereits 1917: "Wenn Sie begriffen haben, was Übertragung und Widerstand sind, können Sie ruhig an die psychoanalytische Behandlung Kranker herangehen.
"Nun, was will ich damit für die verantwortungsbewusste Ausübung von Supervision sagen? Man braucht bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten sowie ein ausreichendes Maß an Neugierde und Wissensdrang, um als professioneller Experte tätig sein zu können, ohne unbedingt eine formale Ausbildung zu haben. Ich habe das Beispiel Groddeck sicherlich nicht zufällig ausgewählt. Es ist mir sympathisch. Sympathisch, weil es auch meinen eigenen Weg zur Supervision beschreiben könnte, sympathisch, weil Raum für Experimentelles und neugieriges Ausprobieren bleibt, ohne deswegen in Scharlatanerie abzugleiten. (Ähnliches ließe sich von Michael Balint, dem Begründer der später nach ihm benannten Balintgruppen, sagen.) Mein eigener Weg vom 'wilden' zum 'professionellen' Supervisor mag für den Leser interessant sein und wird den Tenor meiner Ausführungen zu diesem Thema mitprägen. Meine ersten Erfahrungen sammelte ich als Gruppen-Supervisor für Sozialarbeiterstudenten. Meine Kompetenz hierzu bezog ich aus meiner Sozialarbeiteridentität und meinen beschriebenen tiefgreifenden Erfahrungen in einer mehrjährigen Teamsupervision und einer anschließenden Balintgruppe. Eine abgeschlossene Gruppenanalyse und Fortbildungen hierzu halfen mir ganz erheblich, Gruppenprozesse zu erkennen und sie für die Supervision nutzbar zu machen. Zu dem Zeitpunkt, als ich begann, Erzieherteams zu supervidieren, gründete sich gerade eine neue Gruppe von Kollegen, die wie ich als Teamsupervisoren arbeiteten. Über lange Zeit trafen wir uns wöchentlich drei Stunden, um uns gegenseitig zu supervidieren. Eine schwierige Sache, denn zwölf andere Kollegen gaben kritische Kommentare, stellten bohrende Fragen und versuchten teilweise so, sich selbst als die besseren darzustellen. Wir experimentierten unaufhörlich, die Dynamik unter uns wurde nicht leichter, aber wir suchten und fanden immer wieder neue Wege für uns, ein sinnvolles Setting zu erproben: Wer ein Supervisionsanliegen hatte, wählte sich aus der Gruppe einen Kollegen seines Vertrauens als Supervisor. So standen jetzt schon mal zwei im Mittelpunkt: der Supervisor und der ratsuchende Kollege. Das erleichterte die Sache ein wenig und machte unterschiedliche Arbeitsweisen und Einschätzungen transparenter.