Читать книгу Die Normalität des Absurden - Heinz Schneider - Страница 23
ОглавлениеPriemerwald
Von der Dienststelle der Kasernierten Volkspolizei in Schwerin Stern-Buchholz wurden wir als VP-Anwärter nach Abschluss unserer militärischen Grundausbildung im Rahmen einer Nacht- und Nebelaktion in getarnten Lkw in die „Taiga“ (gängiger Armeeausdruck für ein dünn besiedeltes Waldgebiet im Norden der DDR) verlegt. Nach der Fahrt von einigen Stunden landeten wir irgendwo – ein Zielort war uns nicht mitgeteilt worden – in einem Kiefernwald, bauten unsere Zelte auf, in denen wir auf Stroh schliefen.
Nach einem schönen Ruhetag im Wald wurden wir in der nächsten Nacht barsch von einem Unteroffizier geweckt, brauchten nur einige hundert Meter zu marschieren und landeten an einer inoffiziellen Bahnstation namens „Priemerwald“. Dort erwartete uns schon ein langer Güterzug mit der Aufschrift an einem Waggon: „Eier für unsere deutschen Freunde.“ Offenbar kam er direkt aus der Sowjetunion. Wir entluden Waggons voller Munition, darunter zahlreiche mit kyrillischer Schrift versehene, 84 kg schwere Holzkisten mit je einer Artilleriegranate. Wir schleppten sie ca. 80 m weit in besenreine unterirdische Bunker, die scheinbar die Nazizeit unbeschädigt überstanden hatten.
Nach einigen Wochen avancierte ich zum Schreiber der Kompanie, erhielt ein Extra-Einzelzelt und sogar als einziger aller Kameraden ein Feldbett, unter dem ich die begehrten Ausgangskarten und weitere wichtige Papiere verstaute. Während alle anderen Kameraden jede Nacht heraus mussten, um neue, gerade eingetroffene Munition einzubunkern, hatte ich nach wenigen Wochen gleichartiger Tätigkeit ein sehr schönes Leben und konnte jede Nacht in Ruhe schlafen. Ich musste allerdings ein Lagerfeuer vor meinem Zelt hüten und begrüßte – sicher von vielen ob meines bequemen Jobs beneidet – an jedem Morgen gegen 4.30 Uhr die heimkehrende, singende Truppe, die einen körperlich extrem schweren Nachteinsatz hinter sich hatte und nach einem provisorischen Frühstück bis zum frühen Nachmittag in ihren Zelten schlafen konnte.
Eines Morgens im August 1952 gab es ein besonderes Vorkommnis. Ein lauter Doppelknall erschütterte das gesamte Zeltlager, gefolgt von einem sehr lauten, herzzerreißenden Schmerzensschrei eines jungen Kameraden von ca. 20 Jahren, wie ich vorher noch nie einen gehört hatte. Was war geschehen? Der Soldat hatte einen Schabernack geplant und mich erschrecken wollen, indem er zwei Zwei-Zentimeter-Granaten – vermutlich Fundmunition aus dem Zweiten Weltkrieg – in das leicht glimmende Lagerfeuer warf. Sie krepierten sofort, kurz hintereinander und –eine zerfetzte mein Zelt, ohne mich zu beschädigen. Die zweite durchschlug unmittelbar danach die Bauchwand des Werfers, der sich sehr schwer verletzte, aber anfangs noch ansprechbar war. Er wurde sofort in eine chirurgische Klinik – vermutlich nach Güstrow – verlegt und starb dort zu unserem großen Bedauern einen Tag später. Ich war schwer schockiert, so etwas Schreckliches hatte ich noch nicht erlebt. Drei Tage später wurde der Soldat unter dem Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“ auf dem Hagenower Friedhof beerdigt. Ich selbst trug ihn im Beisein seiner nächsten Angehörigen mit fünf weiteren Kameraden zu Grabe. Ein Offizier hielt eine kurze Trauerrede und betonte, dass der junge Kamerad an den Folgen explodierter Fundmunition verstorben sei, die anglo-amerikanische Tiefflieger, als Terrorflugzeuge bezeichnet, während des Zweiten Weltkrieges über dem Gebiet der jetzigen KVP-Dienststelle abgeworfen hätten.