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Halt und Aushalten: Relevanz für die Pädagogik

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Zuerst kann Halt als existenzielle Erfahrung dargestellt werden: diese findet schon intensiv im Säuglingsalter, d. h. im Angenommen-Werden des Kindes durch die Eltern statt. Diese existenzielle Erfahrung findet sich auch im Zusammensein von Liebenden, d. h. in der Situation, gemeinsam intensive Prozesse der Nähe zu gestalten. Ähnliches kann aber auch in der Auseinandersetzung mit Trauersituationen beschrieben werden: auch in dieser ist der Halt als das verbindende existentielle Moment zu kennzeichnen. Des Weiteren kann die Situation des Halts als die strukturgebende Komponente in der Generierung von Familien, aber auch von Organisationen generell gelten: Sozialisation und Enkulturation sind demzufolge die Phänomene, welche aus Institutionen (also Absprachen, welche die Gesellschaft benötigt, um im Kern bestehen zu bleiben) konkrete Organisationen werden lässt.

In einem zweiten Schritt kann Halt als dialogische Notwendigkeit gekennzeichnet werden: kein Dialog, kein Gespräch zwischen Handlungspartnern ist ohne den Zusammen-Halt möglich und gestaltbar. Der Raum und die Zeit, in dem Gespräche und Dialoge stattfinden, bieten hierbei schon grundlegende haltgebende Phänomene. Ebenso wie das gemeinsame Ziel (oder auch Nicht-Ziel) eines Dialoges haltgebend für die Gesprächspartner sein kann. Ob und wie dieses geschieht ist nun allerdings auch durch die Art und Weise des Haltens und des Lösens des Blickkontaktes im Kontext dieser Dialoge wahrnehm- und gestaltbar. Das Aushalten von Blicken, das Aushalten von Nähe, das Aushalten aber auch von Ferne und Entfremdung und vom aneinander Vorbeischauen (und somit möglicherweise aneinander Vorbeireden) sind zentrale Momente in der dialogischen Gestaltung von Halt bzw. in der Wahrnehmung der dialogischen Notwendigkeit dieses Halts. Zusammenfassend könnte man zur dialogischen Notwendigkeit also festhalten, dass es durch die Ko-Konstruktion der Sprache, durch die Ko-Konstruktion des Erlebens des gemeinsamen Raumes sowie durch die Wahrnehmung des Beziehungsgeschehens als gemeinsam erlebte Ko-Konstruktion zu einer Art von bilateralem Halt zwischen den Handlungspersonen kommt. Sollte dieser Halt zur Entfremdung führen bzw. auf dem Hintergrund von Krisensituationen und Kontingenzen entstanden sein, ist er dennoch als ein solcher auszuhalten, so dass Halt im Rahmen der dialogischen Betrachtung ebenfalls als grundlegendes Moment des Aushaltens gekennzeichnet werden kann – was in diesem Moment alles andere als pathologisch ist, obwohl es solchermaßen anmuten mag. Es wäre dann eine analytische Aufgabe, diese ge-halt-vollen Prozesse unter dialogphänomelogischer Perspektive wahrzunehmen und (evtl. neu) zu gestalten.

In einem dritten Punkt ist Halt natürlich auch die gesellschaftliche Basis dessen, was Menschen im Kontext ihrer Natur zu tun gedenken. Institutionen schaffen Halt (s. o.): dieses bedeutet, dass die Absprachen der Menschen zu grundlegenden Momenten ihres kulturellen Gewordenseins Halt schaffen, um bestimmte soziale Momente zu generieren und auszuhalten. Die Institution der Religion schafft den Halt anhand spiritueller Ausrichtungen in Kirchen. Die Institution des Gesundheitswesens schafft den Halt des Gesundmachens und Gesunderhaltens in Kliniken. Die Institution der Bildung schafft Schulen, in denen haltgebende Systeme Wissen und Kompetenzen vermitteln, und vieles andere mehr. Selbst die unterschiedlichen kulturellen Orientierungen in der Gesellschaft und über die Gesellschaftshistorie hinaus schaffen Haltsysteme. War es somit in den vergangenen 100 Jahren gang und gäbe, Halt über die und in den jeweiligen Epochen, so z. B. der Klassik, den Barock oder die Romantik zu finden, so ist es heute im Rahmen der Post- oder Postpostmoderne kaum noch möglich, sich an etwas zu halten – außer möglicherweise an der Haltlosigkeit der Systematiken. Was dann bizarrerweise wiederum relativ haltgebend wäre. Die Erfahrung und Erfahrbarkeiten des »everything is possible« scheinen auf diesem Hintergrund tatsächlich als eine weitere Maxime beschrieben werden zu können, welche durch die relative Beliebigkeit eben genau dieser Beliebigkeit Halt geben zu vermögen. Und auf einem weiteren Hintergrund ist jede Gesellschaft tatsächlich dazu gehalten, ihre jeweiligen Prozesse durch gesetzliche Vorgaben und Normierungen in Form zu gießen, so dass auch diese haltgebend wirken. Halt ist demzufolge auf dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Orientierung selbst dann eine Basis, wenn die Grundorientierung sich als sehr desperat und kontingent darstellt. Selbst in der Postmoderne ist also die gesellschaftliche Ausrichtung eines alles ermöglichenden Denkens und Tuns haltgebend. So absonderlich dieses auch erscheinen mag.

Bilanzierend ist somit festzustellen, dass Halt Grundlage, aber auch Ziel einer jeglichen Beziehungsgestaltung und erst recht einer jedweden Pädagogik ist. Wenn eine Pädagogik somit die theoretische Grundlage all dessen ist, was Menschen in Bildungsprozessen und in erzieherischen Prozessen aufgegeben wird, das Ganze dann in erzieherische Handlungen einfließt und umgesetzt werden kann, muss festgestellt werden, dass Halt bzw. die Entstehung von Halt aus einer ganz bestimmten Idee von Handlung heraus zielführend und notwendig ist, um dann pädagogische bzw. erzieherische Kontexte zu generieren. Zusammenfassend ist demgemäß weiterhin festzustellen, dass die Ausgestaltung haltgebender Momente gerade in Bezügen des Aushaltens im hohen Maße zentral erscheint.

Die Skizze dieser kurzen Einordnung des Aushaltens in eine aktuelle wissenschaftliche Diskussion weist damit weit in die Geschichte heilpädagogischer Diskurse, so dass behauptet werden kann, dass die Phänomene des Aushaltens auf dem Hintergrund der Realisation des Inneren und des Äußeren Halts, der Begründung einer Handlungsorientierung durch eine Haltungsorientierung sowie (wie das in dem ersten kleinen Punkt dieser Skizze beschrieben worden ist) die Vollzugsmomente des Halts in unterschiedliche pädagogische Prozesse immer wieder zurückgeführt werden müssen auf eine anthropologische Basisannahme, welche an den Schnittstellen zwischen humanistischer (also entwicklungsorientierter und bildungsorientierter Provenienz) und einer konstruktivistischen sowie ko-konstruktivistischen Entwicklung von Haltungsprozessen angebunden werden können, ja sogar müssen. Das Aushalten in pädagogischen Prozessen ist daher immer eine bilaterale und ko-konstruktive Bedingung und Bedingtheit wechselseitiger Prozesse zwischen allen Beteiligten einer pädagogischen und erzieherischen Handlung. Aushalten bedeutet nun nicht, einen pädagogischen oder interaktiven Stillstand festzuschreiben, weil die Situation mal gerade so schlecht ist oder als solche empfunden wird. Nein: Aushalten ist vielmehr Teil eines anthropologischen und pädagogischen Gesamtkonzeptes, in welchem aus einer ganz bestimmten und konkreten philosophischen und ethischen Haltung Handlungsmomente erwachsen, welche den Halt aller beteiligten Personen differenziert beschreiben können. Dieser Halt bildet nun a priori eine lebendige Klammer sowie ein interaktives Bezugssystem und fordert die Handelnden implizit und explizit dazu auf, die Prozesse des Aushaltens wahrzunehmen, zu reflektieren und immer wieder einmal neu zu justieren.

Aus-Halten als aktive heilpädagogische Intervention

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