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Kapitel 5
Оглавление„Hey Paul, aufwachen, wir müssen aussteigen“ dröhnte Finleys Stimme in Pauls Ohren. Immer noch benommen von dem wirren Traum ließ er sich von seinem Kumpel, der neben ihm saß, aus dem Zug ziehen. Wie eine Kuh, die man zur Schlachtbank führt, zog Fin an Pauls Jacke um ihn schließlich durch die Menschenmenge ins Bahnhofsgebäude zu führen. „Was ist denn mit dir los, hast du wieder diese Kopfschmerzen?“ wollte Finley wissen. Paul sah seinen Freund nur mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. „Ich glaube ich werde langsam irre, Fin. Ich habe so seltsame Träume.“ „Die hab ich auch oft“ meinte Finley nur trocken zu Paul. „Mein Vater meint, das sei in unserem Alter ganz normal. Hängt wohl mit der Pubertät und den Hormonen zusammen.“
Als sie nach etwa 10 Minuten das Klassenzimmer erreichten, kam Paul wieder langsam zu sich. Auch wenn er versuchte den Traum aus dem Zug zu verdrängen, wollten die Bilder nicht aus seinem Kopf verschwinden. Immer wieder sah er seine eigenen Augen vor sich, die ausdruckslos und leer durch ihn hindurchsahen. Doch dann wurden seine Gedanken jäh unterbrochen – Frau Neumann, sein schlimmster Albtraum, betrat das Klassenzimmer. Sie war seit 2 Jahren seine Englischlehrerin und Paul hatte schon Tage zuvor Magenschmerzen, wenn er wusste, dass er auf sie traf. Frau Neumann war etwa Mitte 40, hatte halblange, braune Haare und einen Hüftschaden. Paul wäre es gar nicht aufgefallen und den meisten anderen Schülern war das sicher auch völlig egal. Doch Frau Neumann ließ keine Möglichkeit aus um Schüler dafür zu bestrafen, dass sie sich über den Makel, wie sie es selbst nannte, lustig machten. Paul machte den Fehler sie danach zu fragen ob sie sich verletzt hätte und ob er ihr helfen könnte. Dabei meinte er es genauso wie er es gesagt hatte. Von seinem Vater hatte er gelernt, dass man, wenn jemand offensichtlich in Schwierigkeiten steckte, helfen muss. Frau Neumann sah das anders - seit diesem Zeitpunkt war Paul ein rotes Tuch für sie.
Pauls Glück war es nur, dass er ein außergewöhnlich begabter Schüler war. Um gute Noten zu bekommen musste er nicht viel tun. Das meiste fiel ihm einfach so in den Schoß. Viele beneideten ihn darum, aber da Paul eher bescheiden war, was seine Noten anging, verflog auch der Neid, der bei einigen anfangs aufkam, sehr schnell wieder. Jedenfalls konnte Frau Neumann ihre Drohung, dass sie Paul durchfallen lassen würde, nicht durchsetzen. Doch das stachelte die Lehrerin umso mehr an Paul das Leben schwer zu machen. Sobald sie bemerkte, dass Paul wieder von Kopfschmerzen geplagt wurde und abwesend war fragte sie ihn aus. Kam er eine Minute zu spät in die Klasse bekam er sofort eine Strafarbeit, die ihn dann meist für den Rest des Tages beschäftigte. Pauls Vater versuchte mit der Lehrerin zu reden – leider ohne Erfolg.
Pauls Magen verkrampfte sich. Dieser Tag würde sicher nicht unter den „schönsten in seinem Leben“ verbucht werden. Und wie bestellt merkte Paul, dass sich ein neuer Schub Kopfschmerzen, wie ein rollender Güterzug, unaufhaltsam hinter seine Stirn schob. Sicher würde es Frau Neumann sofort merken und ihn nach Vokabeln abfragen. Doch das war Paul jetzt im Moment egal. Er konnte an nichts anderes mehr denken, als an seine Kopfschmerzen und die schreckliche Frau Neumann, die er sich jetzt am liebsten auf den Mond wünschen würde. Und dann geschah es – Paul übermannte eine tiefschwarze Ohnmacht wie er es noch nie erlebt hatte. Erst schoss ihm der Schmerz mit einem hellen Blitz in die Schläfen und dann hörte er seinen Puls dröhnend in seinen Ohren rauschen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass jemand alle Lichter um ihn herum ausgeschaltet hätte und eine Eiseskälte seinen Körper in einen gefrorenen Panzer zwang. Und dann zog es ihn wieder in diesen Strudel aus Licht und Schatten. Begleitet von einem sonoren Summen, das sich mit der Geschwindigkeit in dem entstehenden Tunnel, in den es ihn riss, steigerte. Paul verlor jegliches Verhältnis zu Raum und Zeit. Bis er langsam wieder ins Leben zurückfand und sein Bewusstsein ein helles Licht hinter einem dichten Schleier aus Nebel sah. Er versuchte sich diesem Licht zu nähern und wie ein Schwimmer, der seine Rettung aus hoher See bei einem Leuchtturm sucht, fand er zu dem Licht. Und als er langsam seine Augen öffnete und erwartete, dass ihm die Kopfschmerzen gleich wieder das Bewusstsein rauben würden, stellte er erstaunt fest, dass er keinerlei Schmerz spürte. Zumindest nicht im Kopf. Er spürte einen unterschwelligen, dumpfen Schmerz in seiner Hüfte. Reflexartig fasste er sich ans Bein um nach der Ursache zu forschen, als er erschrocken feststellen musste, dass er nicht, wie kurz zuvor noch, eine Jeans anhatte. Er fühlte ein Stück Stoff an seinem Oberschenkel, dass da so nicht hingehörte. Also tastete er weiter nach unten und bemerkte, dass kurz oberhalb von seinem Knie der Stoff endete. Er hatte einen Rock an. Was zur Hölle war denn nun schon wieder mit ihm los? Träumte er schon wieder? Sollte Frau Neumann ihm ruhig eine Sechs geben. Aber aus diesem Albtraum wollte er unbedingt wieder fliehen. Doch anstatt den Traum zu beenden wurde dieser immer realer. Er sah sich vor seiner eigenen Klasse stehen. Seine Mitschüler nahmen wenig Notiz von ihm, da sie mit Reden beschäftigt waren. Paul stand neben dem Waschbecken im Klassenzimmer und sah geschockt in den darüber hängenden Spiegel.
Er war Frau Neumann! Das konnte doch nicht sein? Warum spann sich sein Hirn solche Träume zusammen? Er kniff sich kurz in die Nase und tatsächlich – er war seine eigene Lehrerin. Verwirrt ging er auf Finley zu, und fragte ihn: „Wer bin ich?“ „ Äh, Frau Neumann? Unsere Englischlehrerin?“ kam es von Pauls Freund zurück. Paul sah auf den Platz neben Finley. Und da sah er, wie zuvor in der S-Bahn, sich selbst schlafend liegen. Wieder mit diesen offenen, kalten Augen. Paul bekam weiche Knie. Langsam merkte er, wie ihm schlecht wurde und er versuchte sich nach hinten abzustützen um nicht umzufallen. Er konnte sich gerade noch an einer Bank festhalten, warf dabei allerdings ungeschickt sämtliche Sachen, die darauf lagen, auf den Boden. Er taumelte und fiel auf den Po. Schlagartig wurden auch seine Schmerzen in der Hüfte stärker. So musste sich also Frau Neumann fühlen, wenn ihre Hüfte Probleme machte. Paul hatte erwartet, dass die ganze Klasse in ein lautes Gelächter einstimmen würde, doch das Gegenteil war der Fall. Es wurde auf einen Schlag so still, dass man keinen Laut mehr hörte. Langsam fand Paul wieder seine Fassung und stand auf. Er schüttelte sich kurz und schaute dann in die Klasse. Jetzt wiederholte er seine Frage von vorher. Diesmal aber an alle seine Mitschüler. „Wer bin ich?“ und dann fügte er noch hinzu „Verdammt nochmal was ist das hier nur für ein verschissener Albtraum?“ Keiner in der Klasse gab ihm Antwort. Also versuchte es Paul anders. „Wo waren wir in der letzten Stunde stehengeblieben?“ Er versuchte die Frage genau so zu stellen, wie es Frau Neumann zu Beginn jeder Stunde tat. Dabei deutete er auf Karin, eine Mitschülerin von Paul, die immer sofort, schon bevor eine Frage gestellt wurde, die Finger hob. „Wir hatten mit der Übersetzung von Huckleberry Finn begonnen.“ „Dann machen wir heute mal etwas ganz anderes“, meinte Paul mit einem diebischen Grinsen. „Was haltet Ihr davon, wenn wir uns MTV ansehen und ihr erzählt mir dann hinterher, über was die Lieder handeln?“ Er nahm die Fernbedienung und schaltete den Klassen-Fernseher ein. Dann zappte er durch die Kanäle bis er auf dem Musiksender ankam und den Ton laut aufdrehte. „Ihr merkt euch jetzt die Lieder und die Texte und ich geh solange raus, damit ihr in Ruhe arbeiten könnt.“ Paul blickte in eine Herde von Schafen, die nur das Mähen verlernt hatte. Mit großen ungläubigen Augen sahen seine Mitschüler ihn an. Keiner sagte nur ein Wort. Dann verließ er das Klassenzimmer, ging in den Schulhof und setzte sich auf eine Bank. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz darauf wieder Paul zu sein. Er wollte diesen Traum nun endlich verlassen und wach werden. Je fester er diesen Gedanken zu fassen bekam umso mehr merkte er, dass er aus Frau Neumann wieder verschwand. Wie zuvor zog es ihn zurück in den Strudel, bis er schließlich die harte Schulbank unter seiner rechten Wange spürte. Er öffnete die Augen und schloss diese aber sofort wieder. Was er sah, war noch schlimmer als sein Traum von eben.
Er sah einen Teil seiner Mitschüler, wie sie in den Fernseher starrten und dabei versuchten irgendwelche Texte mitzuschreiben. Der andere Teil redete lautstark. Dabei ging es um Frau Neumann, die offensichtlich den Verstand verloren haben musste. Paul sah zu Finley „Fin, was ist hier los?“ „Du hast ja mal wieder alles verpennt, Paul. Frau Neumann hat sich zuerst auf den Arsch gesetzt und dann ist sie völlig durchgedreht und lässt uns MTV schauen“. Paul wurde schlecht.