Читать книгу Gedankenpiraten - Hardy Richard - Страница 20
Kapitel 18
ОглавлениеPaul fühlte sich schrecklich. Sein Kopf schmerzte und das Gefühl in seinem Magen war ihm aus wild durchzechten Nächten bekannt. Schon wieder war er bewusstlos geworden. Er sinnierte mit geschlossenen Augen darüber nach, wie oft man eigentlich so etwas erleben kann, bis das Gehirn Schaden nimmt. Paul wusste es nicht. Am Liebsten wollte er jetzt einfach so liegen bleiben und die ganze Welt draußen lassen. Seine Augen konnte er geschlossen lassen, doch seine Ohren arbeiteten einwandfrei – ob er wollte oder nicht. Und so hörte er, dass noch jemand im Raum war. Zwar neugierig, aber dennoch widerwillig öffnete er langsam seine Augen. Vor ihm stand eine junge Frau. Sie hatte ihre dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und sie hatte eine Krankenschwestern-Tracht an. Mit ihren großen braunen Augen sah sie ihn fragend an und sprach in einem besorgten Krankenschwesternton zu Paul „Herr Gasser, ist alles mit Ihnen in Ordnung?“ Dann sah sie auf den Nachttisch, hob ihren Zeigefinger und meinte im Tonfall einer Lehrerin „Sie haben schon wieder Ihre Medikamente nicht genommen“. Dabei hielt sie ihm eine Tablettenschachtel unter die Nase. Paul sah sich verwirrt um. Okay, damit hat sich die Frage geklärt wie viel so ein Hirn aushält, dachte sich Paul. Nahm aber trotzdem stumm und wie ferngesteuert die Schachtel aus der Hand der Schwester, öffnete den Deckel und nahm eine Handvoll Pillen heraus. Dann nahm er das Glas mit Wasser, das auf dem Nachtkästchen vor ihm stand, in die andere Hand und warf sich die ganze Ladung Tabletten in den Mund. Er spülte sie hinunter und fragte „Zufrieden?“ Die Schwester nickte freundlich und meinte dann nur „Geht doch“. Gerade als sie sich umdrehte um das Zimmer wieder zu verlassen rief Paul ihr hinterher „Schwester, ich bin gerade etwas verwirrt. Irgendwie kann ich mich nicht mehr erinnern, wo ich hier bin und was passiert ist“. Die Schwester drehte sich zu Paul, lächelte ihn freundlich aber auch mitleidig an und meinte „Ach Herr Gasser, das kann schon mal passieren. Nachdem was Sie alles durchgemacht haben.“ Paul hörte weiter wortlos zu und die Schwester, auf ihrem Namenschild stand Nadine, holte kurz Luft und sprach dann weiter. „Sie sind doch vor einer Woche zu uns auf die Palliativstation gekommen, weil es Ihnen doch so schlecht ging. Und dann mussten die Ärzte Sie auch wiederbeleben, da Sie eine Lungenembolie bekommen haben. Aber jetzt scheint es ja wieder besser zu gehen.“
Bei den letzten Worten hob Nadine ihre Stimme etwas an, sodass es sich wirklich so anhörte, als ob wieder alles gut werden würde. Lernen Schwestern so etwas in ihrer Ausbildung? Überlegte sich Paul. Und dann fragte er weiter „Schwester Nadine, was für eine Krankheit habe ich denn?“ Bei dieser Frage war Paul sich gar nicht sicher, ob er die Antwort auch wirklich hören wollte. Doch er hatte die Frage gestellt und Nadine antwortete bereitwillig. „Magenkrebs im Endstadium. Aber das wissen Sie doch Herr Gasser. Ich muss jetzt aber leider schon wieder weiter, die anderen Patienten wollen auch noch versorgt werden. Schlafen Sie gut, Herr Gasser.“ Dabei blinzelte sie Paul frech an, drehte sich zur Türe und verließ das Zimmer. Die Antwort erschütterte Paul deutlich mehr, als er erwartet hatte. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er war nun also schon wieder in dem Körper dieses Herrn Gasser, der an Magenkrebs litt. Wie konnte es passieren, dass er ausgerechnet wieder hier, völlig unkontrolliert, landete?
Paul versuchte sich daran zu erinnern was genau passiert war, bevor er sich so unkontrolliert, ungewollt umloggte. Das Letzte woran er sich erinnern konnte war, dass beim Zubettgehen das Telefon geklingelt hatte. Paul überlegte weiter, was dann geschehen war. Und plötzlich erinnerte er sich wieder ganz klar. Am Telefon war wieder diese Reibeisenstimme, die ihm schon einmal gedroht hatte. Und diesmal sagte sie nur „Ich hab dich“. Und dann hörte er ein Geräusch wie ein Herzschlag. Ab da konnte sich Paul an nichts mehr erinnern. Die Welt um ihn herum versank ab dem Augenblick als er dem Rhythmus lauschte. Und dann landete er wieder in diesem Körper. Es musste also irgendetwas mit den Anrufen und diesem Geräusch zu tun haben. Anscheinend löste das Trommeln das Umloggen aus. Beim ersten Mal noch etwas verzögert, dieses Mal aber sehr viel schneller. Vielleicht war das eine Art von Konditionierung? Er sollte dringend mit Rowena darüber sprechen. Vielleicht konnte sie ihm helfen.
Doch jetzt musste er erst einmal diesen Körper verlassen. Paul dachte kurz nach. Dann kam ihm aber der Gedanke, dass es vielleicht auch ganz sinnvoll sein könnte etwas mehr über Herrn Gasser zu erfahren. Irgendeinen Grund musste es ja haben, das er immer wieder in diesem todkranken Menschen landete. Also stand Paul, im Körper von Herrn Gasser, aus dem Bett auf und sah sich zuerst einmal in dem Krankenzimmer um. Im Nachtkästchen fand er nur einen Flaschenöffner und ein paar Scheiben Vollkornbrot, die Herr Gasser, dem Anschein nach, für schlechte Zeiten gebunkert hatte. Noch schlechtere Zeiten? Sein Gastgeber schien ein Optimist zu sein. Paul ging in das angrenzende Bad, einem kleinen gefliester Raum mit kalter Neonröhrenbeleuchtung. Er wollte nun endlich das Gesicht seines Wirtes sehen. Paul stellte sich vor den Spiegel und sah hinein. Er sah einen vielleicht 40jährigen Mann, dem man seine schwere Krankheit deutlich ansehen konnte. Die Haut war gelblich blass, was die dunklen eingefallenen Augen noch erschreckender aussehen ließ. Jetzt konnte sich Paul vorstellen, was dieser Körper bereits alles mitmachen musste. Der Mann hatte kaum noch Haare auf dem Kopf, was sicherlich auf Folgeerscheinungen einer Chemotherapie zurückzuführen war. Paul sah an sich hinunter. Er hatte einen gestreiften Schlafanzug an, der an ihm hing wie auf einem Kleiderbügel. Herr Gasser war wirklich sehr krank. Und es war nicht angenehm in diesem Körper zu stecken. Paul fühlte sich schwach und er spürte, wie ihm jede Bewegung enorm Kraft abverlangte.
Paul ging wieder zurück in das Krankenzimmer und öffnete den Spind-Schrank. Wie er es sich gedacht hatte waren darin die Kleidungsstücke des Herrn Gasser. Er griff in das Leinen-Sakko, das sauber auf einen Kleiderbügel aufgehängt war und fand tatsächlich eine Brieftasche darin. Paul nahm sie heraus und durchsuchte den Inhalt. Darin waren ein Personalausweis und ein Führerschein; ausgestellt auf den Namen Helmut Gasser. Einige Geldscheine waren auch darin. Aber das alles interessierte Paul nicht. In einem kleinen Nebenfach in der Brieftasche fand er ein paar Kredit- und Kundenkarten. Paul suchte weiter und fand noch etwas - eine Visitenkarte. Paul starrte auf die Pappkarte und konnte kaum glauben, was er sah. Darauf stand: Paul Schwarz, Programmleiter. Es war seine eigene Visitenkarte.
Paul spürte, dass seine Kräfte schwanden und sein Herz zu rasen begann. Er musste sich dringend hinlegen. Der Schock über diese Entdeckung riss ihm den Boden unter den Füßen weg. Er legte sich in das Krankenbett und nahm sich einen Schluck Tee aus einer Thermoskanne, die auf dem fahrbaren Nachtkasten stand. Wer um alles in der Welt war dieser Herr Gasser? In was für einen Zusammenhang stand er, Paul, mit ihm? Paul versuchte sich auf den Namen Helmut Gasser zu konzentrieren. Hatte er mit diesem Herrn irgendwie schon einmal Kontakt? Oder kannte er ihn nur über einen Bekannten? Paul konnte sich zumindest nicht daran erinnern. Ihm war dieser Mensch völlig unbekannt. Aber eines war ihm jetzt klar. Herr Gasser kannte sehr wohl ihn.
Paul musste noch mehr Informationen über diesen Unbekannten herausbekommen. Er drückte auf den Knopf der Klingel, die an einem Kabel über den Bettengalgen gewickelt war und wartete brav im Bett bis Nadine den Kopf zur Tür hereinsteckte und den Patientenruf ausschaltete. „Wo brennt’s denn?“ fragte sie und lächelte Paul dabei an. „Kann ich mit Ihnen einen kurzen Moment sprechen? Ich glaube mit mir stimmt etwas nicht“ „Aber natürlich“ antwortete Schwester Nadine, trat in das Zimmer und stellte sich an Pauls Krankenbett. „Was ist denn los, Herr Gasser? Wieder diese Schmerzen?“ „Nein“ antwortete Paul „Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich weiß gar nicht mehr wer ich eigentlich bin und wo ich hingehöre. Außerdem würde ich gerne meine Krankenakte sehen. Können Sie mir da bitte helfen?“ Nadine sah Paul freundlich an und sprach dann mit sanfter Stimme zu ihm „Ich weiß ja auch nicht viel über Sie. Ich kenne Sie ja erst seit einer Woche und in der Zeit betreute ich Sie nur einen Tag. Und zwischenzeitlich waren Sie ja auch auf der Intensivabteilung, hier im Krankenhaus München Schwabing. Ich weiß nur, dass Sie ein durchaus netter und freundlicher Mensch sind. Und ich finde es erstaunlich wie optimistisch Sie mit ihrer Krankheit umgehen. So als ob Sie gar keine Angst haben müssten, weil Sie eine Lösung parat hätten. Und wegen der Krankenakte, da muss ich mit unserem Stationsarzt reden. Aber das müsste schon gehen.“ Paul sah Nadine an und sagte dann „Das wäre sehr freundlich von Ihnen. Und ich wirke so, als ob ich eine Lösung parat hätte?“ Die letzten Worte sprach er absichtlich langsam aus. Er konnte nicht glauben, was er da gehört hatte. Nadine nickte und meinte „Ja, ich finde es toll, wenn man nicht aufgibt. Es gibt doch immer eine Hoffnung. Ich gehe dann mal mit dem Stationsarzt reden.“ Paul wurde übel. Was wurde hier gespielt? Es war also kein Zufall, dass er in diesem Körper steckte. Die Krankenakte war jetzt nicht so wichtig. Er wusste jetzt ja, was Herrn Gasser fehlte. Er war auf jeden Fall zum Tode verurteilt. Paul musste aus dem Krankenhaus und am besten auch aus diesem Körper so schnell wie möglich wieder raus. Und dann brauchte er noch mehr Informationen über diesen Herrn Gasser, in dessen Körper er gefangen war.
Paul lag im Bett und versuchte sich auf das Umloggen in seinen eigenen Körper zu konzentrieren. Auch wenn er sich noch so anstrengte und er seine ganze Kraft zusammennahm fiel es ihm deutlich schwerer als er es gewohnt war. Und genau wie beim letzten Mal auf der Intensivstation wollte es einfach nicht klappen. Damals stand Herr Gasser zusätzlich noch unter starken Schmerzmitteln, die ihm die Sinne vernebelten. Und genau wie jetzt merkte er, dass sich irgendetwas in seinem eigenen Körper sträubte ihn wieder einziehen zu lassen. Und gleichermaßen war es auch jetzt. Wieder nahm er seine ganze Kraft und Energie zusammen um aus diesem Körper zu kommen. Er dachte daran, wie sich sein eigener Körper anfühlte, wie seine Sinne darin arbeiteten. Und plötzlich, als ob er jemanden von einem Stuhl schubsen würde um selbst Platz nehmen zu können, spürte er, wie sich ein Gefühl von, er konnte es nicht anders nennen, „Platz“ ausbreitete. Alles um ihn herum begann sich zu drehen und er fühlte diese Leichtigkeit, die sich immer vor einem Transfer einstellte. Und gerade als sich seine Umwelt aufzulösen schien erblickte er aus dem Augenwinkel, dass sich die Tür von seinem Krankenzimmer öffnete und jemand hereinkam. Es fiel ihm schwer sich weiter auf das Umloggen zu konzentrieren, doch musste er jetzt ganz schnell hier aus diesem Körper raus. Und trotzdem konnte er, wie durch einen Schleier, noch erkennen wer sich gerade dem Bett näherte. Es war Rowena Mills! Dann verschwand das Krankenzimmer aus seinem Bewusstsein.