Читать книгу Türen - Harry Flatt-Heckert - Страница 6
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ОглавлениеIch wusste oft nicht weiter. Vielleicht lag das daran, dass ich oft einfach nicht weiterwusste. Vor allem, wenn mir niemand sagte, wie es weitergehen würde. Oder sollte. Oder müsste. Seit dem Tod meiner Mutter wusste ich nicht wirklich weiter. Ich konnte mir auch gar nicht vorstellen, dass es ein „weiter“ geben könnte. Wo sollte das auch sein? Oder wie? Seit damals hatte ich auch keine eigenen Entscheidungen mehr getroffen. Ich hatte mich einfach gefügt. In den Tod meiner Mutter, in die Härte meines Vaters und in die Barmherzigkeit meiner Tante Hedwig. Auch in die Zickigkeit meiner Cousinen fügte ich mich letztlich. Nicht, dass sie nicht freundlich zu mir gewesen wären. Mir gegenüber waren sie freundlich. Meistens. Vielleicht war es auch nur Mitleid, das sie mir gegenüber freundlich sein ließ. Kann sein. Aber sie waren eben auch Mädchen. Und da die beiden ein wenig älter als ich waren, nahmen sie mich nicht sonderlich ernst. Sie gaben mir mit ihrem Mädchensein immer irgendwie das Gefühl, dass ich nicht richtig war, dass mit mir etwas nicht stimmte. Dass ich nicht in Ordnung war. Nicht wie sie. Sie wussten, was sie wollten, wussten mindestens genauso gut, was sie nicht wollten und vor allem wussten sie, wie sie beides durchsetzen konnten. Ständig lachten oder tuschelten sie über irgendetwas, das ich nicht verstand, andauernd begeisterten oder ereiferten sie sich für oder über etwas, das ich nicht nachvollziehen konnte. Ich fand einfach keinen Zugang zu ihrer Welt und meine blieb ihnen auch verschlossen. Aber wahrscheinlich hatte ich im Gegensatz zu ihnen auch gar keine Welt. Vielleicht war ich weltenlos. Ich wusste auch nicht, was ich wollte. Weder hatte ich eine konkrete Vorstellung davon, was ich später einmal beruflich machen würde, noch gab es etwas, wofür ich mich begeistern konnte. Sie wussten, was sie wollten. Christa wollte Kosmetikerin werden und Ute wollte heiraten. Irgendwie. Oder geheiratet werden. Das war ihr Plan. Ich hatte keinen Plan. Ich hatte nichts. Keine besonderen Hobbys, keine tiefergehenden Interessen, die mich umtrieben. Ich machte einfach, was man von mir erwartete, was man mir vorschlug oder für mich entschied. Ich ging zur Schule, weil ich zur Schule gehen musste, ich ließ mir die Haare schneiden, wenn meine Tante meinte, es sei Zeit dafür, ich mähte den Rasen oder ging Fußball spielen, wenn Onkel Franz mich dazu aufforderte und ich hielt die Klappe, wenn meine Cousinen über irgendwelche Mädchengeschichten tratschten.
Freunde hatte ich damals eigentlich auch nicht. Ich hatte Klassenkameraden, mit denen ich die Schulbank drückte. Ich hatte andere Kinder, die mit mir gemeinsam hinter dem Ball herrannten, sich aber vor allem über mich lustig machten, weil ich nicht so der allertollste Spieler war. Ich war einfach zu schmächtig, zu zurückhaltend, um mich gegen andere Mitspieler durchzusetzen. Ich hatte Mitkonfirmanden, die mit mir die Gebote und die Gebräuche der Kirche lernten. All das hatte ich. Wie jeder andere auch. Aber ich hatte keine Freunde. Ich wollte auch keine Freunde. Nicht solche. Ich konnte mit dem, womit sich andere Jungen in meinem Alter befassten, einfach nichts anfangen. Es war mir zu roh, zu laut, zu gewaltsam. Wie mein Vater. Der war auch roh, auch wenn er seine Rohheit unter dem Gewand einer strengen, protestantisch-preußischen Rechtschaffenheit und Disziplin zu verbergen versuchte. Ich vermisste meine Mutter. Ich vermisste ihre Zartheit, ihre Liebe, ihre unbedingte Liebe. Tante Hedwig bemühte sich. Sie bemühte sich wirklich. Sie war auch lieb. Vielleicht hatte sie mich sogar lieb. Irgendwie. Aber sie war anders. Sie war eben nicht meine Mutter.
Ich hatte mich irgendwann dazu entschlossen, die Zeit bis zu meinem Erwachsensein einfach zu ertragen. Sie einfach auszuhalten. Ich hatte auch gar nicht vor, sie irgendwie zu gestalten. Ich wollte sie nur ertragen. Sie hinter mich bringen. Wie eine Grippe. Meine späte Kindheit und frühe Jugend wurde mir zu einer Tunnelzeit. Zu einer Zeit, durch die ich einfach hindurchmusste, wenn ich von einer hellen Zeit, die irgendwo, lang vergessen, hinter mir lag, zu einer anderen hellen Zeit, die irgendwo, noch nicht zu erahnen, vor mir liegen sollte, zu gelangen. Ich durchschritt diesen Tunnel, ohne den Tunnel selbst als etwas Wichtiges wahrzunehmen. Er war nur da. Wie die Zeit. Einfach da. Ich musste da hindurch. Ich hatte auch keine Vorstellung davon, was mich am Ende dieses Tunnels erwarten würde. Ich hatte kein Bild von dem Licht, das da vielleicht auf mich warten würde. Wenn es denn überhaupt auf mich warten würde. Dennoch musste ich durch dieses Dunkel hindurch, auch wenn es kein Weiter gab, das mich antrieb. Es zog mich auch nichts. Nein, das vor mir liegende Licht zog mich nicht. Ich konnte es ja nicht einmal sehen. Nein, ich ging, weil ich gehen musste. Weil man mir sagte, ich müsste da hindurch. Also ging ich einfach. Durch die Zeit, durch meine Kindheit, durch meine Jugend, ohne wirklich weiter zu wissen. Ich ging nur. Das einzig Gute war, dass ich von ganz allein groß wurde. Ich brauchte dafür nicht viel zu tun. Es geschah einfach. Ich ließ es einfach geschehen. Ich ging durch eine Tür hindurch, nur um bald durch eine andere hindurch schlüpfen zu können.