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Einführung: Bewegungen des Geistes und Erstarrungen des Lebens
ОглавлениеEigentlich fing der Tag ganz normal an. Im Sommer wache ich immer sehr zeitig auf. Heute verdecken allerdings dicke Wolken die morgendliche Sonne. So sitze ich in meinem schönen Schreibtischsessel und schaue aus dem Fenster meines Arbeitszimmers auf das Wolkenspiel am Himmel. „Herr, wie viele Wolken verdecken deine Herrlichkeit, dein wunderbares Licht!“ Es sind keine klagenden und schon gar nicht anklagende Worte, die da spontan über meine Lippen kommen. Nein, es ist eher eine nüchterne Feststellung, die ich meinem Gott mitteilen will; so, als sei es das Normalste von der Welt.
Dabei denke ich zunächst an mich selbst. Wie oft will ich selbst in einem guten Licht dastehen. Die eigenen Scheinwerfer jedoch verdunkeln wie dicke Wolken das wahre Licht Gottes. Da sind meine eitlen Versuche, es möglichst vielen Menschen recht zu machen; da sind meine Gedanken und Ideen, die allzu oft aus mir herauspurzeln und zu unsortierter Sehnsucht werden. Damit setze ich mich und andere unter Druck und verliere dabei die Freude und die Kraft des Heiligen Geistes. Diese Gedanken des Mangels und der Ohnmacht lassen es an diesem wolkenverhangenen Morgen immer dunkler werden in mir. Vor meinen Augen verschließen die Wolken das Sonnenlicht, die Herrlichkeit. Es ist, als ob sich vor mir ein schwerer, grauer Vorhang schließt.
Wie große, dunkle, dreckige Steine legen sich die Gedanken schwer auf mein Gemüt und meine Seele. Und sie werden noch lästiger, als ich anfange, mir die Situation der Gemeinden in unserem Land vor Augen zu führen – so oft sind sie so ohnmächtig. Da sind die erdrückenden Statistiken über die Mitgliederbewegungen in so vielen Kirchen und Gemeinden unseres Landes. Gleichzeitig sind da die blassen Erfolge einer christlichen Minderheit, die geradezu pausbäckig behauptet, sie sei doch das „Licht der Welt“ und das „Salz der Erde“. Nun, wie könnte man hier widersprechen, zumal bei diesen Aussagen ja der Herr selbst zitiert wird. Aber wo ist diese Leuchtkraft, diese Salzkraft nur geblieben? Warum diese vielen düsteren Fakten am Gemeindehimmel? Darf ich überhaupt so fragen?
Ich versinke in den Erinnerungen an anscheinend bessere Tage. Diese Erinnerungen machen es in mir nicht heller, sondern sie verstärken die Last und den Schmerz über die gegenwärtige Dunkelheit. Und dennoch gebe ich meinen Gedanken freien Lauf.
Als Jugendlicher stand ich noch mit meiner Gitarre auf der Straße und sang die neuen Jesus-Lieder. Es herrschte Aufbruchsstimmung im Land. So habe ich es jedenfalls damals empfunden. Die Jesus-People-Bewegung1 hatte damals auch einige Jugendgruppen in Deutschland erfasst. Schon als Teenager war ich in der kleinen baptistischen Gemeinde im niedersächsischen Bückeburg mit der charismatischen Bewegung in Verbindung gekommen. In Gebetskreisen lobten wir den Herrn in Sprachen, die der Geist uns eingab. Wir sangen neue, geistgewirkte Melodien und Lieder. Wir empfingen prophetische Eindrücke. Die ganze Palette der Geistesgaben brach unter uns auf. Zudem war da dieser brennende Hunger und Durst nach Leben, nach einem Leben aus Gott. Schon bald suchten wir den Kontakt zu anderen Jugendlichen, die ähnliche Erfahrungen machten. Ich lernte junge Christen aus anderen Konfessionsfamilien kennen: Lutheraner, Reformierte, Katholiken, Methodisten, Pfingstler und orthodoxe Christen. Sie waren ebenfalls vom Geist Gottes neu ergriffen. Wir verabredeten uns zu missionarisch-evangelistischen Aktionen im In-und Ausland. Damals nannten wir es „Preach-in“ oder „Sing & Pray“ oder „Outreach“. Das klang irgendwie origineller als die Begriffe „Zeugnisversammlung“, „Lob-Gottesdienst“ oder „Evangelisation“. Viele junge Menschen fanden damals Anfang der 70er-Jahre zu einem lebendigen Glauben an Jesus Christus. Ach, diese Tage waren so stark von einem Geist der Kraft und der Vision für eine neue, von Gott geprägte Welt beseelt! Da waren keine dunklen Wolken, die uns bedrückten! Ich erinnere mich, dass ich manchmal vor lauter Freude nicht einschlafen konnte.
Schon bald formierten sich die charismatischen Aufbrüche im Land immer mehr. Seit 1972 war ich regelmäßiger Teilnehmer der Tagungen auf Schloss Craheim,2 einem ökumenischen Lebenszentrum in Unterfranken. Dort empfingen wir gute Impulse von internationalen charismatischen Leitern wie Rodman Williams, David du Plessis, Graham Pulkingham, Michael Harper oder Peter Hocken. Wir wurden vom „Fisherfolk“ aus England in die neue Art der Anbetungsgesänge eingeführt, die sich dann in Deutschland als Chorusse durchsetzten. In meiner Konfessionsfamilie, im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, wurde bereits 1975 der Arbeitskreis „Charisma & Gemeinde“ gegründet. Von Anfang an war ich im Mitarbeiterkreis dabei und auch später viele Jahre in der Leitung. Wir erlebten wunderbare Tagungen und Konferenzen, zum Teil auch gemeinsam mit den charismatischen Bewegungen aus den anderen Konfessionen3. Würde es zu einer wirklichen Erneuerung der Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften im Land kommen?
Die Pfingstbewegung hatte sich in Deutschland nur sehr zögerlich entwickelt, nicht zu vergleichen mit dem rasanten Wachstum in anderen Ländern. Die Hoffnung der charismatischen Bewegungen konzentrierte sich zunächst auf die Erneuerung der einzelnen Person. Wir veranstalteten Tagungen zum Thema „Wie empfange ich den Heiligen Geist?“ oder zu Fragen der christlichen Nachfolge und besonders auch zu den verschiedenen Charismen. Die Rede von der bevorstehenden Erweckung und einer neuen Ausgießung des Heiligen Geistes beflügelte uns immer wieder neu. Bei ungezählten kleinen Tagungen und größeren Konferenzen erlebten wir das Wirken des Geistes in einem außergewöhnlichen Maß4. Menschen wurden spontan von körperlichen und seelischen Nöten geheilt. Wir erfuhren Befreiung und innere Heilung. Das ermutigte uns, Großes von Gott zu erwarten. Es sollte doch wieder so zugehen wie in den Tagen des NT! Jesus Christus hat doch auch heute noch die gleiche Autorität, oder?
Schon sehr bald kam es zu Spannungen in den bestehenden Kirchen und Gemeinden, denn nicht alle Mitchristen konnten sich über diese „Charismatiker“ freuen. Sie fragten, ob deren Lehre und Leben denn überhaupt biblisch sei und ob die Gaben des Heiligen Geistes denn heute noch so wirksam sein könnten, da wir im Kanon der von Gottes Geist gegebenen biblischen Schriften ja das Maß aller Dinge hätten. Böse Worte und verhärtete, unbelehrbare Herzen prallten da aufeinander – von beiden Seiten. Hunderte, ja Tausende verließen ihr altes Gemeindeschiff und gründeten neue Christliche Zentren oder unabhängige charismatische Gemeinden, die wie ein schnelles Motorboot auch schon bald viel Fahrt aufnahmen. In den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben sich in Deutschland nach meiner Einschätzung etwa 850 dieser neuen charismatischen Gruppen und Gemeinden gebildet. Heute sind viele von ihnen im D-Netz zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen. Die meisten dieser neuen charismatisch geprägten Gemeinden haben allerdings die Grundformen der traditionellen Kirchen und Gemeinden übernommen: Auch sie treffen sich in großen Räumlichkeiten und pflegen eine starke Veranstaltungsorientierung. Sie haben Leitungsstrukturen, die mit ihrer Straffheit teilweise noch das Papsttum in den Schatten stellen. Sie geben dem Lobpreis, dem Singen von Anbetungsliedern, in den Veranstaltungen einen großen Raum. Der Musikstil ist vielfach einseitig auf neues Liedgut ausgerichtet. Die Charismen, besonders die Gaben der Offenbarung, werden gefördert; andere Geistesgaben sind zwar erwünscht, prägen aber das Gemeindeleben in der Regel nur geringfügig5.
Schon bald kam es auch hier zu Erstarrungen und zu notvollen Erfahrungen. Es zogen dunkle Wolken auf. Mitglieder aus den charismatisch geprägten Gemeindegruppen klagten zunehmend über geistlichen Missbrauch. Nicht wenige trennten sich wieder von ihrer neuen geistlichen Heimat. Einige fanden zurück in die „alten“ Kirchen und entschieden sich für eine softe Version des Geisteswirkens. Die Offenheit für die Charismen und das Wirken des Heiligen Geistes wurde zwar noch postuliert, aber in kleine Zirkel, Gebetsgruppen oder Sonderveranstaltungen verbannt. Einige nahmen die Sicht des amerikanischen Theologen C. Peter Wagner auf, der von einer „Dritten Welle“ der charismatischen Bewegung sprach6. In dieser dritten Welle spielt die Redeweise von der „Taufe im Heiligen Geist“ oder auch die Bedeutung der Gabe der Glossolalie (Sprachenrede) keine herausragende Rolle mehr, ja, sie wird zum Teil sogar aus Rücksichtnahme bewusst gemieden. Ob daraus aber nun wirklich eine „Welle“ geworden ist, kann ich nicht beurteilen. Zudem finde ich den „Wellen-Gedanken“ auch etwas befremdlich. Muss ich denn davon ausgehen, dass der Geist Gottes immer versucht, in neuen Wellen, mit neuen Akzenten Bewegung in eine erstarrte Christenheit zu bringen?
Die Fragen nach dem, was der Geist Gottes gegenwärtig tut oder bewegen will, trieb mich und andere charismatisch geprägte Leiter in ungezählten Zusammenkünften um. Angeregt durch die Berichte aus der argentinischen Erweckung, nahmen wir die Impulse zu einer „geistlichen Kampfführung“7 auf. Carlos Annacondia oder Ed Miller waren gern gesehene Gäste bei deutschen charismatisch geprägten Zusammenkünften. Dennoch war das Urteil über diese Art des Betens und inneren Kämpfens nicht ungeteilt. Wolfram Kopfermann, der langjährige Leiter der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung in der Evangelischen Kirche, distanzierte sich von einer derartigen Machtanmaßung „ohne Auftrag“8. Ich selbst habe mich wenige Jahre später dazu ebenfalls differenziert in meinem Buch „Und wenn die Welt voll Teufel wär …“9 geäußert. Anfang der 90er-Jahre schien der Heilige Geist einen neuen Segen für die kämpfende charismatische Bewegung bereit zu halten. Die Toronto Airport Christian Fellowship, eine pfingstlich geprägte Freikirche in der Nähe des Flughafens der kanadischen Stadt Toronto, erlebte seit 1994 eine besondere Ausgießung des Heiligen Geistes, die von starken Manifestationen begleitet war. Die ekstatischen Erfahrungen wie etwa das nach einer Segnung erfolgte Umfallen, auch als „Ruhen im Geist“ bezeichnet, euphorisches Lachen, Weinen oder Schreien, Zittern und Schütteln oder außergewöhnliche Laute unterschiedlichster Art wurden als eine besondere Salbung des Geistes gedeutet und als „Toronto-Segen“10 bekannt. Menschen hatten sich offenbar nicht mehr unter Kontrolle. Es machte mich neugierig, was der Geist Gottes wohl hier für einen neuen Akzent setzen wollte. Im Herbst 1994 flog ich nach Toronto, um mir dieses Wirken anzuschauen. Ich war ja vieles schon gewohnt, doch was ich dann dort erlebte, faszinierte mich zum einen und es stieß mich zum anderen auch irgendwie ab. Ich hatte den Eindruck, dass sich hier zum Teil auch ganz bewusst angeleitete Prozesse der gemeinsam gewollten Ekstase vollzogen, die jedoch nicht alle eindeutig vom Geist Gottes initiiert waren. Dennoch spürte ich in den Versammlungen eine heilige Gegenwart Gottes. Ich hatte schon häufig prophetische Impulse empfangen und konnte vielen Menschen und Gemeinden damit dienen. In den Toronto-Versammlungen waren die Offenbarungen bei mir nun verstärkt und außergewöhnlich klar. Ich erfuhr, wie Gott mir zum Teil sehr konkrete Einzelheiten über Menschen offenbarte, die ich niemals in meinem Leben zuvor gesehen hatte. Ich empfing klare Zusprüche und prophetische Worte, die ich weitergab und die in ihrer Wirkung und Treffsicherheit nicht nur die Empfänger verblüfften, sondern auch mich selbst. Schließlich erfuhr ich bei einem Segnungsgebet am eigenen Leib, wie der Geist Gottes mich in einer starken Kraft berührte und ich die körperliche Beherrschung verlor und zu Boden sank. In diesen Momenten erlebte ich einen ganz tiefen inneren Frieden und es umgab mich so etwas wie ein helles, wohltuendes, fließendes Licht. Es waren kurze, aber sehr schöne Augenblicke, an die ich mich heute noch gern erinnere. Wieder in Deutschland angekommen, berichtete ich von meinen Erfahrungen. Aber ich teilte auch die Auffassung, dass es sich bei den Toronto-Phänomenen nicht immer um vom Geist Gottes gewirkte Manifestationen handeln müsse. Bei all den ekstatischen Äußerungen war wohl auch viel Manipulatives und Menschliches im Spiel. Ich versuchte einerseits, die Kritiker der Toronto-Bewegung zu gewinnen, indem ich ihnen darlegte, wie auch die ekstatischen Erfahrungen hier und da vom Geist Gottes genutzt oder auch initiiert werden können. Es gab hierfür genügend Beispiele im AT oder ich erinnerte an Petrus, der betete und dabei in Ekstase war (Apg 10,10). Andererseits versuchte ich meine charismatischen Freunde zu besänftigen, die meinten, dass dieser „Toronto-Segen“ der Start für eine weltweite geistliche Erweckung sei. Nein, diese Auffassung konnte ich nicht teilen, zumal es doch sehr „menschelte“ in dieser Bewegung. Nach zum Teil heftigen Debatten und Urteilen ebbte diese Toronto-Welle wieder ab.
Ich selber erfahre heute immer wieder einmal ähnliche ekstatische Augenblicke, wenn ich im Geist bete. Aber es sind nicht diese Phänomene, die ich suche, sondern ich suche meinen Herrn und Gott. Ich würde diese Erfahrungen auch niemals als den entscheidenden Schlüssel für einen geistlichen Aufbruch sehen.
Der Toronto-Welle folgten noch andere Bewegungen des Heiligen Geistes. Da pilgerte schon bald die charismatische Jüngerschaft zur Brownsville Assembly of God in Pensacola im US-Staat Florida. Der Geist Gottes wirkte hier seit dem 18. Juni 1995 in einem kontinuierlichen starken missionarischen Aufbruch11. Tausende Menschen wurden vom Geist Gottes ergriffen und von Sünde überführt. Der Akzent in dieser Geistesbewegung lag auf der Buße. Zwar gab es auch hier und da ekstatische Erfahrungen, sie standen aber keineswegs im Mittelpunkt. Vielmehr war das Wirken des Geistes in der Pensacola-Bewegung an einzelne Verkündiger (Steve Hill, John A. Kilpatrick u. a.) geknüpft. Als ich wenige Jahre später Pensacola besuchte, war es um diese starke Bußbewegung sehr ruhig geworden. Ich fragte den Taxifahrer, der mich zur Erweckungsveranstaltung fuhr, wie sich denn dieser starke geistliche Aufbruch in der Stadt niedergeschlagen habe. Er schaute mich verdutzt an und fragte mich zurück, von welchem Aufbruch ich denn sprechen würde, er hätte davon noch nichts gehört. Nach wenigen Jahren des Aufbruchs in dieser Gemeinde erlebte ich nun Gottesdienste, die von einer eher klassischen pfingstlich-spirituellen Kultur geprägt waren. Im Anschluss an die Veranstaltungen sprach ich mit geistlichen Vätern und Müttern der Brownsville-Assembly-of-God-Gemeinde, die mir unter Tränen mitteilten, wie viele Fragen sie umtrieben. War es wirklich alles so vom Geist Gottes gewollt und initiiert? Niemals werde ich diese fragenden und enttäuschten Gesichter der Frauen und Männer vergessen, die über viele Jahre diese Gemeinde begleitet und geleitet haben. Hatte diese Erweckungswelle auch Schaden angerichtet?
Immer, wenn in der Folgezeit von einer neuen „Welle des Geistes“ die Rede war, hörte ich deshalb nicht nur mit Freude und einer inneren Hoffnung zu, sondern auch mit Skepsis. Da wurden wir von unseren Mitchristen in Uganda aufgefordert, eine starke Freisetzung des Geistes durch das Gebet zu bewirken. Da riefen uns geistliche Leiter aus Kanada auf, die Generationen in einer neuen Väterbewegung zusammenzubringen. Da legten wir immer wieder die „Kronen des konfessionellen Stolzes“ vor dem Thron des Lammes Gottes nieder und erhofften so einen neuen Durchbruch zu einer geistlichen Einheit. Wir bekannten ungezählte Male unsere nationale Schuld, die wir gegenüber dem Volk der Juden auf uns geladen haben, gingen Wege der Versöhnung und suchten die Gemeinschaft mit der immer stärker werdenden Gruppe der messianischen Juden. Wir reichten uns im ökumenischen Chor neu die Hände und sind nun „Miteinander für Europa“ unterwegs. Doch die Kraft der geistlichen Erneuerung, der Geist des Aufbruchs, wich immer mehr einem Lazarettdenken. Das Lamento über den beklagenswerten Zustand von Kirchen und Freikirchen, immer noch steigenden Austrittszahlen und zahme neue charismatische Gemeinden und Gemeinschaften konnten die vielen dunklen Wolken am Himmel Gottes nicht vertreiben.
Hier und da entdecken wir ein blaues Loch und ein Sonnenstrahl der Herrlichkeit Gottes erwärmt uns – und schon pilgern alle wieder hin zu diesem Sonneneinfall, um zu partizipieren, um zu lernen, um ihn „mitzunehmen“. Doch was tut sich wirklich in der geistlichen Welt? Ich kann inzwischen jene Mitchristen gut verstehen, die es leid sind, auf immer neue Wellen des Geistes zu achten; die kein Interesse mehr daran haben, immer neu auf die schon lang verheißene geistliche Erweckung im Land zu hoffen. Da helfen dann auch keine noch so profilierten prophetischen Worte. Ist die charismatische Bewegung am Ende? Die Zahl derer, die sich mehr oder weniger frustriert von ihren Gemeinden verabschieden, nimmt zu.12 Der Weg zurück in die verfassten Kirchen und Freikirchen wird jedoch nur selten gefunden. Unzählige bleiben auf der Strecke, formieren sich in kleinen Gemeinschaften oder auch in Hauskirchen. Andere zählen sich zu den „entkirchlichten Christen“ und erklären das bestehende Gemeinde- und Kirchensystem für ein gescheitertes Modell.13 Haben die charismatischen Erneuerungsbewegungen in den verfassten Kirchen und Freikirchen, die starken geistlichen Aufbrüche der vergangenen 50 Jahre ihre Blütezeit schon hinter sich? Müssen wir von einer „postcharismatischen Depression“14 reden? Wo ist die Kraft, die Dynamik, die einst diese Bewegungen geprägt hat? Ich frage mich: Warum haben diese Wellen des Geistes nicht zu einer umfassenden Neubelebung unserer Kirchen beigetragen? Oder war das womöglich gar nicht das Hauptziel, das der Geist Gottes mit dem neuen Pfingsten hatte? Es ist unbestritten, dass die Ausgießung des Heiligen Geistes zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen starken Niederschlag in der weltweiten Pfingstbewegung und in ihren kirchlichen Gruppierungen gefunden hat. Ebenso haben auch die charismatischen Erneuerungsbewegungen ihren positiven Beitrag zur Belebung der bestehenden Kirchen geleistet. Die pfingstlich-charismatische Bewegung zählt zu den stärksten christlichen Reformbewegungen, die wir in der Welt wahrnehmen können. Etwa 730 Millionen Christen sind davon in den Pfingstkirchen, in den Erneuerungsbewegungen innerhalb der bestehenden traditionellen Kirchen und Freikirchen sowie in den neuen charismatischen Gemeinden und Gemeinschaften erfasst.15 Und so beschäftigt mich die Frage: Ist damit das Ziel dieser neuen Ausgießung des Geistes Gottes erreicht? Haben wir die Impulse, die der Geist Gottes setzen wollte, wirklich verstanden und erfasst? War es nicht derselbe Geist Gottes, der parallel auch andere Reformbewegungen auslöste? War es nicht derselbe Geist Gottes, der die Sicht für die Weltmission am Ende des 18. Jahrhunderts neu bewirkte? Man denke nur an Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die Herrnhuter Bewegung16; man denke an die großen Weltmissionskonferenzen17, die zeitgleich mit dem Aufbruch der Pfingstbewegungen ihren Lauf nahmen. Sind nicht die Reformbewegungen des Pietismus des 18. und 19. Jahrhunderts, die Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts ebenso Wirkungen des Heiligen Geistes?18 Wie verhalten sich diese Bewegungen zum pfingstlich-charismatischen Aufbruch der letzten 100 Jahre? Ist der Geist Gottes ein Geist der Mission, der uns hier neu ergreifen will? Ist es der Geist Gottes, der zeitgleich ein neues Bewusstsein für die Einheit der Kinder Gottes schafft und die Einheitsbewegungen der Ökumene19 und der Evangelischen Allianz20 auslöste? Wie steht es um die Einheit der Christen heute? Ist es der Geist Gottes, der das auserwählte Volk der Juden zurückführt in das Land Israel und somit sammelt und eint? Wie steht es um die Einheit des Gottesvolkes der Juden und des dazugenommenen Gottesvolkes aus den Nationen? Ist es der Geist Gottes, der als Geist der Erbarmung, als Geist der Gerechtigkeit und Freiheit hinter den Befreiungsbewegungen steht, die sich zum Teil in der Befreiungstheologie21 oder auch der feministischen Theologie22 äußern? Warum geschieht es, dass sich die Vertreter dieser unterschiedlichen Bewegungen zum Teil bitterlich bekämpfen und behindern, wenn der Geist Gottes hier initiativ ist? Warum isolieren sich die einzelnen Bewegungen und erstarren in ihren dogmatischen Wahrheiten und Überzeugungen? Warum wird diese gebeutelte und von Krisen geschüttelte Welt nicht stärker von diesem Licht Gottes erfasst, das in den Farben der Gnade, der Einheit, der Versöhnung, der Freiheit und der Gerechtigkeit leuchtet? Warum sind da so viele Wolken?
Alle diese Gedanken gehen mir an diesem sommerlichen Morgen in meinem Arbeitszimmer durch den Kopf und durch das Herz. Von glorreichen Erinnerungen an Momente, in denen ich die Herrlichkeit Gottes erfahren habe, falle ich in die dunklen Löcher der Ohnmacht, der Streitigkeiten. Ich sehe die Enttäuschten, die nicht mehr hoffen wollen und sich in eine Innerlichkeit und Individualisierung ihres Glaubens zurückziehen. Mal gluckse ich vor Freude an dem frischen Sprudeln der Gnadenbewegungen Gottes und dann wieder verdurste ich innerlich bei dem Anblick der offensichtlichen geistlichen Dürre in unserem Land und in dem alten Europa. Brauchen wir ein neues Pfingsten, eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes? „Ja! Komm, Heiliger Geist! Belebe uns neu! Öffne die Quellen des Lebens für dieses dürre Land!“ Ich weine, ich bete, ich schweige.
„Kannst du schwimmen?“ Immer wieder kommt mir diese Frage in den Sinn, so als würde sie der Geist Gottes selbst in mein Herz geben. „Natürlich kann ich schwimmen, das kann doch jedes kleine Kind! Aber zurzeit sitze ich hier in meinem Schreibtischsessel, schaue aus dem Fenster und schwelge in alten Zeiten und gräme mich angesichts der vielen ungelösten Fragen, lieber Herr!“
„Kannst du schwimmen, so wie der Prophet Hesekiel?“ Ich werde hellhörig. Was ist das? Eine Frage von Gott? Musste dieser alttestamentliche Prophet denn irgendwann einmal schwimmen? Was hat das mit meinen so großen und schwerwiegenden Fragen zu tun? Ich schlage in der Bibel nach und stoße auf einen Text, der mich bis heute nicht mehr loslässt. Ein Text, der mich letztlich auch entscheidend motiviert hat, dieses Buch zu schreiben. Ich lese Hesekiel 47,1–12:
Dann führte mich der Mann noch einmal zum Eingang des Tempelgebäudes, der nach Osten lag. Dort sah ich Wasser unter der Schwelle hervorquellen. Erst floss es an der Vorderseite des Tempels entlang in südlicher Richtung, dann am Altar vorbei nach Osten. Der Mann verließ mit mir den Tempelbezirk durch das Nordtor des äußeren Vorhofs, und wir gingen an der Außenmauer entlang bis zum Osttor. Ich sah, wie das Wasser an der Südseite des Torgebäudes hervorkam. Wir folgten dem Wasserlauf in östlicher Richtung; nachdem der Mann mit seiner Messlatte 500 Meter ausgemessen hatte, ließ er mich an dieser Stelle durch das Wasser gehen. Es war nur knöcheltief. Wieder maß er 500 Meter aus, und jetzt reichte es mir schon bis an die Knie. Nach weiteren 500 Metern stand ich bis zur Hüfte im Wasser. Ein letztes Mal folgte ich dem Mann 500 Meter, und nun war das Wasser zu einem tiefen Fluss geworden, durch den ich nicht mehr gehen konnte. Man konnte nur noch hindurchschwimmen. Der Mann fragte mich: „Hast du das gesehen, sterblicher Mensch?“
Dann brachte er mich wieder ans Ufer zurück. Ich sah, dass auf beiden Seiten des Flusses sehr viele Bäume standen. Der Mann sagte zu mir: „Dieser Fluss fließt weiter nach Osten in das Gebiet oberhalb der Jordanebene, dann durchquert er die Ebene und mündet schließlich ins Tote Meer. Dort verwandelt er das Salzwasser in gesundes Süßwasser. Wohin der Fluss kommt, da wird es bald wieder Tiere in großer Zahl und viele Fische geben. Ja, durch ihn wird das Wasser des Toten Meeres gesund, so dass es darin von Tieren wimmelt. Am Ufer des Meeres leben dann Fischer, von En-Gedi bis En-Eglajim breiten sie ihre Netze zum Trocknen aus. Fische aller Art wird es wieder dort geben, so zahlreich wie im Mittelmeer. Nur in den Sümpfen und Teichen rund um das Tote Meer wird kein Süßwasser sein. Aus ihnen soll auch in Zukunft Salz gewonnen werden. An beiden Ufern des Flusses wachsen alle Arten von Obstbäumen. Ihre Blätter verwelken nie, und sie tragen für immer reiche Frucht. Denn der Fluss, der ihren Wurzeln Wasser gibt, kommt aus dem Heiligtum. Monat für Monat bringen sie neue, wohlschmeckende Früchte hervor, und ihre Blätter heilen die Menschen von ihren Krankheiten.
Dieser Fluss steht für das Leben, für die heilbringende Gegenwart Gottes. Er entspringt in der Herrlichkeit Gottes – im Tempel, wo nach alttestamentlichen Vorstellungen Gottes Schechina (dt. Ruhe, Wohnung, Geist, Herrlichkeit) wohnt. Die Schechina ist keine Eigenschaft Gottes, sondern seine strahlende und heilende Gegenwart (2Mo 40,35). Sie lässt sich nicht einsperren, auch nicht in einen neuen Tempel23. Doch dieses Leben, dieser Fluss der Heiligkeit, der Fruchtbarkeit, der Liebe und Gnade Gottes kann nicht in den starren Formen des Lebens, in Tempeln und Wohnungen festgehalten werden. Die heilende Gegenwart Gottes lässt diese Schechina unter der Tür hervorquellen. Sie fließt an einen Ort, wo man es nicht für möglich hält: dieser Lebensfluss fließt zu den dürren und versalzenen Orten, um sie fruchtbar zu machen. Der Prophet geht erstaunt diesem Fluss nach. Behutsam wird er geleitet durch einen Boten Gottes. Zunächst hat er noch Boden unter den Füßen; er hat die Kontrolle, kann messen und ermessen. Dann aber wird es patschig und das Lebenswasser steigt bis zu den Knöcheln, bis zur Hüfte und schließlich verliert er den Boden unter den Füßen. In diesem heilenden Fluss des Lebens kann man nur noch schwimmen (V. 9). Der Prophet wird mitgetragen, geradezu mitgerissen von dieser Bewegung. Heilung geschieht und ständig neue Frucht entsteht am Ufer dieses Flusses. Selbst die alten Salzpfützen der Vergangenheit werden noch dem Leben dienen.
Es ist nahe liegend, diesen Fluss, diese Quelle des Lebens mit dem Geist Gottes in Verbindung zu bringen. Gott selbst wird im AT als die Quelle des Lebens (Ps 36,10) oder als lebendige Quelle (Jer 2,13; 17,13) bezeichnet. Aus Jahwe selbst fließen Lebenskräfte zum Segen der ganzen Schöpfung (Ps 65,10). Nach dem Zeugnis des NT empfangen Menschen aus dieser Quelle „Gnade um Gnade“ (Joh 1,16; LU). Jesus spricht von der neuen Geburt durch „Wasser und Geist“ (Joh 3,5; LU). Er ist es, der mit dem Heiligen Geist „tauft“ (Joh 1,33). Der Geist wird „ausgegossen“ (Joel 3,1; Apg 2,17; LU). Der Strom des Lebens begegnet uns auch in der Sicht der Vollendung. Johannes sieht ihn als Fluss, der hervorquillt aus dem Thron Gottes und des Lammes, glänzend wie ein Kristall (Offb 22,1). Wo der Geist Gottes wirkt, entsteht Frucht (Joh 15,5; Gal 5,22f). Der „Baum des Lebens“ (1Mo 2,9; LU) taucht am Ende der Geschichte wieder als „Holz des Lebens“ auf, das in der vom Himmel herabkommenden Stadt Jerusalem stehen soll und viele Früchte zur Heilung der Nationen trägt (Offb 22,2–3). Der Geist lädt gemeinsam mit der Gemeinde in die heilende Gottesgemeinschaft ein. „Der Geist und die Braut sagen: ‚Komm!‘ Und wer das hört, soll auch rufen: ‚Komm!‘. Wer durstig ist, der soll kommen. Jedem, der es haben möchte, wird Gott das Wasser des Lebens schenken“ (Offb 22,17).
Der Geist Gottes tritt auf den Plan, der durch alle Zeiten hindurch fließt wie ein Strom des Lebens, der seine Schöpfung in die große Mission Gottes ruft. Seit Pfingsten ist er ausgegossen in die Herzen der Menschen (Röm 5,5). Er will weiterfließen zur Transformation, zur Veränderung und Heilung der vertrockneten Landschaften und der Nationen. Dieser Strom ist nicht aufzuhalten, auch nicht durch die neuen Tempelmauern der menschlichen Vernunft, der kirchlichen Erstarrung oder des Hochmutes der Menschen. Wer sich in diesen Strom hineinbegibt, der verliert schnell den Boden unter den Füßen, er muss schwimmen.
Meine Fragen, die mich an diesem sommerlichen Morgen in dem Wolkenmeer der Ohnmacht und Hoffnungsarmut versenken wollten, haben durch die Frage Gottes an mich nun eine andere Richtung bekommen. „Kannst du schwimmen?“ – „Ich weiß es nicht, mein Herr, aber ich will mich gern von diesem Strom des Lebens, diesem Geist des Lebens neu erfassen lassen!“ Die Wolken sind noch da, aber ich weiß um den Glanz und um die Schönheit des ewigen, fließenden Lichtes Gottes. Mein Tag wird hell.
Diese bewusst erfahrene Einladung des Geistes Gottes, mich ganz neu auf den tragenden und fließenden Lebensstrom einzulassen, hat nicht nur meine Gedanken erhellt, sondern sie hat mich auch ermutigt, mich mit der Quelle und den Strömungen neu zu befassen und den Erstarrungen des Lebens nicht zu viel Aufmerksamkeit zu geben. Dieses Buch soll nicht einen klagenden und lamentierenden Unterton haben, sondern ich hoffe, dass es mir gelingt, die strahlenden Kristallfarben dieser Quelle des Lebens zu beschreiben. Das wird im Rahmen eines Sachbuches nur sehr schwer möglich sein, und so mute ich meiner Leserschaft immer wieder Geschichten des Lebens zu, die komplizierte theologische Zusammenhänge häufig klarer entfalten können als viele theologische Spitzfindigkeiten. Die Vorstellung vom kristallenen Lebensstrom wird uns dabei immer wieder begleiten, gleichsam wie ein Hintergrund für die theologischen Skizzen, die zu einer missionalen Pneumatologie beitragen sollen. Es ist nicht nur eine Vorstellung, sondern eine realistische Erfahrung, dass dieser Geist in mein Herz ausgegossen ist und mich immer neu ergreifen will. Hier und da komme ich in meinen Gedanken, meinen Argumentationslinien ins Schwimmen; manchmal fehlen mir die Worte und die Metaphern und Bilder überlagern sich. Das liegt wohl in der Natur der Sache bzw. des Geistes. Der Geist Gottes ist Bewegung und nicht Erstarrung. Allerdings gebe ich zu, dass auch die Erstarrungen des Lebens zum Nachdenken reizen.
Ich will der Frage nachgehen, warum die charismatischen Bewegungen oder auch andere Erneuerungsbewegungen so schnell an Schwung verlieren können. Es könnte an einer Einseitigkeit der Wahrnehmung liegen. Der Gedanke der „Wellen des Geistes“ symbolisiert zwar Dynamik, hat aber de facto dazu geführt, dass sich die verschiedenen Bewegungen voneinander abgrenzten und lediglich noch in einer Richtung unterwegs waren. Manche richteten ihre neuen „Tempel“ wohnlich ein und besangen die Gegenwart Gottes – ohne zu bemerken, dass diese gerade unterwegs war. Es blieben Formen, Rituale, Gewissheiten. Je mehr man es sich allerdings in den neuen Bewegungen gemütlich machte, desto mehr verloren sie an Schwung, der Strom wurde immer enger. Es ist bereits angeklungen, dass in den vielfältigen pfingstlich-charismatischen Bewegungen auch eine gewisse Engführung und Starre auszumachen ist. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass neue Bewegungen sich nicht selten aufgrund einer Unzufriedenheit mit dem Status quo entwickeln, aber seltener, weil der Geist Gottes uns „mitfließen“ lässt und in seiner Liebeskraft zum Standortwechsel auffordert. Die Konzentration der charismatischen Erneuerungsbewegungen auf die Erneuerung des einzelnen Menschen hat nach meiner Einschätzung zu einer verhängnisvollen Verengung der Bewegung geführt. Da geht es um die Ersterfahrung des Empfangs der Gabe des Geistes, um ein vom Geist Gottes erfülltes Leben in der Heiligung und um die vielbesagten Charismen. Zuweilen stehen einzelne Geistesgaben unverhältnismäßig stark im Mittelpunkt (Sprachenrede, Heilungen, Prophetie, Leitung). Die gemeinschaftsfördernde Dimension, die ekklesiologischen und sozialpolitischen Akzente einer ganzheitlichen Lehre vom Heiligen Geist bis hin zur kosmischen und eschatologischen Pneumatologie werden nur wenig bedacht. Peter Zimmerling reflektiert diese Tatsache angesichts einer Zuordnung zu den drei Artikeln des apostolischen Glaubensbekenntnisses und resümiert: „Die Konsequenzen aus der nur mangelhaften trinitarischen Rückbindung des Geisteswirkens in charismatischer Theologie und Frömmigkeit besteht in einer häufig zu beobachtenden Vernachlässigung des ersten und zweiten Artikels. Der fehlende Bezug zum ersten Artikel lässt leicht übersehen, dass jede Geisterfahrung von soziologischen und charakterlichen Gegebenheiten des jeweiligen Menschen geprägt ist; der vernachlässigte christologische Rückbezug führt zur Gefahr des Triumphalismus. Beides lässt sich am Charismen-, Gemeinschafts-, Gottesdienst-, Seelsorge- und Gemeindeaufbauverständnis charismatischer Bewegungen verifizieren.“24 Zimmerling könnte hier auch zusätzlich eine verkürzte Wahrnehmung des dritten Artikels ausmachen, denn auch die eschatologisch-pneumatologische Dimension wird zu wenig bedacht. Die pneumatologische Gemeindelehre hat sich vielfach zu einem Reizthema auch unter den Charismatikern entwickelt. Es gibt unterschiedliche Gemeindeaufbaukonzepte. Während die innerkirchlichen Bewegungen auf die charismatische Erneuerung der bestehenden Ortsgemeinden zielen, wählen andere den Weg der Gemeindeneugründung. Hier entfaltete sich eine Vielzahl von verschiedenen ekklesiologischen Entwürfen (Hauskirchen, ökumenische Gemeinschaften, Kommunitäten, freie unabhängige Ortsgemeinden). Die Neugründungen sind oft begründet in der Ablehnung der bestehenden Kirchen und Freikirchen. Die Pfingstkirchen haben sich zur eigenen Kirchenbildung entschieden und bieten ekklesiologisch vielen charismatischen Gruppen und Gemeinschaften ein konfessionelles Zuhause. Die charismatischen Erneuerungsbewegungen in den traditionellen Kirchen und Freikirchen meiden zum Teil die Frage nach einer vom Geist Gottes geprägten Gemeindelehre. In diesem Sinne setzt die Charismatische Erneuerung in der katholischen Kirche in Deutschland den Akzent sehr eindeutig und zum Teil auch einseitig auf die geistliche Erneuerung des Einzelnen. Die Reduzierung des Geisteswirkens auf Themen wie Geistestaufe, Geisterfüllung oder auch auf die Freisetzung einzelner Charismen hat den missionarischen Schwung der charismatischen Bewegungen enorm ausgebremst.
Der Geist Gottes ist ein Geist der Mission in dieser Welt, nicht nur ein charismatischer Geist. Er ist der Geist des Lebens, der auch an all die vertrockneten Orte dieser Welt gelangen will. Ein neues Nachdenken über diesen Geist der Mission finden wir bereits bei dem jungen Karl Barth.25 In Anlehnung an Barths Redeweise von der „Actio Dei“ prägte der Missiologe Karl Hartenstein26 den Begriff der „Missio Dei“ (Sendung Gottes), um deutlich zu machen, dass Mission eine Aktion des dreieinen Gottes selbst ist und nicht nur eine menschliche Reaktion auf den Missionsauftrag Jesu. In jüngerer Zeit nahmen die Missiologen Lesslie Newbigin27, David J. Bosch28 oder auch Paul Hiebert29 die Fragestellungen auf, wie diese Mission Gottes sich in der jeweiligen Kultur ereignen kann. Die Veränderung der Gesellschaft wurde in der Perspektive des angebrochenen Gottesreiches als Ziel dieser Mission gesehen, und nicht allein die Erfahrung der versöhnenden Erlösung des einzelnen Menschen. Alan Hirsch und Michael Frost30, Alan J. Roxburgh31, Ed Stetzer32 oder auch die deutschen Theologen Johannes Reimer33, Roland Hardmeier34 und Tobias Faix35 nahmen diesen ganzheitlichen inkarnatorischen Ansatz36 der Mission auf und verwendeten hierfür den Begriff „missional“. Im Unterschied zum langläufig verwandten Terminus „missionarisch“ bezeichnet „missional“ ein ganzheitliches Verständnis von der Sendung Gottes in alle Bereiche des Lebens.
„Eine missionale Kirche definiert sich vor allem aus ihrer Berufung zur Mission und entwickelt ihr Wesen und alles Handeln aus dieser Sendung als Trägerin von Gottes Mission in dieser Welt. Das Ordnungsprinzip von Kirche ist Mission. Wenn Kirche ihre Mission lebt, ist sie wirklich Kirche. Kirche selbst ist nicht nur das Produkt von Mission, sondern sie muss diese Mission mit allen Mitteln weiter führen – darin liegt ihre Bestimmung. Die Mission Gottes drückt sich in jedem Glaubenden aus und in jeder Gemeinschaft, die sich auf Jesus beruft. Diese Mission zu behindern, heißt Gottes Absicht mit und durch sein Volk zu behindern.“ 37
Ich habe mit großem Interesse und Gewinn die Literatur zu einer neuen missionalen Theologie gelesen. Bei aller Wertschätzung ist mir jedoch aufgefallen, dass die Pneumatologie auch darin leider nur eine sehr untergeordnete Darstellung findet. Ähnlich ist es in der Literatur zur Emerging Church38. Die Emerging Church ist eine dezentrale, stark heterogene Reformbewegung von verschiedenen Christen, die in ihrem Umfeld und ihrer Tradition auf die Fragestellungen der angebrochenen Postmoderne reagieren wollen. Theologisch gibt es nur eine konturenhafte Homogenität in dieser Reformbewegung. Viele Vertreter versuchen im Prinzip ihrer kirchlichen Tradition theologisch treu zu bleiben, aber sie setzen neue Akzente in der Spiritualität und in der gemeindlichen Kultur. Gemeinde Jesu wird als ein Netzwerk verstanden. Der Dialog mit der jeweiligen Kultur wird gesucht. Zur Orthodoxie (Rechtgläubigkeit) kommt die Orthopraxie (das rechte Handeln).39 Doch welche Bedeutung kommt dem Heiligen Geist zu, wenn es um eine Weiterentwicklung der Gemeinde in der Postmoderne geht? Wie korrespondiert das neue Nachdenken über die sich weiterentwickelnde Gemeinde Jesu (Emerging Church) oder über die neue missionale Ekklesiologie mit dem Wirken des Geistes Gottes?
Ich will versuchen, in diesem Buch einige Grundlagen für eine missionale Pneumatologie zu beschreiben. Ich tue es in der Hoffnung, dass wir den „Weitwinkel“ für das umfassende Wirken des Heiligen Geistes in dieser Welt, in der Gemeinde Jesu Christi und in jedem einzelnen Menschen neu in den Blick bekommen. Jedes Nachdenken über die Gemeinde Jesu Christi hängt theologisch untrennbar mit dem Nachdenken über das Wesen und Wirken des Heiligen Geistes zusammen. Ekklesiologie und Pneumatologie sind deshalb nicht getrennt voneinander zu betrachten. Es sind nicht die emergenten, missionalen neuen Gemeindeformen, die eine neue Belebung oder eine Reanimation der vom Todeskeim geprägten Kirchen und Gemeinschaften hervorbringen, sondern es ist der Geist des Lebens, es ist dieses Wasser der Lebendigkeit, der Schönheit, der Weisheit und der Wahrheit, das auch heute schon unter den Türschwellen der Kirchen hervorquillt.