Читать книгу Türen - Harry Flatt-Heckert - Страница 13

*

Оглавление

Wie spät war es wohl jetzt? Fünf, sechs Uhr? Vielleicht sieben Uhr? Ich hatte gar kein Zeitgefühl mehr. Vor neun würde Gisela mich jedenfalls nicht vermissen. Neun Uhr wäre zwar spät, aber es war Wochenende. Samstag. Da konnte es schon mal sein, dass es neun Uhr wurde, bevor ich aufstand. Normalerweise würde es ihr erst auffallen, wenn ich nicht, wie sonst immer, mit einem Tee vor ihrem Bett stehen würde. Das machte ich immer so. Ich brachte ihr Tee. Jasmintee. Jeden Morgen. Heute würde ich das nicht hinbekommen. Befürchtete ich. Ich bekam Schuldgefühle bei diesem Gedanken. Gab es Schuld also doch noch für mich. Auch, wenn ich tot war. Nicht, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, sich selbst einen Tee zu kochen. Das konnte sie schon. Das wusste ich. Natürlich konnte sie das. Aber sie war es eben nicht gewohnt. Und nichts regte sie mehr auf, als dass irgendetwas ihre Gewohnheit störte. Das brachte sie immer so durcheinander. Nichts hasste sie mehr als Durcheinander. Dafür liebte ich sie. Dass sie das Durcheinander hasste. Wie ich. Ich fand es auch überhaupt nicht komisch, dass ich nicht wusste, wie spät es war. Zeit war ein hervorragendes Ordnungsprinzip.

Zeit. Sie ordnete mein Leben, sie ordnete meinen Tag. Wenn ich wusste, dass es 20.05 Uhr ist, dann wusste ich eben auch, dass just in diesem Moment die Tagesschau im Ersten lief. Schon seit fünf Minuten lief und noch weitere zehn Minuten laufen würde. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. 20.05 Uhr gleich Tagesschau. Und wenn ich wollte, dann konnte ich mir die Tagesschau ansehen. Weil ich wusste, dass sie lief. Wenn ich nicht genau wusste, ob es vielleicht 19.48 Uhr oder 20.05 Uhr war, dann wusste ich auch nicht, was gerade im Fernseher lief. Tagesschau oder Küchenschlacht? Und mein Nichtwissen ließ mich Gefahr laufen, die Küchenschlacht einzuschalten. Und ich wollte die Küchenschlacht nicht sehen. Das Wissen um die Uhrzeit verlieh mir dagegen Macht über das Fernsehprogramm. Und über mein Leben. Wenn ich nicht wusste, wie spät es war – oder noch schlimmer - welches Datum wir hatten, geriet ich durcheinander. Vielleicht arbeitete ich deshalb auch beim Finanzamt. Wenn es der dreißigste eines Monats war, dann wusste ich, dass mein Gehalt auf meinem Konto war. Da konnte ich die Uhr danach stellen. Am dreißigsten war mein Gehalt da. Und zwar immer der exakt gleiche Betrag. Da gab es keine Prämien, Sonderzahlungen oder sonstige Abweichungen, die mich irritieren konnten. Nein, am dreißigsten war immer der exakt gleiche Betrag auf meinem Konto. Und sollte es einmal eine Veränderung geben, wegen einer Gehaltserhöhung etwa, dann wurde sie rechtzeitig angekündigt. Dann konnte ich mich darauf einstellen. Rechtzeitig.

Andererseits wusste ich auch, dass, wenn es der Zehnte eines Monats war, die steuerpflichtigen Betriebe, für die ich zuständig war, ihre Mehrwertsteuerschuld an die Kasse des Finanzamtes abgeführt haben mussten. Und wenn sie dieser Pflicht rechtzeitig nachkamen, dann war die Welt in Ordnung. Ihre und meine. Und wenn die Betriebe säumig wurden, dann waren sie nicht in Ordnung. Ich schon. Die Säumigkeit der anderen zeigte mir, dass ich in Ordnung war, denn ich war ja bereit, die Steuern zu vereinnahmen. Ich war vorbereitet. Zeit war also ein wesentliches Ordnungsprinzip und es verlieh mir Sicherheit. Und nun hatte ich so gar keine Ahnung, wie spät es wohl war.

So befremdlich mir das einerseits war, so seltsam wohlig war mir auch andererseits. Denn so viel Sicherheit mir die genaue Kenntnis von Datum und Uhrzeit zeitlebens gab, so sehr engte mich dieses Wissen oft auch ein. Oder es versetzte mich in Panik. Je nach dem. Da gab es durchaus eine gewisse Ambivalenz. In unserem jährlichen Urlaub in Bad Fallingbostel engte mich diese zeitliche Orientierungfähigkeit meistens sehr ein. Das genaue Wissen um Tag, Datum und Uhrzeit führte nämlich dazu, dass ich ganz unwillkürlich, beinahe stündlich, ausrechnete, wann wir die Heimreise anzutreten hatten. Noch sechs Tage, zwölf Stunden und dreiunddreißig Minuten. Noch vier Tage, fünf Stunden und zwanzig Minuten. Manchmal versuchte ich sogar den Abreisetermin so auszurechnen, dass die Zeit bis dahin nur aus Primzahlen bestand. Noch drei Tage, fünf Stunden und sieben Minuten. Das stand natürlich insofern einer wirklichen Erholung entgegen, als ich nie einen Blick für die Schönheit und Sehenswürdigkeiten von Bad Fallingbostel hatte, nie ein Essen wirklich genießen, nie unbeschwert die Dreisamkeit mit Gisela und ihrer Mutter würdigen konnte. Gisela meinte dann immer, ich würde mich hinter meinem Zahlenwerk verstecken, statt mit Leib und Seele am Hier und Jetzt teilzunehmen. Sie meinte das mit Nachdruck. Aber ich konnte diesem Zwang, den mein Wissen auf mich ausübte, nicht so ohne weiteres ausweichen. Er war einfach da. Ich musste rechnen. Und wenn ich versuchte – aus Rücksicht auf Gisela etwa – dieses Errechnen des Rückreisetermins zu vermeiden, diesen geradezu unwiderstehlichen Impuls zu unterdrücken, machte ich es für mich nur noch schlimmer. Dann versuchte ich nur, diesem Zwang noch heimlicher, noch beiläufiger, und möglichst von Gisela unbemerkt, nachzugehen.

Manchmal versetzte mich dieses Wissen aber eben auch in einen panikartigen Zustand. Wenn ich beispielsweise wusste, dass es 22.55 Uhr war und Gisela mir beim Fernsehen zuraunte, dass sie sich jetzt frisch machen ginge und mich nach den Tagesthemen im Schlafzimmer erwartete. Dann wusste ich, dass ich nur fünf Minuten hatte, um mich vorzubereiten. Mich auf eine Ausrede vorzubereiten, ein Ablenkungsmanöver einzuleiten oder einen Migräneanfall vorzutäuschen. Und in diesen fünf Minuten konnte ich den Tagesthemen nicht mehr richtig folgen. Das machte mich wahnsinnig. Wahnsinnig panisch.

Dass ich mich im Moment überhaupt nicht zeitlich orientieren konnte – ich wusste nur, dass heute Samstag war - war allerdings weder beengend noch löste es Panik in mir aus. Es sorgte aber auch nicht gerade dafür, dass ich mich nun ausgesprochen sicher fühlte. Es war mir merkwürdig gleichgültig. Allein der Gedanke, dass ich womöglich – nein, sicherlich - gestorben und nun mit hoher Wahrscheinlichkeit für längere Zeit, wenn nicht sogar für immer, tot sein würde, beruhigte mich indes doch ein wenig. Aber ein wenig beunruhigte mich der Gedanke auch. Aber nicht so sehr, weil es so war, nicht, weil ich tot war, sondern weil ich nicht wusste, was nun auf mich zukommen würde. Das konnte ich nie gut haben. Nicht zu wissen, was kommen würde. Mich überraschen lassen zu müssen. Für vielleicht immer keine Sicherheit mehr zu haben. Außer der, tot zu sein.

Türen

Подняться наверх