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Die große Kartoffelpufferwette

Es war an einem Wochenende 1955 in der Militärmedizinischen Sektion in der Greifswalder Pappelallee, als Kay Blumenthal-Barby, Herwig Zichel und ich, allesamt befreundete Medizinstudenten im fünften Semester, beschlossen, ein Wettessen im Sportlerheim in der Wolgaster Straße durchzuführen. Dort gab es an jedem Mittwoch für eine Mark jeweils vier Kartoffelpuffer in der Größe eines kleinen Bierdeckels, dazu einen winzigen Klacks Apfelmus. Kay meinte, dass Alkohol die Fettverdauung fördere, sodass er nach dem Genuss von jeweils vier Puffern und einem kleinen Wodka (40 %, 20 ml) mehr verzehren könnte als ich, der damals ein absoluter Alkoholgegner war und generell weder Wodka, Wein noch Bier zu sich nahm.

Eine zeitliche Begrenzung des Wettbewerbs war nicht vorgesehen. Herwig wurde zum neutralen Schiedsrichter ernannt. Er durfte so viele kreisrunde Puffer „vertilgen“, wie er wollte, und auch Alkohol oder andere Getränke oder Speisen nach Belieben verzehren. Der Verlierer der Wette musste ihm und dem Sieger die Kosten der Zeche bezahlen.

Schon am Montag beobachteten wir uns misstrauisch und aßen nur noch halb so viel wie sonst.

Am Dienstag verzehrten wir wegen der „spezifisch-dynamischen Wirkung“ nur noch etwas extrem fettarmes Rindfleisch, welches Kay damals von guten bäuerlichen Bekannten aus einem Dorf bei Greifswald besorgt hatte, denn es gab zu dieser Zeit noch Lebensmittelkarten, über die wir als kollektiv verpflegte KVP-Medizinstudenten nur im Urlaub verfügten. Der Effekt dieser stark proteinhaltigen Kost sollte nach damaliger Auffassung bewirken, dass die am Folgetag aufgenommene Kost schneller verdaut würde, sodass wir hofften, mehr Puffer als sonst essen zu können. Den wissenschaftlichen (oder pseudowissenschaftlichen?) Zusammenhang, den wir im Fach Physiologie noch an der Universität in Leipzig dargestellt bekamen, vermag ich als heute fast 81-Jähriger nicht mehr zu erklären.

Nach circa dreieinhalb Stunden war die Wette zu Ende. Bis zum sechsten Teller herrschte auch zeitlich noch Gleichstand. Dann blieb Kay deutlich zurück. Während ich nach dem „Genuss“ von achtundzwanzig bereits verzehrten Puffern triumphierend die nächsten vier bestellte und tatsächlich noch aufaß, kapitulierte Kay, nur leicht beschwipst, beim achtundzwanzigsten Kartoffelpuffer. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den neunten Teller erhalten und von den mir kredenzten sechsunddreißig Puffern schon vierunddreißig verzehrt. Damit wurde ich von Herwig zum Sieger erklärt.

Meine Speiseröhre war ausgestopft. Ich hatte ein widerwärtiges Globusgefühl im Hals und konnte nicht mehr laufen. Selbst beim großzügigsten Wettangebot hätte ich keinen Bissen mehr herunterbekommen. Auch Kay hatte seine Probleme. Meine Freunde nahmen mich in die Mitte, hakten sich bei mir ein und zerrten mich, singend, „nach Hause“ in das ehemalige Luftwaffenlazarett, die etwa siebenhundert Meter entfernte KVP-Dienststelle. Ich konnte in die fröhlichen Lieder nicht einstimmen, obwohl mir so richtig übel eigentlich nicht war. Irgendwie war mir aber die Luft knapp. Erst nach zwei Tagen konnte ich wieder „normal“ essen.

Herwig hatte zwölf Puffer verdrückt und damit sicher mehr gegessen als üblicherweise, denn er erhielt sie ja umsonst. Auch trank er mehrere Gläser Pils (0,25 l), von dem damals eines – übrigens bis zum Mauerfall – nur einundfünfzig Pfennige kostete. Den pseudowissenschaftlichen Studentenstreich haben wir noch oft erwähnt und unter den Zuhörern stets allseitiges Lachen, meist verbunden mit leichtem Kopfschütteln, ausgelöst.

Die Normalität des Absurden

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