Читать книгу Aus-Halten als aktive heilpädagogische Intervention - Heiner Bartelt - Страница 6

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1 Einleitung

Dieses Buch will Lust auf die professionelle Begleitung von Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf machen. Es will ermutigen, sich diesen Menschen und ihren Verhaltensweisen, die manchmal »schwer auszuhalten« sind, zuzuwenden und ihnen ein Beziehungsangebot zu machen, das vorbehaltlos gilt, unabhängig von sogenannten »Entwicklungsfortschritten« oder Krisen.

Dieses Buch möchte ein Plädoyer für die Stärkung von Demut (Mall 2003) gegenüber Menschen sein, die unsere professionelle Begleitung und Unterstützung in fast allen ihren Lebensbereichen benötigen und gleichzeitig oft hartnäckig an ihren erlernten Verhaltensmustern festhalten. Ich spreche von Menschen mit einer geistigen Behinderung und stereotypen Bewältigungsmustern, die sich häufig fremdaggressiv oder selbstverletzend äußern. Ich spreche von Menschen, deren besonderer Begleitungsbedarf eine Teilhabe und Partizipation erschwert und sie so aus dem Blickfeld der Inklusionsdiskussion geraten lässt. Diese Gruppe von Menschen ist und war nicht gemeint, wenn es in der bisherigen und aktuellen (heil-)pädagogischen Diskussion um Teilhabe und Partizipation ging bzw. geht.

Während in den zurückliegenden Jahren immer mehr Menschen mit einer Intelligenzminderung selbstbestimmte Wohnangebote, Arbeits- und Lernfelder nutzen, ihre Interessen und Forderungen selbst vertreten, Publikationen in leichter Sprache Selbstverständlichkeit werden, wächst gleichzeitig die Zahl der ausgrenzenden Betreuungsangebote und damit scheinbar auch die Zahl von Menschen, die nicht inklusionsfähig erscheinen.

Die Menschen, um die es mir in diesem Buch geht und die ich, soweit dies annähernd möglich ist, auch selbst zu Wort kommen lassen möchte – in den vorgestellten Lebensgeschichten und Interviews –, verbindet, dass sie alle auf eine »haltende Umwelt«* angewiesen sind. Dabei ist es manchmal bereits schwer, das erlebte Verhalten als »Suche nach Halt« zu erkennen. Noch schwieriger ist es, ein haltgebendes Angebot machen zu können und dabei gleichzeitig die Autonomie der*des Betroffene*n zu achten.

Das hört sich sehr herausfordernd an und ist es spannenderweise auch. Aber es ist möglich und manchmal vor allem sehr befreiend, nicht nur für die*den betroffenen Menschen, sondern auch für mich als professionelle*n Begleiter*in.

Der Weg dahin gelingt nicht über einen neuen therapeutischen Ansatz oder eine (heil-)pädagogische Methode. Sondern vielmehr über die Entwicklung einer Haltung der »Demut«, mit der ich meinem Gegenüber begegne, in dem ich mir Zeit nehme, innehalte, hinhöre, ohne bereits Antworten zu kennen. Haim Omer (2007) schreibt: »… es gibt keinen privilegierten Einblick in die Erfahrungswelt eines Anderen.« Es ist hilfreich, sich diese Wahrheit immer wieder einmal ins Gedächtnis zu rufen, gerade wenn man viele Jahre Erfahrung in der Begleitung von Menschen mit Intelligenzminderung und herausfordernden Verhaltensweisen hat. Es gibt mir die Chance, meine Wahrnehmung immer wieder zu erweitern und Gewissheiten gegenüber eine »heilpädagogische Skepsis« (Häussler) zu behalten, die mir ein offenes Hinhören und Hinschauen ermöglicht. Meinem Gegenüber gibt es die Möglichkeit, sich nicht gleich wieder im Korsett von Diagnosen, Zuschreibungen und Reduzierungen auf ihre*seine Störungen zu erleben. Daraus kann sich eine gute Grundlage für tatsächliche Begegnungen entwickeln, nicht immer, aber immer wieder.

Versuch einer Positionierung

Ich blicke auf etwas mehr als 40 Jahre der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung und herausfordernden Verhaltensweisen zurück. Ich habe mich in dieser Zeit stets als »theoriegeleiteten Praktiker« erlebt, der in dieser Zeit viele Projekte mit der Hilfe engagierter Mitarbeiter*innen umsetzen und sie hinsichtlich ihrer heilenden Wirksamkeit durch die (non-)verbalen Rückmeldungen der begleiteten Menschen überprüfen konnte.

Der Weg in all den Jahren war alles andere als direkt, es gab Sackgassen und Vollsperrungen, unnötige Umwege und Umleitungen, die wieder am Ausgangsort endeten. Was ich aber als ganz großen Gewinn und dankbare Erfahrung aus der Begleitung vieler Menschen mitgenommen habe, sind vor allem diese beiden Erkenntnisse:

Die Orientierung an der leitenden Frage »Was braucht mein Gegenüber«?

»Was braucht sie/er ?« ist gewissermaßen das Ergebnis aus der unterstützungsorientierten Frage nach dem »Was kann sie/er nicht?«, dem ressourcenorientierten »Was kann sie/er?« und drittens der in der aktuellen Teilhabediskussion scheinbar leitenden Frage nach dem bedürfnisorientierten »Was möchte sie/er?«. Die aus dieser vierten Frage entstehende Haltung nach dem »Brauchen« nutzt (wichtige) diagnostische Erkenntnisse an Unterstützungsbedarf und Ressourcen gewissermaßen als Basis, um die Wahrnehmung teilhabebestimmter Bedürfnisse zu ermöglichen. Die Antwort auf die Frage nach dem »Brauchen« ist das Angebot einer »haltgebenden Pädagogik«, deren Handeln sinnstiftend ist.

Die tiefe Überzeugung von der Wirksamkeit (heil-)pädagogischen Handelns

Mir scheinen bei der professionellen Begleitung von Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen immer wieder starke Zweifel an der Wirksamkeit des eigenen Handelns zu entstehen. Gerade die Frage der eigenen (heil-)pädagogischen Wirksamkeit wird dabei fast stereotyp (welch interessante Parallele zur Konfliktverarbeitung bei den begleiteten Menschen) mit »Entwicklungserfolgen« gleichgesetzt. Bleiben solche beobachtbaren Erfolge aus, entsteht häufig ein Gefühl der Ohnmacht oder gar Resignation in Bezug auf das eigene professionelle Handwerkszeug und dem daraus resultierenden Handeln als kaum oder wenig wirksam.

Das Gefühl, den betroffenen Menschen und ihrem Verhalten gleichsam »ausgesetzt« zu sein, es irgendwie mit ihnen »aushalten« zu müssen, kann letztlich solche resignativen Haltungen bis hin zum (inneren oder äußeren) Rückzug aus dem Begleitungsauftrag verstärken.

Stattdessen wird beim »Ausbleiben« von »Entwicklungserfolgen« der Ruf nach begleitenden Disziplinen, wie der psychiatrischen, pharmakologischen oder psychologischen Kompetenz, nicht als Ergänzung oder Unterstützung des eigenen Handelns, sondern als Ersatz für das eigene, vermeintlich vergebliche Tun laut. Viele meiner Beratungen mit professionellen pädagogischen Teams beginnen mit dem Eingangsstatement:

»Mit ihr*ihm haben wir schon Alles ausprobiert. Nichts hilft. Wir sind hier auch nicht die richtige Einrichtung für jemande*n wie sie*ihn.«

Mit diesem Buch möchte ich den Begriff des »Aus-Haltens« in der Heilpädagogik von seiner negativen Besetzung als »Erdulden«, »Erleiden« oder »Überstehen einer unangenehmen Situation« befreien und – natürlich gerade in Bezug auf den oben geschilderten Personenkreis – eine völlig veränderte, neue inhaltliche Sichtweise anbieten. »Aus-Halten« in diesem Sinne kann dann zu einer aktiven Intervention werden, die sinnstiftend für meine Beziehung zu meinem Gegenüber wirken kann.

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil versteht sich als eine erfahrungsbasierte Situationsanalyse aus der Praxis. Ich beschreibe den Alltag von Menschen mit Intelligenzminderung und besonderen Verhaltensweisen, der in vielen Lebensbereichen von mangelndem Halt und daraus folgender »Haltlosigkeit« geprägt ist. Im zweiten Teil stelle ich dieser Analyse ein Praxiskonzept haltgebender Pädagogik bzw. »haltgebenden Verstehens« gegenüber, das auf dem Gedanken des »Aus-Haltens« basiert. Im dritten Teil schildere ich einige Begegnungen mit betroffenen Menschen und ein konkretes Konzept »innerer Inklusion«, das versucht, diesen Menschen und ihren Bedürfnissen gerechter zu werden. Der dritte Teil endet mit drei Interviews, in denen zwei (heil-)pädagogische Fachkräfte und zwei betroffene Menschen selbst zu Wort kommen.

Aus-Halten als aktive heilpädagogische Intervention

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