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1 Einleitung 1.1 Zur Entwicklung der sportbezogenen Sozialen Arbeit
ОглавлениеSport zählt seit ihren Anfängen zu den klassischen Zugängen der Sozialen Arbeit. Bereits im 19. Jahrhundert erfolgte eine Grundlegung im von Jane Addams gegründeten Chicagoer Settlementhaus Hull House. So wurden um 1900 mit der Erweiterung des Gebäudekomplexes Trainingsräume für Sportkurse eingerichtet. Es gab Angebote wie Baseball oder Tanzen, aufgeteilt nach verschiedenen Schwierigkeitsgraden, die Gruppen traten teils zu Wettkämpfen an, den sogenannten Match Games (Linn, 1935, S. 151ff).
In Deutschland sind seit den 1980er Jahren kontinuierliche systematische Bemühungen zur Nutzung von Bewegung und Sport als Medium in der Sozialen Arbeit erkennbar, die in der Konsequenz zur Etablierung von Strukturen und zahlreichen unterschiedlich ausgestalteten Projekten sowohl in den sozialen Diensten als auch in den Sportorganisationen mit deren angegliederten Sportvereinen geführt haben. Sport- und bewegungsorientierte Angebote sind in allen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit zu finden, insbesondere in der Jugendhilfe sind sie stark vertreten. Mit der Fanarbeit hat sich ein eigenes neues Handlungsfeld Sozialer Arbeit entwickelt.
Vorangetrieben wurde diese Entwicklung insbesondere durch das Engagement einzelner Hochschulvertreter und -vertreterinnen sowohl der Sozialen Arbeit als auch der Sportwissenschaft, durch Kampagnen und Strategien des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und der Deutschen Sportjugend (DSJ), durch verschiedene Förderprogramme auf Bundesebene und durch zahlreiche und vielgestaltige Projekte in der Praxis.
Schon Mitte der 1960er Jahre unterstützte der Europarat unter dem Motto »Sport für alle« eine Bewegung, die das Ziel verfolgte, durch politische Initiativen alle Menschen zum Sporttreiben zu bewegen (Europarat, 1975). In diesem Kontext entstanden infolge in vielen europäischen Ländern Kampagnen zur Förderung des Breitensports. In Deutschland wurde durch den DOSB, damals noch Deutscher Sportbund (DSB), der stärker vereinsbezogene zweite Weg des Sports bevorzugt, der neben dem leistungsorientierten Sport als erstem Weg den Breitensport fördern wollte (Krüger & Jütting, 2017, S. V). Anfang der 1970er Jahre startete in Deutschland die Trimm-dich-Bewegung, mit der versucht wurde, möglichst viele Menschen für Bewegung auch außerhalb der Sportvereine zu begeistern. Insgesamt haben diese Entwicklungen zu einer Vielfalt sportiver Praxen innerhalb und außerhalb der Vereine beigetragen (ebd., S. Vf).
Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde für die Sportorganisationen die soziale Aufgabe formuliert, auch Gruppen einzubeziehen, die in den Sportvereinen für Kinder und Jugendliche unterrepräsentiert waren (Michels, 2007, S. 13f). Hierzu zählten u. a. Kinder aus Haushalten mit geringer sozio-ökonomischer Ausstattung, Mädchen sowie Heranwachsende mit Migrationshintergrund. Der Forderung, diese Jugendlichen zu erreichen, wurde mit Verweis auf die doppelte Benachteiligung dieser Gruppen Nachdruck verliehen, da die positiven Zuschreibungen des Sports, z. B. hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung oder des sozialen Lernens, durch die fehlende Vereinszugehörigkeit nicht ermöglicht würden (Welsche, Seibel & Nickolai, 2013, S. 26f).
Verschiedene Programme förderten deshalb sportbetonte Projekte im organisierten Sport zur Überwindung sozialen Ausschlusses. So wurde u. a. in 1999 im Rahmen des vom Bundesamt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aufgelegten E & C-Aktionsprogramms »Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten« von der DSJ in Kooperation mit der Sporthochschule Köln das Projekt »Soziale Offensive« unter Leitung des Sportwissenschaftlers Christoph Breuer durchgeführt. Zugleich wurde in diesem Rahmen neben vielen anderen Aktivitäten eine Datenbank sozialer Initiativen im Jugendsport entwickelt, die ihre Angebote insbesondere auch an sozial benachteiligte Menschen richten (ehemals: www.soziale-projekte-im-jugendsport.de; jetzt: www.jugendprojekte-im-sport.de). Außerdem wurde ein Fachforum mit Praktikern und Praktikerinnen durchgeführt, um das Leben der Jugendlichen zu beschreiben und daraus Handlungsimplikationen für die Sportjugendarbeit abzuleiten (Rittner & Breuer, 1999). Im Ergebnis zeigte sich, dass das große Engagement in den Sportvereinen zu würdigen ist, die Trainer und Trainerinnen jedoch nicht ausreichend für die Arbeit mit den benannten Gruppen qualifiziert und vorbereitet sind (Michels, 2007, S. 14f). Beklagt wurde, so Michels, dass die Vereinstrainer und -trainerinnen die konkreten Lebenswirklichkeiten und Bedürfnisse der Jugendlichen zu wenig kannten und berücksichtigten. Entsprechend wurden diese zu wenig aktiv in die Trainingsabläufe und -inhalte einbezogen. Im Mittelpunkt des Trainings stand allein die sportliche Praxis (ebd., S. 15).
Hinzu kam, dass Sport und Bewegung, auch mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) im Jahr 1991, in dem der Begriff Sport in § 11 SGB VIII erstmalig für die Jugendarbeit gesetzlich verankert wurde, zwar vermehrt in der sozialpädagogischen Praxis genutzt wurden, aber sportpädagogisches Wissen bei den Fachkräften der Sozialen Arbeit häufig fehlte:
»Sozialpädagogen (…) fehlt oft die sportbezogene Fachkompetenz, vielfach werden Arbeitsweisen aus der selbst erlebten Sportbiographie bezogen, dabei so manches antiquierte Konzept wieder belebt« (Michels, 2007, S. 14).
Die im Rahmen dieser Bemühungen mehrfach beklagte unzureichende Zusammenarbeit der Beteiligten hat den Wunsch nach mehr Dialog und Kooperation hervorgebracht, sowohl zwischen den Hochschulen für Sozialwesen und Sportwissenschaft als auch, auf Praxisebene, zwischen sozialen Diensten und Sportvereinen sowie der DSJ bzw. dem DOSB als deren Überbau (ebd.).
Vertreter und Vertreterinnen der Sozialen Arbeit bekundeten ihrerseits die Notwendigkeit der Kooperation; die »Bad Boller Erklärung« von 1997, die als Ergebnis eines Werkstattgesprächs in der Evangelischen Akademie festgehalten wurde, wird hier von den Beteiligten als Meilenstein gesehen. Trotz der Vorgabe, die Kooperation zwischen Hochschulen für Sportwissenschaft und Hochschulen für Soziale Arbeit auszubauen, gab es, so Seibel, seitens der Sportwissenschaften eher wenig Initiativen, die sozialpädagogische Expertise der Hochschulen für Soziale Arbeit zu nutzen (Seibel, 2007, S. 5f).
Zusätzlich zu den Vernetzungsbemühungen gewann an den Hochschulen im Fachbereich Sozialwesen die Qualifizierung der Studierenden an Bedeutung. Anliegen war es hier nicht zuletzt, den zunehmenden Einsatz des Sports in der Praxis qualitativ zu entwickeln. Die Vermittlung sport- und bewegungsorientierter Konzepte erfolgt meist in Form von Zusatzqualifikationen an Hochschulen im Fachbereich Sozialwesen, häufig verbunden mit der Vergabe von Übungsleiterlizenzen. Strukturell, so Michels, sind die Lehrinhalte heute in der Regel im Studienbereich Medien bzw. didaktische Methoden verortet (Michels, 2007, S. 15). Bis heute sind Sport und Bewegung nicht explizit im Kerncurriculum Soziale Arbeit verankert (DGSA, 2016).
Im Kontext der Sozialen Offensive wurde außerdem deutlich, dass Sport nicht per se ›wirkt‹ (Welsche, Seibel & Nickolai, 2013, 27). Das Training mit heterogenen Gruppen stellt für Trainer und Trainerinnen oftmals eine Überforderung dar. Außerdem zeigten verschiedene Studien, dass die dem Sport zugeschriebenen Sozialisationspotentiale nur teils empirisch belegbar sind, auch wenn sie immer wieder hervorgehoben werden (siehe u. a. DOSB, 2009; Brettschneider & Kleine, 2002). Die sich seit den 1990er Jahren langsam durchsetzende Haltung, dass Sport eines speziellen pädagogischen Settings und einer spezifischen Inszenierung bedürfe, hat einen sozialpädagogischen Boom im Sportbereich mit sich gebracht (siehe u. a. Welsche, Seibel & Nickolai, 2013), der in der Aussage, Sportvereine »seien qua Definition ein Ort Sozialer Arbeit«, so Pilz (2002, S. 11) kritisch, verkürzt zusammengefasst wurde. Dies birgt die Gefahr der Über- als auch der Unterbewertung Sozialer Arbeit im Sport in sich. Mit der Überbetonung sozialer Kompetenzen und Settings wird eine zu kritisierende Sozialpädagogisierung des Sports betrieben, gleichzeitig ist eine Entwertung und Deprofessionalisierung Sozialer Arbeit durch die Übertragung sozialpädagogischer Aufgaben an Trainer und Trainerinnen zu verhindern (siehe u. a. Michels, 2007; Pilz, 2002).
Die Relevanz des Themas Sport und Soziale Arbeit wurde seitens der Politik zunehmend anerkannt und entsprechend gefördert. Dies zeigte sich u. a. durch die Erwähnung in den Kinder- und Jugendberichten. So wurde im 10. Kinder- und Jugendhilfebericht von 1998 erstmalig kurz auf die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen hingewiesen und gefordert, deren Integration in außerschulische Bildungs- und Freizeitangebote anzustreben (Welsche, Seibel & Nickolai, 2013, S. 20). Insbesondere ab dem 11. Kinder- und Jugendhilfebericht von 2002, der erstmals ausführlich Kinder- und Jugendarbeit im Sport und die Sportjugend als Jugendhilfeträger behandelt, hat das Thema Sport in den Kinder- und Jugendberichten der Bundesregierung einen festen Platz erhalten. Zudem sei auf verschiedene Programme verwiesen wie z. B. das 1989 aufgelegte, von BMI und BAMF geförderte und vom DOSB durchgeführte Bundesprogramm »Integration durch Sport«, das die interkulturelle Öffnung von Sportvereinen fördert. Das Programm besteht seit 30 Jahren; es richtete sich ursprünglich an die Zielgruppe der Aussiedler und Aussiedlerinnen und wurde an die gesellschaftlichen Entwicklungen und das gewandelte Verständnis von Migration jeweils angepasst.
In den Folgejahren wurde das Thema Sport und Soziale Arbeit kontinuierlich vorangebracht und konsolidiert, so dass Sportsozialarbeit mittlerweile als selbstverständlich und als geeignetes Medium sozialpädagogischen Handelns gilt (ebd., S. 23). Belegbar wird dies u. a. durch ihre Berücksichtigung im »Handbuch Soziale Arbeit«, erstmals 2001 durch Krüger.
Zur Strukturierung des Themenfelds, insbesondere mit Blick auf Wirkungen des Sports, aber auch auf die Lebenswelten der Adressaten und Adressatinnen, hat zweifellos die Einführung der Kinder- und Jugendsportberichte beigetragen (Schmidt et al., 2003).
In Verbindung damit stehen gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, wie z. B. der Ausbau der Gesundheitsförderung, das Wachstum der Gesundheits- und Breitensportbranche oder Initiativen hin zu einer nachhaltigen Entwicklung. So wird Gesundheit von den Vereinten Nationen als eines der 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung benannt (UN, 2015; siehe auch Seibel, 2007, S. 6).
Insgesamt fällt in der Entwicklung, zumindest zu Beginn, eine starke Fokussierung auf Kinder und Jugendliche auf (ebd.). Außerdem erfolgt die Behandlung des Themenfelds Sport und Soziale Arbeit, u. a. bedingt durch die Förderströme, sportbetont. Die Bundesprogrammlinien werden vom DOSB bzw. der Sportjugend als dessen Jugendabteilung durchgeführt. Größere Studien und Publikationen, so auch die Kinder- und Jugendsportberichte, werden bisher vornehmlich von Sportwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen vorgelegt.
Dem DOSB kommt in der Entwicklung eine ambivalente Rolle zu. Auf der einen Seite zeigt er sich als Motor der Entwicklung und ist in alle wichtigen Vorhaben und Programme eingebunden, gleichzeitig hat er durch die Propagierung der positiven Wirkungen zu einer normativen Prägung und Mythologisierung des Sports als Heilsbringer beigetragen.
Zur weiteren Professionalisierung der Sportsozialarbeit besteht, bei Würdigung der bisherigen anerkennenswerten Ansätze, Forschungs- und Diskussionsbedarf, um Praxiskonzepte wissenschaftlich zu fundieren, fachliche Standards zu benennen und die Anschlussfähigkeit sozialpädagogischer Konzepte zu konkretisieren (siehe u. a. Michels, 2007, S. 15f).