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Eigentlich bin ich ganz normal groß geworden. Ich wurde am 29. Februar 1952 geboren. In der Nähe von Hamburg. Einzelkind, das nur alle vier Jahre einen richtigen Geburtstag hatte, Eltern, die ihre ganze Liebe und ihre ganze Fürsorge, vor allem aber auch ihre ganze Hoffnung in mich steckten, was immer das für Hoffnungen waren. Aus mir sollte einmal etwas werden. Ich war der Prinz, ohne dass ich – soweit ich mich erinnern konnte – auch entsprechend königlich oder wenigstens fürstlich hätte aufwachsen dürfen. Ein Prinz ohne Krone, dafür mit Erwartungen, die mindestens so schwer auf mir lasteten wie eine Zehn-Kilo-Krone aus purem Gold. Ja, meine Eltern erwarteten eine Menge von mir. Vor allem mein Vater. Der erwartete immer von mir, dass ich ganz Außerordentliches leistete. Was das war, das war mir damals allerdings nicht klar. Aber in jedem Fall entsprach ich dem nicht. Nicht immer. Oder nur selten. Eigentlich nie. Ich war immer irgendwie zu kurz, zu klein, zu schwach. Ja, das war das Gefühl meiner Kindheit und Jugend. Zu kurz. Mein Vater, ein kleiner Polizeiobermeister der alten Schule, dafür aber von großgewachsener Gestalt, der seine Heimat in Ostpreußen nach dem Krieg als junger Mann aufgeben musste, war streng. Sehr streng. Ein preußischer Beamter wie aus dem Bilderbuch. Er erwartete absoluten Gehorsam, uneingeschränkte Anerkenntnis seiner Autorität und widerspruchsloses Einfügen in seine Entscheidungen. Wenn er zuhause war, dann verschloss er sich meist in seinem Lesezimmer hinter einer schweren dunklen Tür. Dieses Zimmer war sein Heiligtum. Niemand außer ihm selbst durfte es betreten. Wenn meine Mutter etwas von ihm wollte, dann klopfte sie und wartete demütig, bis er herauskam und ihr mildtätig Audienz gewährte. Nie hätte sie es gewagt, einfach in dieses Zimmer einzutreten. Für mich war dieses Zimmer völlig tabu. Der Thronsaal, zu dem der Prinz aber keinen Zutritt hatte. Niemals und unter gar keinen Umständen. Hinter dieser Tür traf er seine Entscheidungen, die er seiner Frau und mir dann später beim Essen verkündete.

Eiserne Disziplin, erbarmungslose Selbstkasteiung, absolute Leistungsbereitschaft und strikter Gehorsam. Das waren die Maxime seiner Erziehung. Das war seine Welt. Und er war durchaus bereit, seine Universalherrschaft über mich nicht nur mit guten Worten, klaren Anweisungen auszuüben, sondern sie auch mit Gewalt durchzusetzen. Aus Liebe natürlich. Schläge waren ein ständiger Begleiter meiner frühen Jahre. Schläge, die mich auf den rechten Weg bringen sollten, mich zurechtschubsen und meinem holprigen und unnützen Dasein Richtung weisen sollten. Die aber auch immer ganz schön wehtaten, denn mein Vater hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, mich mit einem geflochtenen Teppichklopfer zu verprügeln, damit sich seine liebende Hand nicht an mir versündigen würde. Ich wusste nicht, ob der Teppichklopfer unterscheiden konnte, ob er nun gerade einen alten, aber wahrscheinlich sehr wertvollen Teppich vom Dreck des täglichen Daseins befreien durfte, oder nur meinen Arsch versohlte. Es war mir auch egal. Aber zu Teppichen hatte ich seitdem eine ganz besondere Beziehung. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, einfach achtlos auf ihnen herumlaufen, sondern suchte immer blitzschnell Muster, Bahnen und Formen in ihnen, die meine Schritte vielleicht lenken, ihnen Richtung und Struktur geben konnten. Sie waren geschundene Kreaturen. Wie ich. Und da die Teppiche in unserem Haus regelmäßig einmal in der Woche ausgeklopft wurden, auch wenn ich auf ihnen überhaupt keinen Schmutz entdecken konnte, so empfand ich auch die regelmäßigen Schläge meines Vaters als präventive Maßnahme, damit sich in mir gar nicht erst etwas Schlechtes, etwas Schändliches oder gar Unnützes festsetzen könnte. Dass es ihm mehr weh tat als mir, wie er mir immer wieder versicherte, war mir indes nicht immer so ohne weiteres einsichtig.

Meine Mutter war zwar nicht so streng, traute sich aber nicht, gegen meinen Vater aufzubegehren. Er hätte es auch niemals zugelassen. Und auch nicht verstanden. Seine Weltordnung wäre wahrscheinlich krachend eingestürzt, wenn sie sich ihm zu widersetzen gewagt oder auch nur Einwände, Zweifel oder gar Widerworte verlautbart hätte. Das war völlig ausgeschlossen. Ich spürte schon sehr früh, dass sie unter ihm litt. Unter seinem Erziehungsstil, unter seiner Dominanz, unter seiner Strenge und auch unter der Herrschaft, die er über sie ausübte. Aber dennoch liebte sie ihn auch. Bestimmt. Irgendwie. Auf ihre Weise. Sie hatte ja nie etwas Anderes kennengelernt und für sie war es vollkommen normal, dass ihre Rolle darin bestand, ihn zu bewundern, zu verwöhnen, voller Stolz zu ihm aufzublicken und ihn demütig zu bedienen. Sie hätte weder sein Handeln noch sein Tun in irgendeiner Weise kritisieren oder gar seine uneingeschränkte Autorität in Frage stellen können. Meine Mutter ging auch nicht arbeiten, obwohl sie gern irgendeiner beruflichen Tätigkeit nachgegangen wäre, die ihr ein paar Stunden der Freiheit und der Selbstbestimmtheit ermöglicht hätten. Sie war immerhin gelernte Krankenschwester und hatte bis zu ihrer Hochzeit in einer hamburgischen Kinderklinik gearbeitet. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie – zumindest in Teilzeit – hätte arbeiten wollen. Aber das ließ mein Vater nicht zu. Sie hatte zuhause zu sein und sich um Haushalt und Kind, also mich, zu kümmern. Also kümmerte sie sich. Sie war liebevoll, sie spielte mit mir, sie tröstete mich, wenn mein Vater mich wieder mal ausklopfte und sie starb, als ich neun Jahre alt war. Irgend so eine sagenumwobene Frauenkrankheit raffte sie einfach dahin. Was genau sie hatte, erfuhr ich nicht. Mein Vater hat nie darüber gesprochen. Nie. Das blieb immer ein wohlgehütetes Geheimnis. Wahrscheinlich war ihr Tod so eine Art Fluchtreflex. Ich weiß es nicht. Die Tür zu meiner Kindheit war jedenfalls durch einen Windhauch des Schicksals schlagartig zugeschlagen und die Türen zu meiner Zukunft waren für mich noch fest verschlossen.

Mein Vater verbitterte in dieser Zeit zusehends. Er sprach nicht mehr und zog sich immer mehr zurück. Wohin er sich zurückzog, war mir damals nicht klar. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich in so etwas wie eine Binnenwelt seines eigenen Ichs zurückzog, weil ich mir sicher war, dass er gar kein Inneres besaß. Zumindest war da für mich kein Inneres erkennbar. Ich fand auch keine Tür, die an oder in diesen geheimen Ort geführt hätte. Da war nichts. In meinen Augen bestand er nur aus Äußerem. Da war nur eine harte Schale, aber kein weicher Kern. Kein Kern, in den ich oder sonst irgendjemand hätte vor- oder gar eindringen können. Gar kein Kern. Ich hatte auch zunehmend das Gefühl, dass er mir die Schuld am Tod meiner Mutter gab. Wahrscheinlich war ich nicht brav genug, nicht fleißig genug, nicht groß genug, nicht stark genug. Nicht genug genug. Ich übernahm mit der Zeit diese gefühlte Schuldzuweisung, machte sie mir immer mehr zu Eigen und schämte mich. Ich wünschte mir insgeheim manchmal, er hätte mich noch öfter mit diesem Teppichklopfer verdroschen. Vielleicht hätte sich dann in mir nicht so viel Schuld ansammeln können. Aber mit dem Tod meiner Mutter, hörte er schlagartig auf, mich zu verprügeln. Gerade dann, als ich es am meisten gebraucht hätte. Gerade dann, als ich mir wünschte, er hätte mich totgeprügelt.

Ich wurde zu einer Tante, der Schwester meiner Mutter, nach Schillig an die Nordsee verfrachtet, wo ich die Jahre bis zum Abitur verbringen sollte. Tante Hedwig. Mein Vater sah sich nicht mehr in der Lage dazu, weiterhin die Erziehungsverantwortung für mich zu übernehmen und ich mich nicht in der Lage, diese Verantwortung über mich ergehen zu lassen. Gemeinsam mit einer Dame vom Jugendamt wurde also diese innerfamiliäre Lösung gefunden, die mich zumindest vor einem Heimaufenthalt bewahren sollte. Ich wurde nicht gefragt, was ich wollte. Es war mir eigentlich auch egal. Ich wusste auch gar nicht, was ich wollte oder ob ich irgendetwas wollte. Die Aussicht, nicht in ein Heim zu müssen, beruhigte mich allerdings schon. Ein Abschied von meinem Elternhaus fand nicht statt. Nicht wirklich. Es war mehr so, als würde ich auf Klassenfahrt fahren. Mein Vater brachte mich zum Zug, half mir immerhin, meinen Koffer im Zugabteil zu verstauen, verabschiedete sich, indem er mir zwanzig Mark für die erste Zeit in die Hand drückte und ging. Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Und ich fuhr.

Meine Tante Hedwig war eine einfache, aber eigentlich sehr zärtliche Frau, die mit ihrem Mann Franz und ihren beiden Töchtern Christa und Ute in einem wunderschönen kleinen Haus lebte, das direkt am Deich stand. Und obwohl es permanent hilflos dem tosenden Nordseewind ausgesetzt war, strahlte es dennoch Schutz und Geborgenheit aus. Mit stoischer Ruhe trotzte es wie selbstverständlich den Elementen. So wild der Sturm draußen auch tobte, wenn die schwere eichene Haustür erst einmal geschlossen war, dann herrschte Ruhe im Haus. Himmlische, nichts erschütternde Ruhe.

Wie es sich für richtige Friesen gehörte, wurde dort nicht viel gesprochen. Nur das Nötigste. Aber immerhin: wenn meine Tante und ihre Familie miteinander sprachen, dann taten sie es freundlich und einander zugewandt. Sogar mit mir. Besonders Tante Hedwig und Onkel Franz. Die Mädchen waren eben Mädchen. Deshalb ging es mir am besten, wenn sie mich nicht mit ihrem präpubertierenden Gezicke nervten und mich einfach in Ruhe ließen. Sie taten es. Meistens. Ich glaube, ich tat ihnen irgendwie leid. Ich auch. Ich tat mir auch leid. Vielleicht fanden sie mich auch einfach nur seltsam oder komisch. Kann sein. Das kann natürlich auch sein.

Ich sah meinen Vater in diesen Jahren nur sehr selten, verbrachte ab und zu mal die Ferien bei ihm, war aber immer froh, wenn ich zurück an die Nordsee konnte. Nicht, dass ich mich dort sonderlich heimisch fühlte, ich fühlte mich eher sonderlich. Aber in seiner Gegenwart fühlte ich mich noch kleiner, noch ungenügender und noch schuldiger, als ich mich ohnehin schon immer fühlte. Und ich fühlte mich ausgeschlossen. Er schloss mich aus seinem Leben aus. Hatte mich ja nie wirklich daran teilhaben lassen. Aber nach dem Tod meiner Mutter war ich vollends ausgeschlossen. Ich wusste nicht, ob er noch arbeiten ging, ob er vielleicht schon pensioniert oder vielleicht auch krankgeschrieben war. Er schien nur noch hinter dieser Tür, die zu seinem Lesezimmer führte, zu existieren. Selbst wenn ich bei ihm war, verbrachte er die meiste Zeit darin. Und ich blieb außen vor. Er gewährte mir keinen Einblick. Einmal, als er irgendwelche Besorgungen zu erledigen hatte, wagte ich, diese Tür zu öffnen. Einen Spalt nur. Mehr traute ich mich nicht. Überall an den Wänden waren Bilder meiner Mutter. Und Bilder der Mutter Gottes. Maria. So hieß meine Mutter auch. Maria. Ich schloss die Tür wieder. Mehr traute ich mich nicht.

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