Читать книгу Aus-Halten als aktive heilpädagogische Intervention - Heiner Bartelt - Страница 18
Оглавление4 Biographische Notizen
»Ihr sagt:
Der Umgang mit
Menschen mit Behinderung*
ermüdet uns.
Ihr habt recht.
Ihr sagt:
Denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinabsteigen
uns herunterbeugen, kleiner machen.
Ihr irrt Euch.
Nicht das ermüdet Euch,
sondern, dass Ihr Euch hinstrecken müsst, auf die
Zehenspitzen stellen, hin tasten müsst, um nicht zu
verletzen.«
(*im Original »Kinder« nach J. Korczak, Wenn ich wieder klein bin, 1973)
Der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak beschreibt in seinem vor mehr als 100 Jahren erschienenen Buch – mit unveränderter Gültigkeit für die heutige Zeit – sehr zutreffend, welche Anstrengung die Entwicklung einer hingewandten Haltung zu Menschen bedeutet. Ganz besonders gilt dies für Menschen mit Behinderung und noch viel mehr für Menschen mit Behinderung und herausforderndem Verhalten.
Das bedeutet nicht, erwachsenen Menschen mit Behinderung ihr Erwachsensein und die dazu gehörenden Gefühle, Erlebensformen und vor allem Bedürfnisse abzusprechen. Gleichzeitig ist es sehr wichtig, gerade bei Menschen mit Intelligenzminderung und herausfordernden Verhaltensweisen das emotionale Entwicklungsalter oder das »Alter der Gefühle«, wie dies Tanja Sappok (2016) nennt, zu betrachten. Das Wissen um das sozial-emotionale Entwicklungsniveau (vgl. SEO nach Dosen 2018), kann uns in der Praxis helfen, bestimmte Verhaltensweisen oder Reaktionsformen unseres Gegenübers zu verstehen und entwicklungspsychologisch einzuordnen. Hierdurch wächst nicht nur das Verstehen der*des Anderen, sondern es zeigt uns auch Möglichkeiten auf, was wir dem betreffenden Menschen in einer bestimmten Situation – unabhängig von seinem Lebensalter – konfliktmindernd anbieten können.
Die gezeigten Verhaltensweisen und Stereotype verleiten uns oft, ein tieferes Verstehen durch rasches Handeln zu ersetzen und uns nur selten »auf die Zehenspitzen (zu) stellen, um nicht zu verletzen«. Gleichzeitig widerspricht vieles an dem gezeigten Verhalten unseren eigenen Normen und Vorstellungen von Konfliktlösungen oder der Gestaltung sozialer Beziehungen und damit den uns selbst wichtigen Werten, die wir gerade als Pädagog*innen den anvertrauten Menschen vermitteln möchten. Häufig hat dies dann bei uns ambivalente Gefühle von Nähe und Distanz zur Folge. Die betroffenen Menschen aber erleben diese Ambivalenz von Nähe und Distanz in ihrer Lebensgeschichte und tragen sie mit sich, um sie bei jeder neuen Begegnung zu überprüfen. In einer früheren Veröffentlichung habe ich dies ein »Leben zwischen Bauchgurt und Beziehung« (Bartelt 2007) genannt.
Kurz, es geht um die immer wiederkehrende Frage an uns als Begleitende »Hältst Du es mit mir aus, wenn ich mich Dir mit allen meinen Verhaltensweisen zeige?«
»Mit mir hält es niemand aus«
Viele der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit Intelligenzminderung und herausfordernden Verhaltensweisen haben im Laufe ihres Lebens die Erfahrung gemacht, dass sie eben nicht »ausgehalten« werden, dass der so sehr gewünschte Halt durch andere Menschen nicht im notwendigen, eben die »Not wendenden«, also überlebenswichtigen Maße erfahren werde konnte oder nicht mehr als ausreichend erlebt wurde. Das Gefühl der Unsicherheit oder gar Ohnmacht der begleitenden Menschen führt unwillkürlich zur Angst vor mangelndem Halt und verstärkt damit die Muster, die als nicht förderlich erlebt werden und nicht gewünscht sind.
Dies bedeutet dann in der Tat oft den Rückgriff der Umgebung auf immer striktere »Regeln« oder Begrenzungen und endet manchmal in der Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen, bis hin zu verschlossenen Zimmern oder Fixierungen.
Was bedeutet diese Situation ganz konkret für die Lebensgeschichte eines Menschen mit diesem besonderen Betreuungsbedarf?
Ich möchte dazu einige kurze Erfahrungen aus meiner Praxis in den letzten 10 Jahren der Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung anführen, die nicht außergewöhnlich sind, sondern in der Praxis tätigen Menschen bekannt vorkommen werden. Sie sind ebenso in keiner Weise exklusiv für das Erleben von Kindern und Jugendlichen, wie ich aus zahlrechen Beratungen zu erwachsenen Menschen weiß. Diese Beschränkung ist lediglich meinem Arbeitsfeld geschuldet.
Ich spreche von Kindern wie Jenny (vgl. Jenny – die Bedeutung der Erfahrung, »aus-gehalten« zu werden, Kap. 15), die nach der Herausnahme aus ihrer Familie als Kleinkind vier stationäre Einrichtungen durchlaufen hatte, in denen sie jeweils nicht weiter »pädagogisch« gefördert werden konnte, ehe sie in der von mir geleiteten Einrichtung aufgenommen wurde. Selten hat ein junger Mensch mich so angerührt wie diese »herausfordernde« Jugendliche, die neben vielen, vielen Ungewissheiten in ihrem Leben eines ganz sicher erfahren hatte: »Ich bin nicht liebenswert und ich sorge dafür, dass es mit mir niemand aushält!«
Schreiattacken, wüste Beschimpfungen, körperliche Angriffe auf Mitbewohner*innen und Mitarbeiter*innen, Infragestellung aller Regeln, Schulverweigerung und Abbruch in den ersten Tagen positiv verlaufener Praktika und so weiter zogen sich durch die 6 Jahre der Begleitung von Jenny. Im Hintergrund eine überforderte Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ein sehr belastetes Betreuungsteam mit mehreren notwendigen Auszeiten von Bezugsbetreuerinnen bis hin zum Wechsel des Arbeitsplatzes innerhalb und auch außerhalb der Wohneinrichtung als Folge der ständigen Herausforderung und Übergriffe durch die Jugendliche.
Ich spreche von Menschen wie Stefan oder Sahra, die zu ihrem eigenen Schutz und dem Schutz ihrer Mitmenschen die Nacht in ihrem Zimmer eingeschlossen oder gar in ihrem Bett fixiert verbringen mussten und so umfassend eingeschränkt, isoliert und fremdbestimmt waren. Erst seit 2017 hat der Gesetzgeber eine verbindliche Regelung für den Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen (FEM) bei Kindern und Jugendlichen verabschiedet, die immer eine richterliche Genehmigung vorsieht (§ 1631b Absatz 2 BGB). Bis dahin war es den Sorgeberechtigten freigestellt, die Entscheidung über eine Fixierung oder andere freiheitsentziehende Maßnahme für ihr Kind zu treffen bzw. reichte ihre Zustimmung aus, um solche Maßnahmen in der Praxis anwenden zu dürfen.
Welche Gefühle von völliger Fremdbestimmung und Ausgeliefertsein solche freiheitsentziehenden Maßnahmen beim betroffenen Menschen hervorrufen, welche Auswirkungen sie auf die Entwicklung von Ängsten und Traumata haben und wie diese wiederum zur Verstärkung von im Wortsinn »not-wendigen« Mustern und Stereotypien führen, ist unschwer vorstellbar.
Ich spreche von Menschen wie Marleen, Dorothee, Asim oder Jannis. Alle lernte ich in den letzten Jahren kennen, und auch deren Eltern, die um die Aufnahme ihrer Kinder anfragten. Hintergrund dieser Aufnahmeanfragen war die völlige Erschöpfung der beteiligten Familienmitglieder, insbesondere der Mütter. Nachdem die zuständigen Schulen und Schulämter ein »Ruhen der Schulpflicht« oder eine Reduzierung der täglichen Unterrichtszeit auf 45–90 Minuten (ein wesentlich »einfacheres« Verfahren und allein in der Entscheidung der zuständigen Schule liegend) angeordnet hatten, betrug der Betreuungsauftrag der Eltern beinahe 24 Stunden täglich, ohne eine Perspektive hinsichtlich der Dauer dieser Maßnahme. Die allg. Schulordnung (etwa § 53 SchulG NRW) sieht selbst beim Schulausschluss als erzieherische Maßnahme nach grobem Fehlverhalten eines*r Schüler*in eine Befristung auf maximal 2 Wochen vor.
Bei der durch die Schule festsetzbaren Teilzeitbeschulung von Schüler*innen gibt es hingegen keine zeitliche Begrenzung oder Überprüfung der Maßnahme. In der Praxis wird sie daher immer wieder bei besonderen, überwiegend herausfordernden Verhaltensweisen angewendet.
Während zur Frage der Unverzichtbarkeit von Förderschulen auch angesichts fortschreitender inklusiver Beschulung intensiv geforscht und diskutiertwird, nehmen wir nicht wahr, dass es weiterhin Kinder und Jugendliche gibt, die die Voraussetzungen zur Teilnahme am Unterricht einer Förderschule auch mit individueller Schulassistenz scheinbar nicht erfüllen, so dass ihre Beschulung in Frage gestellt wird.
Diese Exklusion führt bei den betroffenen Familien dazu, dass die Tochter oder der Sohn nun (fast) 24 Stunden täglich in der Familie verbringt. In vielen Fällen führt dies zu einer solchen Überlastung der Eltern und Geschwister, dass die Familie keinen anderen Weg als eine stationäre Aufnahme für ihr Kind sieht, auch wenn dies zu einer nächsten Krise innerhalb der betroffenen Familie führt, die mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen der Eltern einhergehen. Nicht selten wird den Eltern von Seiten der bisherigen Schule oder anderen Fachleuten eine »Heimaufnahme« empfohlen.
Ein solcher Schritt, eine Art zweites Scheitern des Familienentwurfes, zunächst durch die Feststellung der Behinderung des Kindes und nun durch das Scheitern der Betreuung und Sorge für das eigene Kind, wäre dabei nicht notwendig, wenn das Angebot der Schulbildung grundsätzlich und immer als ein unverrückbares Recht bestehen würde und so die Entwicklung entsprechender Beschulungskonzepte in jedem Einzelfall zwingend würde.
Die Eltern der 10-jährigen Marleen mussten sich – trotz Schulassistenz für ihre Tochter – bereit erklären, ihre Tochter jederzeit umgehend aus der Schule abzuholen, um die Voraussetzungen zu weiterer Beschulung zu erfüllen. Entsprechend mussten sie Vereinbarungen mit ihren Arbeitgebern treffen, dass sie je nach Situation ihren Arbeitsplatz verlassen konnten, um die Betreuung ihrer Tochter für den Rest des Tages zu übernehmen. Verbunden war dies mit dem Hinweis der Lehrer*innen, nun aber mit Marleen nichts »Schönes« zu unternehmen, um sie nicht noch zu belohnen.
Die Eltern von Dorothee, Asim und Jannis erfuhren, dass ihre Tochter, ihr Sohn ab sofort keine Schule mehr besuchen würde. Jannis wurde in unsere Einrichtung aufgenommen. Die Nähe zum Wohnort der Familie ermöglichte weiterhin einen Kontakt. Wöchentlich war sogar ein (begleiteter) Besuch bei der in einer Nachbarstadt wohnenden Familie möglich. Die auch bei uns sehr herausfordernde Betreuung machte auch hier den Einsatz einer zusätzlichen Mitarbeiterin unverzichtbar, die sich immer wieder neu auf Jannis einließ.
Nach zwei Jahren sehr anstrengender, aber erfolgreicher Begleitung von Jannis stellte der Kostenträger die Finanzierung der Zusatzkraft ein. Er hatte eine andere Einrichtung gefunden, die bereit war, Jannis ohne diese Zusatzkosten aufzunehmen. Die Einrichtung liegt allerdings ca. 200 km vom Wohnort der Familie entfernt. Nicht lange nach dem Wechsel brach der Kontakt von Jannis zu seiner Familie ab.
Gewiss, ich spreche bei meinen Erfahrungen überwiegend von Menschen, die in Wohnheimen leben. Diese haben, je früher ihre stationäre Biographie begann, umso mehr eine sehr tiefgreifende Erfahrung des »Nicht-mehr-ausgehalten-Werdens« gemacht, die schließlich dazu führte, dass ihre Familien sich nicht weiter in der Lage sahen, das eigene Familienmitglied zuhause zu begleiten.
Im nun erlebten »professionellen« Umfeld setzen sich »Haltverluste« im Sinne einer Unterbrechung gelungener Kommunikation mit der Umwelt fort und führen zum Rückgriff auf Lösungsmuster, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Stereotypien, die – gerade, wenn sie selbstverletzender oder fremdaggressiver Natur sind – zu weiteren Kommunikationsproblemen mit der Umwelt führen.
So entwickelt sich ein Teufelskreis, der, je länger dieses Erleben erfolgt, zu immer stärkerer Ritualisierung, bis hin zum scheinbar regelrechten Einfordern von Begrenzungen und Sanktionen durch den betroffenen Menschen auf der einen Seite – und einem Gefühl immer größerer Ohnmacht und pädagogischer Wirkungslosigkeit auf der anderen Seite führt.
Begleitet wird dieser Prozess der »Entfremdung« dadurch, dass zunehmend Botschaften des Interesses am Gegenüber ausbleiben. An ihre Stelle treten eher Routine, Resignation und Ratlosigkeit bei der*dem Professionellen und die Anwendung von »Regeln« und »Geboten« und eben das »Verharren« in stereotypen Verhaltensweisen beim betroffenen Menschen.
(Heil-)pädagogische Interventionen kommen dann immer seltener oder gar nicht mehr zur Anwendung. An ihre Stelle tritt eine täglich neu erlebte Sprachlosigkeit zwischen beiden Seiten. Der betroffene Mensch wird dies möglicherweise als weitere Bestätigung seiner Selbstwahrnehmung im Sinne von »Mit mir hält es niemand aus« oder gar »Ich bin nicht liebenswert« werten.