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8 Die Rettung

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Tayé konnte sich nur noch mit einer Hand an der Rettungsleine des großen dunkelgrauen Schlauchbootes festhalten. Seit der Abfahrt östlich von Al Baida an der libyschen Küste war seine linke Hand, mit der er am Tag zuvor bei seiner Flucht aus dem Auffanglager an einem rostigen Stacheldrahtzaun unglücklich hängen geblieben war, nicht mehr zu gebrauchen.

Die Handinnenfläche war bis fast auf die Knochen aufgerissen und das Salzwasser des Mittelmeeres verursachte ihm heftige Schmerzen. Trotzdem hatte Tayé, obwohl er vor wenigen Minuten rückwärts über den Rand des völlig überfüllten Schlauchbootes in die unruhigen Wellen des Ionischen Meeres gestürzt war, ein unergründliches Lächeln auf den Lippen. Das eigentliche Ziel der Überfahrt, die Insel Kreta, war zwar noch nicht in Sicht, aber seit einigen Minuten hörte er Sirenengeräusche, die bestimmt nicht vom Fluchtboot stammen konnten. Als das Boot von einer Welle hochgehoben wurde und Tayé von der Rettungsleine, die er um die rechte Hand geschlungenen hatte, mitgezogen wurde, sah er etwa eine halbe Seemeile entfernt helle Suchscheinwerfer, die über das in der Abenddämmerung schaukelnde Boot glitten.

Tayé lächelte immer noch, als er von starken Händen ergriffen über die Bordwand eines leuchtend roten Schnellbootes gezogen wurde. Die Rettungsmannschaft eines vorbeifahrenden italienischen Schiffes der Küstenwache hatte das Boot sofort zu Wasser gelassen, als der wachhabende Offizier auf der Brücke das schaukelnde Schlauchboot mit einem offenbar über Bord gegangenen Menschen an eine kurze Leine geklammert entdeckte und daraufhin sofort den Alarm auslöste. Das Schlauchboot war trotz seiner Größe und der durchaus guten Motorisierung kein hochseetüchtiges Gefährt und zudem war es hoffnungslos überfüllt. Schon wollten die ersten Menschen vom Schlauchboot in das unruhige Wasser springen, wurden aber von einer weiteren Rettungsmannschaft über Megaphone aufgefordert, im Boot zu warten. Das mittelgroße Küstenwachschiff drehte bei, so dass das überfüllte Schlauchboot im Windschatten und somit vor den Wellen geschützt lag.

Nun konnten die Menschen, von denen wohl die wenigsten wirklich schwimmen konnten, sicher über das schleunigst herunter gelassene Fallreep an Bord klettern. Dort wurden sie sofort in Decken gehüllt, um gleich darauf vom Bordarzt und seinen Helfern betreut zu werden. Tayé war einer der ersten, der medizinisch versorgt wurde. Seine verletzte Hand wurde fachmännisch verarztet und zusätzlich verabreichte man ihm auf Grund der hässlichen Verletzung eine Tetanusspritze. Ein arabisch sprechender Matrose, welcher der Rettungsmannschaft zugeteilt worden war, sprach ihn an, um zumindest seinen Namen in Erfahrung zu bringen. Tayé nannte ihn ihm und bedankte sich ein übers andere Mal bei Allah. Erschöpft lehnte er sich zurück. Noch einmal zogen die Ereignisse des gestrigen Tages an seinem geistigen Auge vorbei.

Die Erinnerung an den Flug im Bauch des großen Vogels waren sehr verschwommen. Das hatte er wohl alles nur geträumt. Kurz bevor aber das Auto, in dem er gelegen hatte, mit einem Ruck in dem Zaun zum stehen kam, wurde er heftig durchgeschüttelt und war sofort hellwach geworden. Er hatte gleich darauf die beiden fremden Männer wahrgenommen, die auf der Straße diskutierten. Glücklicherweise hatte sich durch den Aufprall die Türe einen spaltbreit geöffnet. So schnell er konnte, hatte er sich unter dem beschädigten Zaun hindurchgezwängt und sich instinktiv nach Westen gewandt. Den beiden bewaffneten Wachen, die aufgeschreckt durch den Lärm an der Umzäunung nachschauen wollten, konnte er im letzten Moment ausweichen, indem er sich hinter einem kleinen Sandhügel flach auf den Boden geworfen hatte.

Als er später nach einem kurzen Dauerlauf mehrere Baracken erblickte, wurde ihm plötzlich schwindlig und er sank kraftlos zu Boden. Das letzte was er bemerkte, bevor er das Bewusstsein verlor, waren mehrere dunkelhäutige Männer, die auf ihn zu rannten. Diese Männer, die ihm dann wieder auf die Beine geholfen hatten, erzählten von der Möglichkeit, mit Booten über das Meer in ein Land zu fahren, wo Milch und Honig fließen würde. Die Überfahrt sei allerdings sehr teuer und da er kein Geld habe, müsse er wohl bis an sein Lebensende hier im Lager bleiben. Mit diesem schrecklichen Gedanken konnte er sich aber nicht abfinden und so kletterte er noch am selben Tag über den verhängnisvollen Zaun. Den Wachen war es anscheinend ziemlich egal, ob jemand aus dem Lager verschwand, denn er sah während seiner Flucht keine einzige Seele.

Er trieb sich in der Umgebung des Hafens herum, wo er bald von einem bärtigen Fischer angesprochen wurde. Dieser verschlagen grinsende Mann wollte eine unvorstellbare Summe von ihm, wenn er für ihn einen Platz auf einem Boot organisieren würde. Tayé wusste ja nicht einmal, wie viel das in seiner eigenen Landeswährung war, denn er hatte noch nie mit Geld zu tun gehabt. Plötzlich verspürte er den Drang, diesem grässlichen geldgierigen Menschen seinen eigenen Willen aufzuzwingen. Mittels seiner angeborenen Fähigkeit, jemanden telepathisch beeinflussen zu können, hatte er ihn in kürzester Zeit soweit, dass er einen Platz auf einem Boot zugesichert bekam, das in der gleichen Nacht von der Küste ablegen würde. Und nun war er auf einem riesigen Schiff gelandet und hatte keine Ahnung, wie es nun weitergehen sollte. Er versetzte sich in eine Art Trance, um durch sein erweitertes Bewusstsein etwas über sein weiteres Schicksal herauszufinden. Es wollte ihm aber nicht so richtig gelingen, da das Schmerzmittel, das ihm verabreicht wurde, eine für ihn ungewohnte Wirkung zeigte und so döste er mit einem gelösten Gesichtsausdruck ein.

***

Zur gleichen Zeit saßen zwei Männer in mittleren Jahren in feuchtfröhlicher Stimmung in einem Badeort Namens Rivabella nahe Rimini an einer Hotelbar bei der zweiten Flasche Lambrusco zusammen. Sie unterhielten sich gerade über einen SF-Endzeitthriller, der ihnen eine sympatische junge Dame, die sie vor einigen Tagen im Hotel kennen lernten, ausgeliehen hatte. Im Moment machten sich die beiden Schweizer über die Pistazien her, die ihnen der sichtbar gelangweilte Barkeeper hingestellt hatte. Der Lambrusco zeigte bereits seine Wirkung und die beiden beschlossen, sich gegenseitig an Lautstärke überbietend, den launigen Abend noch mit einem Grappa Emiliano Romagnoli ausklingen zu lassen und das fröhliche Zusammensein an der Bar am folgenden Tag zu wiederholen.

In der letzten halben Stunde hatten sich die beiden über Gott und die Welt, insbesondere aber über die Thesen des Prä-Astronautik Verfechters Erich von Däniken unterhalten. Trotz des gestiegenen Alkoholpegels konnten beide noch einigermaßen klar denken.

»Weißt du, der hat ja viele unterhaltsame Geschichten geschrieben und die haben sich bestimmt auch gut verkauft, aber beweisen kann er keine davon.« meinte Rolf, während er Pistazienschalen aufbiss.

»Mag sein, aber viel interessanter ist doch, dass man ihm das Gegenteil seiner zugegebenermaßen manchmal etwas gewagten Thesen eben auch nicht beweisen kann.« sagte Andy, der kleinere der beiden. »Anzunehmen, dass wir Menschen die einzigen intelligenten Lebewesen im ganzen Weltall sind, ist ja sowieso so etwas von eingebildet.«

»Was heißt denn da eingebildet? Eingebildet sind die Leute, die behaupten, ein UFO gesehen zu haben oder gar von einem solchen entführt worden zu sein. Die sind nämlich eingebildet, weil sie sich das alles nur einbilden…«, regte Rolf sich künstlich auf. »Und selbst wenn wir nicht die einzigen wären, wie sollten die denn zu uns auf die Erde gekommen sein, he? Mit dem Weltraumtaxi, oder was? Nein, nein, der hat da etwas phantasiert, was vielleicht möglich wäre, wenn die grünen Männchen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft wohnen würden. Wenn es sie denn überhaupt gibt! Ich habe jedenfalls heute noch keines gesehen…«

Andy war sich durchaus im Klaren, dass Rolf nun aufgrund des gestiegenen Alkoholpegels schon etwas irrational argumentierte und auch kein ausgesprochener Fachmann auf diesem Gebiet war, dafür kannte er ihn schon zu lange. Zwar wurden schon in der Schulzeit Science Fiction Hefte dem Lehrmaterial vorgezogen, was aber nicht heißt, dass später beide auf einem fremden Planeten, sondern eher auf dem Boden der Tatsachen gelandet sind. Das Interesse für alles, was mit der Weltraumfahrt zu tun hat, hat zumindest Andy aber nach der Pubertät nicht aufgegeben. Nun konnte er immerhin mit einem kleinen angelesenen Wissen auf dem Gebiet der Astronomie auftrumpfen. Deshalb konterte er mit einem genauso simplen Argument.

»Ich habe selber auch noch keine gesehen, aber soll es sie nur deshalb nicht geben? Die Weiten des Alls sind unergründlich und die Möglichkeit, dass es außerirdische Zivilisationen gibt, ist in den letzten Jahren von der Wissenschaft als immer wahrscheinlicher eingestuft worden.«

So hätte es noch eine Zeitlang weitergehen können, aber beide wurden langsam müde und der konsumierte Alkohol sowie die am Nachmittag reichlich getankte Sonne machten sich langsam bemerkbar. Die beiden Jugendfreunde verabschiedeten sich und gingen auf ihre Zimmer. Schon lange hatten sie geplant, einmal die Ferien gemeinsam zu verbringen. Nachdem die weitreichenden Reiseeinschränkungen endlich aufgehoben wurden, beschlossen sie, zusammen in den sonnigen Süden zu fahren. Sie entschieden aber, dass sie auf jeden Fall getrennt schlafen würden, zum einen weil Rolf ziemlich unangenehm schnarchen konnte und zum anderen wusste man ja nie, was man außer dem Rachen sonst noch so aufreißen konnte…

***

Am nächsten Morgen trafen sich Rolf und Andy um acht Uhr zum Frühstück. Es war am gestrigen Abend nicht allzu spät geworden und der Wein zeigte erstaunlicherweise keinerlei Nachwirkungen. So sprach Rolf fröhlich die hübsche junge Frau an, die ihnen vor einigen Tagen freundlicherweise das Buch mit dem mysteriösen Titel ›Lost God‹ ausgeliehen hatte.

»Buon giorno, cara mia.«, begrüßte er sie.

»Buon giorno, Rodolfo.«, flötete sie zurück »Jetzt bin ich aber etwas enttäuscht. Weißt du denn nicht mehr, wie ich heiße?«

Diese Frage ließ Rolf erröten. Andy musste schmunzeln.

»Sorry, du hast mich voll erwischt, dein Name ist mir tatsächlich entfallen.«

»Ich heiße immer noch Olivia, das gefällt mir um einiges besser, als cara mia.«, meinte sie und schüttelte mit einem kurzen Ruck eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares aus dem Gesicht.

Rolf kam ins Stottern, als er sagte: »Ich wollte dich nicht etwa anmachen, von wegen cara mia, äh, ich meine… ehm, aber das sagt man hier doch so…«

Andy grinste und Rolf ergriff gerne die Gelegenheit, das Thema zu wechseln: »Was machst du denn eigentlich beruflich, wenn ich fragen darf?«

»Ich habe Astrophysik studiert.«

Rolf war erstaunt. »Astrophysik? Darauf wäre ich nie gekommen.«

Nun mischte sich Andy ein.

»Ich aber habe mir so etwas Ähnliches gedacht. Das Buch, das du uns ausgeliehen hast, hätte ein kleiner Fingerzeig sein können.«

»Also damit hat das eigentlich weniger zu tun. Ich finde dieses Buch einfach nur spannend und habe es gleich in einem Zug durchgelesen. Aber mit meinem Job hat es ja nur ganz am Rande etwas zu tun.«, sagte Olivia.

Rolf räusperte sich und meinte: »Ich habe es zwar nur kurz überflogen, aber es scheint doch recht interessant zu sein.«

Nun konnte sich Andy nicht mehr zurück halten.

»Du Ignorant!«, tadelte er ihn in gespielter Entrüstung, »wie willst du beurteilen, wie etwas geschrieben ist, wenn du es nicht einmal richtig gelesen hast? Solche Kunststücke brachte nur der Literatur-Papst Reich-Ranicki fertig. Der konnte sich schon nach ein paar Seiten eines Buches ein Urteil bilden.«

Olivia schaute Andy schelmisch in die Augen und fragte ihn: »Wie ist es mit Dir, hast du es denn etwa schon gelesen?«

Andy errötete leicht und meinte: »Na klar, ich bin ja nicht so ein Literatur-Banause wie Rolf. Gut, von der ersten bis zur letzten Seite habe auch ich es noch nicht geschafft, aber als Astronautik-Fan haben mich zum Beispiel die Kapitel über die Startvorbereitungen der Space Shuttle Mission sehr beeindruckt. Sehr gut recherchiert! Man könnte meinen, der Autor sei selbst Astronaut. Und dann die Beschreibung der Katastrophe in Basel, unserer Heimatstadt...«

Olivia unterbrach ihn freudig überrascht: »Ihr kommt aus Basel? Das habt ihr mir ja noch gar nicht erzählt. Meine Eltern leben auch dort, nachdem sie vom Ausland zurückgekommen sind. Zufälle gibt’s. Apropos Job, ihr habt mir ja diesbezüglich noch gar nichts von euch erzählt. Was macht ihr beiden denn so?«

Andy holte tief Luft und antwortete: »Also Rolf arbeitet im Sicherheitsdienst eines Asylzentrums. Er redet normalerweise nicht so viel darüber. Vielleicht kannst du etwas mehr aus ihm herauskitzeln. Und ich arbeite als Pfleger in der Psychiatrie. Keine besonders aufregende Tätigkeit.«

Rolf äußerte sich nun doch noch. »Auch in meinem Job hält sich die Aufregung bis auf vereinzelte Ausnahmen in Grenzen. Der Kontakt mit den unterschiedlichsten Kulturen macht es ziemlich interessant, wobei man zwangsweise eben auch mit den verschiedensten Schicksalen konfrontiert wird. Diese darf man aber nicht zu sehr an sich heran lassen, sonst landet man früher oder später ungewollt bei Andy...« witzelte Rolf.

Andy lachte und erwiderte: »Wenn du wüsstest, wer schon alles bei uns gelandet ist. Von deiner Firma waren tatsächlich auch schon ein paar bei uns, aber keine Angst, die dürften mittlerweile alle wieder geheilt sein.«

»Das klingt ja sehr beruhigend«, entgegnete Rolf feixend und nahm das ursprüngliche Thema wieder auf.

»So so, also Astrophysik ist dein tägliches Brot«, sagte er zu Olivia. »Wie muss man sich das so vorstellen? Hast du etwa auch schon mal eine Botschaft aus dem All empfangen, so wie damals Jodie Foster in ›Contact‹?«

Olivia musste lachen. »Schön wär's ja, aber ganz so einfach ist es nun doch nicht. Zudem bin ich hauptsächlich mit der Kartografierung und Katalogisierung beschäftigt, einer relativ trockenen Materie, mit der ich euch nicht langweilen möchte.« Andy und Rolf waren aber sehr wohl an Olivias Tätigkeit interessiert und wollten mehr wissen.

»Also gut, ihr wollt es ja nicht anders. Grob gesagt erstelle ich Sternkataloge. Diese Kataloge dienen dazu, die Sterne nach verschiedenen Eigenschaften in Buchform aufzulisten oder auf Datenträgern abzuspeichern. Dabei sind die wichtigsten Parameter die genauen Sternpositionen im Himmelskoordinatensystem, aber auch die Bestimmung der Eigenbewegung der Sterne und nicht zu vergessen sind die Spektralklassen und die…«

»Stop, stop, stop!«, unterbrach Rolf die Erklärung, währenddem Andy sie fasziniert von der Seite bewunderte. »Mit diesem Fachchinesisch kann ich aber nicht viel anfangen.«

Olivia legte ihre Hand auf Andys Unterarm und machte einen Vorschlag: »Wenn ihr wirklich möchtet, lasse ich euch gerne an meinem Fachwissen teilhaben. Ich möchte mir nur nicht nachsagen lassen, dass ich jemanden mit Fachchinesisch zu Tode gelangweilt habe.«

Rolf überlegte einen Moment, während Andy schmunzelte und ihm mitfühlend auf die Schulter klopfte. »Du hast Recht, ich habe mich da wohl etwas unklar ausgedrückt. Eigentlich habe ich wenig bis nichts verstanden, obwohl ich mich seit meiner Kindheit für die Raumfahrt interessiere.«

Olivia merkte, dass Rolf und Andy insgeheim mehr von ihrer interessanten Tätigkeit erfahren wollten, bevor sie selbst am nächsten Tag abreiste. Sie machte ihnen den Vorschlag, am Abend bei einem Abschiedsdrink in der Bar mehr davon zu erklären und dabei nicht mit ›chinesischen Fachausdrücken‹ um sich zu werfen. Außerdem war ihr nicht entgangen, dass Andy ein Auge auf sie geworfen hatte. Eigentlich fand sie ihn auch ganz niedlich und fühlte sich irgendwie zu ihm hingezogen. Demnächst wollte sie ja sowieso in die Schweiz reisen. Mal sehen, was sich da noch kurzfristig entwickeln könnte...

Operation Sandmann Band 1

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