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Kapitel 4

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Paul ging zu der Zeit in die 7. Klasse des Erasmus-Grasser-Gymnasiums in München. Das bedeutete für ihn jeden Tag um 6 Uhr aufstehen, damit er rechtzeitig um 8 Uhr in der Schule ankam. Und obwohl sein Vater erst später aufstehen musste, saß er jeden Tag bei ihm am Frühstückstisch. Auch wenn sie nur wenig oder gar nichts redeten, war es ein Ritual, das für beide außerordentlich wichtig war. So saß keiner ganz alleine beim Frühstück und der Tag begann gemeinsam. Es war nur ein kleines Stück im großen Puzzle der Beziehung zwischen Vater und Sohn, doch jedes dieser Teilchen trug dazu bei, dass Paul eine großartige Kindheit in einer wohligen Atmosphäre erleben durfte. Auch wenn er immer wieder an seine Mutter denken musste, an die er sich kaum erinnern konnte. Gerne nahm er sich dann eines der Fotoalben, die sein Vater nach dem Tod der Mutter angelegt hatte und blätterte darin. Dann fühlte er sich, als ob die Familie wieder ganz komplett war. Seine Eltern hätten noch ein zweites Kind haben wollen. Doch dies war ihnen leider nicht mehr vergönnt gewesen.

Und wieder klingelte der alte Blechwecker, der auf dem Nachtkästchen stand, um Punkt 6 Uhr. Paul hatte schlecht geschlafen und die letzten Minuten, die sich endlos hinzogen, wartete er schon auf das schrille Weckgeräusch. Die ganze Nacht hatte er sich hin und her gewälzt und keinen richtigen Schlaf finden können. Völlig gerädert schleppte er sich ins Bad, unterzog sich einer kurzen Katzenwäsche, schließlich hatte er vor zwei Tagen erst geduscht, und zog sich an. Sein Vater wartete auch diesmal im Esszimmer, vor einer aufgeschlagenen Zeitung, mit einer Tasse Zitronentee und einem Toast mit Honig. Sie wechselten ein paar Worte über Pauls Kopfweh. Doch das war seit der Untersuchung im Kernspin, vor gut einer Woche, ruhig geblieben. Solche Phasen kannte Paul aber schon. Es schien immer, als ob der Schmerz sich nur zurückgezogen hatte um neue Kraft zu tanken und dann, mit neuer Energie und Schwung, aus tiefen Startlöchern in Pauls Kopf zu rasen. Meist waren die Schmerzen nach einer ruhigen Phase noch schlimmer. Deshalb konnte Paul sich auch schon lange nicht mehr über die schmerzfreien Intervalle freuen, sondern wartete nur auf eine neue quälende Zeit der Schmerzen.

Pauls Vater brachte den Jungen, wie jeden Tag, mit dem Auto zum Bahnhof. Seit er auf das Gymnasium wechselte, gab es keinen Tag, an dem Herr Schwarz ihn nicht gefahren hätte.

Am Bahnhof warteten schon, wie jeden Tag, seine Kumpels, die zum größten Teil mit in seine Klasse gingen. Und wie jeden Tag vollzogen sie das übliche Begrüßungszeremoniell. Jeder seiner Clique, die aus insgesamt 5 Personen bestand, wurde mit Handschlag und einer Kopfnuss begrüßt. Wie dieses Ritual entstand und warum sie damit nicht aufhörten wusste schon lange keiner mehr. Doch seit der 5. Klasse erhielt es Einzug und da sie sich damit von den Anderen abgrenzten hielt es sich hartnäckig.

Dann kam auch schon die S-Bahn in den kleinen Provinzbahnhof eingefahren und alle Kinder und die Leute, die von dem lauten Geschrei der Kinder genervt auch die Bahn nutzen mussten um in die Arbeit zu kommen, strömten in den Zug. Wie üblich drängten die Pubertierenden sich frech vor und bekamen so meist noch einen der begehrten Sitzplätze. So saßen sie zu sechst in einem Viererabteil und sprachen über die Hausaufgaben. Paul sah aus dem Fenster und die Landschaft flog an ihm vorbei, als er plötzlich wieder dieses nervende Surren in den Ohren bemerkte. Um ihn herum schien auf einmal die Welt zu versinken und es wurde immer dunkler, bis tiefe Nacht in seinem Kopf einzog. Als er vorsichtig versuchte die Augen zu öffnete war er, so schien es ihm, wieder in einem seiner irren Träume. Er sah an sich hinab um zu erkennen, wer oder was er diesmal sein mochte. Er hatte eine Uniform an, war aber kein Polizist und auch kein Soldat. Es war irgendetwas anderes. Dann blickte er sich um und bemerkte, dass er immer noch in der S-Bahn war. Aber er saß nicht mehr. Er stand inmitten des Ganges und hatte einen seltsamen Apparat in der Hand. Viele Augenpaare starrten ihn abwartend an und hielten ihm Fahrkarten entgegen. Ein junges Mädchen, das etwa genauso alt war wie er selbst, saß mit einen knallroten Kopf und Tränen in den Augen vor ihm. Langsam wurden auch die Geräusche um ihn herum wieder deutlicher und er hörte wie das Mädchen mit weinerlicher Stimme erklärte: „Ich habe meine Fahrkarte nur zu Hause vergessen. Aber ich versichere Ihnen, ich habe wirklich eine. Bitte glauben Sie mir doch.“ Paul sah das Mädchen und sofort wurde ihm klar um was es in diesem Traum ging. Er war ein Kartenkontrolleur in der S-Bahn. Er sah das Mädchen an und hörte wieder eine fremde Stimme die die Worte in seinem Kopf wiedergab: „Kein Problem – heute ist jede Fahrt frei. Ist ein Service der Bahn.“ Dabei grinste er breit und sah in die verdutzen Gesichter der Fahrgäste, die ihn ansahen als ob die Regierung gerade erklärt hätte, die Steuern würden abgeschafft. Grinsend, unter lautem Gejohle der jugendlichen Fahrgäste, die diesen Service klasse fanden, marschierte er weiter durch den Gang und rief laut „Heute keine Fahrkartenkontrolle – Heute ist jede Fahrt eine Freifahrt.“ Bis er auf einmal mitten im Satz abbrach und mit offenem Mund stehenblieb. Er stand vor einem Viererabteil, in dem sechs Schüler saßen. Einer davon schien tief und fest zu schlafen, obwohl er die Augen offen hatte. Die Augen waren aber seltsam leer und wirkten fast wie tot. Es waren seine eigenen Augen.

Gedankenpiraten

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