Читать книгу Aus-Halten als aktive heilpädagogische Intervention - Heiner Bartelt - Страница 19
Оглавление5 Grundannahmen
Meinen Überlegungen lege ich drei Annahmen zugrunde, von deren Gültigkeit für jeden Menschen ich ausgehe. So selbstverständlich diese Annahmen uns auch erscheinen mögen – bei der Wahrnehmung von Menschen mit Intelligenzminderung werden sie immer wieder vergessen oder ignoriert. Auch wenn das unseren Grundsätzen und Überzeugungen zuwiderläuft, sind wir in der Praxis immer wieder in der Gefahr, den betroffenen Menschen im Alltag als eine Person zu erleben, für die*den diese (und andere) Annahmen und Grundsätze zum Menschsein nicht oder nur eingeschränkt zu gelten scheinen. Deshalb ist es mir wichtig, diese Grundannahmen noch einmal in Erinnerung zu rufen.
Jeder Mensch ist auf Beziehung hin angelegt
Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch auf Beziehung hin angelegt ist. Der Philosoph Martin Buber (1995) beschreibt dies mit dem wunderschönen Satz, dass »der Mensch am Du zum Ich« wird.
Wenn dieser Satz zutrifft, dann gibt es keine Menschen, die kein Interesse an Beziehung oder Bindung hätten, weil die Auseinandersetzung mit dem Gegenüber etwas ist, was den Menschen ausmacht. Dies bedeutet, dass etwa auch Menschen mit Störungen im Bereich des Autismus-Spektrums am Anderen Interesse haben. Vielleicht ist es ihnen nicht immer möglich, dies Interesse aktiv deutlich zu machen, so wie es uns nicht immer möglich ist, dieses Interesse zu verstehen. Vielleicht sind Unsicherheit oder Ängste ursächlich dafür, dass scheinbar kein Interesse an anderen Menschen besteht oder von uns wahrgenommen werden kann.
Wenn die Annahme von Martin Buber aber zutreffend ist, dann bin ich in der Tat grundsätzlich und immer in der Lage, pädagogisch wirkungsvoll zu handeln, und dann gilt die Wirksamkeit eben ohne Ausnahme, gerade auch bei Menschen mit sehr komplexen Behinderungen oder starken herausfordernden Verhaltensweisen.
Die Herausforderung für mich besteht dann darin, meine Wirksamkeit wahrzunehmen und darauf vertrauend zu handeln.
Jeder Mensch ist entwicklungsfähig
Ähnliches gilt für die zweite Annahme, dass jeder Mensch entwicklungsfähig ist. Was damit gemeint ist, wird verstehbar, wenn ich mich von der Vorstellung von »Entwicklung« als Ausdruck eines »Mehr« an Fertigkeiten oder Fähigkeiten löse und stattdessen Entwicklung als Aneignung von Welt verstehe. Das bedeutet, die Fähigkeit, mit der Welt in Austausch zu treten, ist nicht an einen bestimmten Entwicklungsstand gebunden und ist somit ebenso Menschen mit sehr schweren Beeinträchtigungen, aber auch dementiell Erkrankten möglich. Entwicklung ist gleichsam ein Synonym für die Aneignung von Welt. Diese Annahme hilft wesentlich, den (heil-)pädagogischen Blickwinkel über einen Zuwachs an Fertigkeiten, Fähigkeiten oder Lösungsalternativen hinaus zu erweitern und auch die bestehenden Kommunikationsmöglichkeiten bewusst wahrzunehmen.
Jeder Mensch bestimmt das Tempo seiner Entwicklung selbst
Und schließlich besagt die dritte Grundannahme, »Jeder Mensch bestimmt das Tempo seiner Entwicklung selbst«, das ich als Begleiter*in Prozesse anstoßen, aber nicht erzwingen kann. Dies ist auch eine Entlastung für die*den Begleitenden und nimmt ihm*ihr den Druck, Entwicklung in einem definierten Zeitfenster zu realisieren. Dies trägt zur Entschleunigung bei und ist damit gerade für die Begleitung von Menschen mit herausfordernden Verhaltensweisen eine förderliche pädagogische, aber ebenso therapeutische, Grundlage.
In der Praxis gibt es mir die Möglichkeit, meinen Blick nicht immer nur auf den »nächsten Schritt« zu richten, sondern im Moment zu verweilen. Teilhabepläne werden damit nicht auf die Zielformulierungen reduziert, die häufig ein »Fehlen« implizieren, einen nächsten notwendigen Schritt oder eine (noch) nicht genügend gestärkte Ressource. Vielmehr ermöglicht mir die Gewissheit und das Zutrauen, dass der begleitete Mensch das Tempo ihrer*seiner Entwicklung selbst bestimmt, ihr*ihm tatsächlich auf Augenhöhe zu begegnen.
In der Konsequenz heißt dies, den Menschen in seinem Sosein anzunehmen und ihm gleichwohl immer wieder »neue Wege« anzubieten, ähnlich, wie dies der Therapie bei »borderline-Störungen« zugrunde liegt. Ob der betroffene Mensch diese neuen Wege annehmen kann, liegt wesentlich bei ihm. Dies bedeutet kein Verharren im »Hier und Jetzt« und den Verzicht auf jeden entwicklungsfördernden Impuls; damit wird vielmehr eine Art »Anregungsberechtigung« begründet, die auf der Entwicklung einer verlässlichen Beziehung basiert. Und eben zu dieser verlässlichen Beziehungsgestaltung kann bei den von mir beschriebenen Menschen das »Aus-Halten« einen wichtigen Beitrag leisten.
Zu diesen drei so selbstverständlichen Grundannahmen kommt noch ein weiterer grundlegender Aspekt (heil-)pädagogischen Handelns. Die unbedingte Achtung der Würde der*des Anderen, ihrer*seiner Selbstbestimmung und ihrer*seiner Autonomie.
Selbstbestimmung und Autonomie
Offenheit bei der Wahrnehmung meines Gegenübers ermöglicht es mir, dem begleiteten Menschen stets Raum zur Selbstbestimmung zu geben und somit seine Autonomie zu stärken. Gerade bei Menschen mit Intelligenzminderung sind herausfordernde Verhaltensweisen oft Ausdruck eines Autonomiewunsches, der von ihrer Umwelt miss- oder gar nicht verstanden wird. Wir wissen, dass etwa das Schmieren mit Kot oder das »Ruminieren« bei Menschen mit starker kognitiver Einschränkung sehr häufig Hinweise darauf sind, dass sie sich als »wirkungslos« in dieser Welt erleben. Als Reaktion der Umwelt auf die gezeigten »schwierigen« Verhaltensweisen folgt dann häufig eine noch stärkere Fremdbestimmung durch pädagogische Maßnahmen oder Begrenzungen, ohne gleichzeitig Möglichkeiten des Erlebens eigener Autonomie anzubieten.
Die unbedingte Achtung der Autonomie der Persönlichkeit und der Ausdrucksmöglichkeiten meines Gegenübers stellt eine der unverzichtbaren Grundlagen des »Aus-Haltens« dar. Sie realisiert sich in der konkreten Begegnung und bedarf immer wieder aufs Neue der Selbstreflexion. Das ist eine anstrengende Herausforderung für die*den Begleiter*in und stellt immer auch eine Gradwanderung zwischen Begleitungsauftrag und Raum zur Exploration dar. Es beginnt mit dem Verzicht auf eine vorwegnehmende Bewertung von Situationen und Interaktionen (»Ich weiß schon, was gut für Dich ist«), führt über die grundsätzliche Bewertung der jeweiligen Äußerungsform (nicht nur sprachlicher Art) als authentische Aussage dieses Menschen und reicht bis zur Akzeptanz, dass mein Verstehen eines anderen Menschen immer begrenzt ist (Dederich 2006, S. 105) und es außerhalb meines Einflusses liegende Bedingungsfaktoren einer Situation gibt (Pörtner, 1999; Mall, 2003).
In der Praxis gelingt es nicht immer, diesem hohen Anspruch gerecht zu werden. Gerade deshalb ist die Pflege einer fragenden Haltung, einer grundsätzlichen Skepsis meinen Erfahrungen und Kompetenzen gegenüber so wichtig. Vor allem setzt dies aber die Bereitschaft voraus, mich meinem Gegenüber zuzuwenden, hinzuhören und zu verstehen zu suchen, ehe ich Interventionen ansetze oder Maßnahmen einleite.
Winfried Mall (2003) hat diese Haltung mit »Ethos der Demut« beschrieben. Demut in diesem Sinn verzichtet auf Schuldzuweisungen (auch dem »System«, »Verantwortlichen, »der Gesellschaft« gegenüber), ohne »tragische« Situationen zu leugnen, aber mit der Bereitschaft, diese auch auszuhalten, wenn sich scheinbar keine Lösung abzeichnet.
Demut bemüht sich um Echtheit und Kongruenz von Verhalten und Gefühl, einschließlich der eigenen Erfahrungen wie Versagen, Wahrnehmen eigener Grenzen, von Leid oder Trauer und bekennt sich auch für mein Gegenüber wahrnehmbar dazu. Schließlich ist Demut kritikfähig und lernbereit, stellt ihre Überlegungen zur Diskussion und widersteht somit der Versuchung ein »allerklärendes und -gültiges« Konzept gefunden zu haben.