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Freitag, 21. September – SSW 25+0

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Wieder hatte ich kaum geschlafen und das erste, was ich am Morgen tat, ja tun musste, war ausgiebig zu weinen. Ich ließ alles über mich ergehen, die neuen Infusionen, die Blutabnahmen und die Spritzen. Ich wählte ohne Leidenschaft und ohne die Karte überhaupt genau zu lesen eines von drei Mittags- und eines von drei Abendmenüs aus. Und das, obwohl das Essen vorzüglich war. Michael kam, ich weinte wieder. Dann beruhigte ich mich mehr oder weniger. Kurz darauf brach ich erneut in Tränen aus. Ganz selten kam ich zur Ruhe. Meistens, wenn unser Kind strampelte und wir beide unsere Hände auf meinen Bauch legten und für ein paar Momente glücklich waren, dass er lebte. Wobei es mir so absurd schien, wie gut es ihm ging, solange er im Bauch war und wie schlecht es ihm gehen würde, wenn er ihn verlassen musste.

Einmal am Tag telefonierte ich mit meinen Eltern. Jedes dieser Telefonate verlangte mir alles ab. Ich musste positiv klingen, Sätze sagen, an die ich nicht glaubte, eine Zukunft erschaffen, die es möglicherweise nicht geben würde. Meine Mutter wollte nach Bozen kommen, aber das lehnte ich ab. Fünf Minuten ohne Blickkontakt konnte ich schauspielern, aber nicht von Angesicht zu Angesicht. Am Sonntag würden die Schwiegereltern auf Besuch kommen, das würde schwierig genug werden. Außerdem hatte ich Michael gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil ich eine so schlechte Gesellschaft abgab. Dabei hätte er seinen Urlaub so dringend nötig gehabt. Aber die Situation war einfach nicht zu ändern, mein Handlungsspielraum gering.

Es war nichts mehr von Bedeutung: das Wetter, obwohl die warme Luft in mein Zimmer dampfte und ich ahnte, wie fröhlich betriebsam die Menschen auf der Straße an so einem prachtvollen Herbsttag waren; die Weltpolitik und die kleinen Dinge, die ich hier erlebte, all das war gleichsam sinnentleert geworden. Etwa als die Seelsorgerin, eine warmherzige, bescheidene Frau, hereinkam und ich gerade auf der Schüssel saß. Als sie mit mir und Frau Mohr ein Vater-unser betete und ich immer noch auf der Schüssel war. Aber was sollte ich dazu auch sagen. War das Gotteslästerung? Ich denke nicht. Ich war Gott in diesen Tagen näher als all die vielen Jahre zuvor.

Geboren in Bozen

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