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4.5.2 Die identitätsstiftende Funktion der Wallfahrten und Bekenntnistage
ОглавлениеDie Jugendbewegung kannte die Kriegs- und Nachkriegsjugend mehr aus Erzählungen denn aus dem eigenem Erleben, aber wie sich nach dem Krieg erkennen ließ, wurden von jener mehr als nur die äußeren Zeichen übernommen. Viele der engagierten Jugendseelsorger kamen aus der bündischen Jugend und gaben deren Ideen und Erfahrungen weiter. Der Geist der Jugendbewegten war nach dem Krieg auch noch bei älteren Jugendlichen zu spüren. Selbst auf die Einhaltung der Erkennungsmerkmale der Bündischen wurde in dieser Zeit wieder Wert gelegt.318 Eines dieser bündischen Elemente war das von religiösen Vollzügen begleitete Wandern.319 Das Wander- oder später Wallfahrtsbedürfnis der Jugend entsprang in der Diaspora sowohl der bündischen Tradition als auch der Sehnsucht nach Natur- und Gemeinschaftserfahrungen der Jugendlichen. Diese Wanderungen und Jugendlager fanden vereinzelt auch in der Zeit des Verbotes unter den Nationalsozialisten statt,320 wobei sie, um nicht aufzufallen, mitunter in HJ-Uniform durchgeführt worden sind.321 Jene Form des Wanderns war aber nicht mit der volkskirchlichen Wallfahrt gleichzusetzen. In der Diaspora von Paderborn-Ost gab es nur noch vereinzelte Wallfahrtstraditionen. Nur zwei kleine lokale Treffen, wie die eucharistische Wallfahrt zur 1000jährigen Linde in Schwanebeck oder die Annenwallfahrt nach Glüsig hatten sich erhalten in der Heimat der Reformation. Demgegenüber war den Jugendlichen aus den Ostgebieten das Wallfahren als eine Selbstverständlichkeit ihrer religiösen Sozialisation vertraut. Die volkskirchliche Wallfahrt verstand sich als ein Pilgern auf ein bestimmtes Ziel hin mit religiösen Intentionen. Natur- und Gemeinschaftserleben waren der persönlichen religiösen Motivation gegenüber in den Hintergrund gerückt. Auch wenn die volkskirchliche Wallfahrtstradition der Jugend aus den Ostgebieten auf einer anderen Erfahrung basierte als das jugendbündische Wandern, konnten beide Traditionen gut zusammengeführt werden. Das Wallfahren war für die „Flüchtlingsjugend“ ein eben solch heimat- und identifikationsstiftendes Element wie für die bündisch geprägte Jugend.
Wurden die Wallfahrten in den katholischen Gebieten aus einer Volksfrömmigkeit heraus oft, mit der Verknüpfung an eine Entstehungslegende, tradiert, entstand die neue Wallfahrtstradition in der Diaspora demgegenüber aufgrund pastoraler Überlegungen. Das Konzept der Ständewallfahrten war ein Versuch, volkskirchlich verwurzelte Jugendliche mit denen aus der Diaspora zusammenzuführen. In der so entstandenen Jugendwallfahrt wurde das Aufflackern alter romantischer Ideale wie Kameradschaft und Wandern mit traditionellen volkskirchlichen Elementen wie religiöser Läuterung und Anbetung, die der Jugend aus den Ostgebieten vertraut waren, verbunden. Die Wallfahrten enthielten religiös erbauliche, identitätsstiftende und kommunikative Elemente. Sie waren ein religiöses Angebot, sowohl an die Diasporajugend mit ihrer Erfahrung von Bekenntnistagen als auch an die Jugend aus volkskirchlicher Tradition. Im Unterschied zu den politisch gelenkten „Massenaufläufen“ waren die Wallfahrten nicht als „Massenmobilisierung“ vor einem Publikum zu verstehen, bei denen wie in der NS-Zeit oder mit anderem neuem Inhalt folgend in der SBZ/DDR politische Überzeugungen und Symbole mit propagandistischer Absicht zur Schau gestellt wurden. Die entstehende Wallfahrtsbewegung ist als eine innerkirchliche Ausdrucksform zu verstehen.322
Mit der aufkommenden Wallfahrtstradition entstand in der Diaspora ein neues Element, zusätzlich zum bisher üblichen Bekenntnistag, wobei der demonstrative Charakter der Bekenntnistage bei den Wallfahrten viel weniger zum Ausdruck kam. Die Unterschiede zwischen beiden Formen verschwanden jedoch im Laufe der Jahre. Nur von ihren Entstehungskontexten her sind diese Unterscheidungen nachvollziehbar. Gegenüber den Wallfahrten hatten die Bekenntnistage in der Diaspora bereits eine kleine Tradition.323 Diese Form der Selbstdarstellung von katholischen Jugendlichen, deren Wurzeln in der Zeit des Nationalsozialismus zu finden sind, wurde im Kommissariat Magdeburg auch nach 1945 fortgeführt. Sich selbst ermutigend versammelte sich die Jugend um zu spüren, dass es in diesem sozialistisch werdenden Land junge Christen gebe. Es war wie in der Zeit des Nationalsozialismus auch in der SBZ eher ein stiller Protest, der fast ausschließlich in Kirchengebäuden zum Ausdruck kam. Da sich überregional solche Treffen schwieriger veranstalten ließen, wurden die Bekenntnistage meist dekanatsweise durchgeführt.324 Dennoch begannen die staatlichen Stellen sehr bald, die Wallfahrten, noch mehr als die Bekenntnistage als unerlaubte Form von gesellschaftlicher Jugendarbeit einzustufen, obgleich die neuen Wallfahrtsorte, der Petersberg bei Halle und die Huysburg bei Halberstadt, genauso wenig im Blickpunkt der Öffentlichkeit lagen wie die beiden traditionellen Wallfahrtsorte des Kommissariates.
Anfangs gab es noch keine eindeutige Begrifflichkeit für diese Art von Jugendtreffen und es wurde unter den Diasporajugendlichen fast synonym von „Jugendgottesdienst“ oder „Jugendwallfahrt“ gesprochen. Schon bald setzte sich der Sprachgebrauch der „Wallfahrt“ gegenüber dem des „Wanderns“ durch.325 Bereits im August 1945 wurde von der Jugend in Halle eine Art Wallfahrt auf den Petersberg als quasi „Vorläufer“ der ein Jahr später stattfindenden Jugendwallfahrt geplant, aber wegen der strengen Kontrollen durch die SMAD und des Verbotes von organisierten Veranstaltungen nicht durchgeführt.326 In kleinen Gruppen hatten die Jugendlichen von Halle-Mitte nach einem gemeinsamen Gottesdienst eine Wanderung zum Petersberg geplant. Die Fahrt sollte anfangs getrennt erfolgen, um sich dann am gemeinsamen Ziel Petersberg zu treffen. Die Angst vor den sich verschärfenden Kontrollen der SMAD verhinderte zu diesem frühen Zeitpunkt, dass solch eine „Wallfahrt“ stattfand. Als dann am 16. Juni 1946 der erste Bekenntnistag nach dem Krieg stattfinden konnte, war der Weg für das Entstehen einer Wallfahrtstradition im Kommissariat Magdeburg frei.327 Auch wenn die Jugendwallfahrt nicht in der Volksfrömmigkeit der Jugendlichen in der Diaspora tradiert, sondern einem pastoralen Konzept entstammte, war sie nicht eine Anordnung „von oben”, sondern entsprach den Bedürfnissen und dem Selbstverständnis der Jugendlichen.328
Da sich die verantwortlichen Leiter der ersten Jugendwallfahrt am 25. August 1946329 bewusst waren, wie argwöhnisch kirchliche Jugendveranstaltungen von den politischen Organisationen beobachtet wurden, mussten sie alles versuchen, um nicht zu viel Aufmerksamkeit auf diese Veranstaltung zu lenken. Vielleicht wurde deshalb in den Einladungen nicht von „Wallfahrt“, sondern nur von „Jugendgottesdienst“,330 allenfalls noch von einem „besonderen Jugendgottesdienst für die gesamte Jugend unseres Dekanates und der Nachbardekanate” gesprochen.331 Zudem wurden die Einladungen zu diesem Treffen relativ kurzfristig verschickt, um die staatlichen Stellen nicht zu umfassend und zu früh zu informieren. Den eigentlichen Wallfahrtsweg gingen die Jugendlichen meistens getrennt, um sich erst am gemeinsamen Ziel zu treffen. Für das Verhalten auf dem Weg zum Petersberg wurden genaue Regeln ausgegeben. Außer dem Aufruf zu Haltung und Disziplin war die Mahnung von Bedeutung, dass Wimpel noch nicht auf dem Weg zum Petersberg, sondern erst auf kirchlichem Grund entfaltet werden durften. Dies war vor allem als Vorsichtsmaßnahme zu verstehen. Alles was an konkurrierende Jugendverbände erinnerte, und das waren vor allem Symbole der kirchlichen Jugend, hätte Einsprüche der FDJ hervorrufen können. Dass die Überraschung auch gelungen war, zeigen FDJ-Berichte, die den Ablauf der Jugendwallfahrt protokollierten. 31 Fahnen, 15 Wimpel aus 46 Ortschaften und 1200 – 1400 teilnehmende Jugendliche einer Veranstaltung, die nicht unter dem Banner der FDJ stand, „demonstrierten“ ungewollt die Macht dieser „Organisation“ Katholische Kirche und die Ohnmacht der FDJ, die diese Veranstaltung weder erahnen und noch weniger verhindern konnte.332 Die Tendenz hinsichtlich der Beteiligung an den Wallfahrten war in den ersten Jahren kontinuierlich steigend. 1949 nahmen an den drei Wallfahrten der Jugend im Kommissariat bereits 8500 Jugendliche teil.333
Der Ablauf der Wallfahrten auf den Petersberg war dem der ersten meist ähnlich, ebenso die dazugehörigen Elemente wie: Gemeinschaftsmesse,334 eine Führung samt Vortrag zur Geschichte des Petersberges, ein religiöser Singekreis, ein Laienspiel und eine abschließende Feierstunde.335 Im ersten Jahr fand das geplante Laienspiel vom Ritter Georg nicht statt. Es wurde wegen seiner militärischen Sprache und Symbolik durch Selbstzensur der Jugendlichen kurzfristig abgesetzt.336 Um auch die Verbundenheit im Kommissariat erfahren zu können, setzte sich H. Aufderbeck dafür ein, dass Propst Weskamm auf der Wallfahrt eine Ansprache hielt.337 Für viele der Jugendlichen, die mit den Verhältnissen in der Diaspora vertraut waren, löste es ein erhebendes Gefühl aus, dass nach mehr als 400 Jahren in der Kirche des ehemaligen Augustiner-Chorherrenstiftes wieder ein katholischer Gottesdienst stattfinden konnte.338 Nicht nur im Kommissariat Magdeburg, auch in Rosenthal, im Bistum Meißen, fand 1946 eine Jugendwallfahrt statt.339 Die erste Wallfahrt auf den Petersberg von 1946 war auch das Signal für die evangelische Landeskirche ab 1947 zu Himmelfahrt einen „Sternmarsch“ auf den Petersberg zu veranstalten.340
Mit der sich entwickelnden Aktivität der AG der Jugendseelsorger wurden bereits 1948 die Bekenntnistage und später auch die Wallfahrten für den gesamten Bereich der SBZ/DDR auf der Jugendseelsorgerkonferenz vorbereitet bzw. besprochen. Sie entwickelten sich immer mehr zu den zentralen Jugendveranstaltungen der einzelnen Ordinariatsbezirke.341 Die sich verschärfende Melde- und Genehmigungspflicht von überörtlichen Jugendveranstaltungen, zu denen die Wallfahrten gezählt wurden, entwickelte sich aus dem Anstoß, den die SMAD und später die staatlichen Stellen daran genommen hatten, dass die Glaubensvermittlung sich nicht nur ausschließlich in den Räumen der Kirchen vollzog.342 Doch forderten die sich stetig verändernden staatlichen Rahmenbedingungen Mut und Phantasie bei den Verantwortlichen der katholischen Jugendseelsorge heraus, die abgesteckten Grenzen so weit als möglich auszureizen. Aber nicht nur diese Einschränkungen begründeten die Tendenz, schon bald die Wallfahrten vorübergehend zu dezentralisieren. Auch die logistischen Probleme, die beim Zusammenkommen einer großen Menge von Jugendlichen auftraten, führten dazu.343
Auf Dekanatsebene behielten die Treffen zum Christkönigsfest ihre Bedeutung. Ursprünglich am letzten Oktoberwochenende terminiert, hatten diese Treffen ihren demonstrativen Charakter aus der Zeit des Nationalsozialismus verloren. Mancherorts fand an Christkönig die feierliche Aufnahme in die Pfarrjugend statt.344 Die Christkönigstreffen wurden weder vom Jugendamt zentral vorbereitet, noch hatten sie ein einheitliches Thema zum Inhalt. Dennoch blieben diese Treffen in den Dekanaten wichtige Orte der Solidaritätserfahrung. Mit der Liturgiereform des Konzils fanden sie später am letzten Wochenende im Kirchenjahr ihren Platz.