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„Briefe ohne Unterschrift“

Ende 1957 kaufte ich mir ein neues Radio mit einem schönen Holzgehäuse aus dem Volkseigenen Betrieb (VEB) Stern-Radio Staßfurt, Preis 560 Mark. Ein wirklich wunderschönes Gerät mit einer hohen Klangqualität und einem sehr guten Empfang. Ich war außerordentlich froh über diese Anschaffung, mit der ich viele Sender kristallklar empfangen konnte.

Nach zwei Wochen erschien Heinz X. (Name anonymisiert), ein verheirateter Mitstudent, der in der Stadt Greifswald und nicht in der Dienststelle wohnte und von mir über das Empfangsverhalten des Gerätes informiert werden wollte. Er hätte gehört, was für ein toller Apparat das sei. Heinz gab vor, sich ebenfalls für ein gleiches Gerät zu interessieren und es kaufen zu wollen. Er bewunderte laufend die Trennschärfe und sprach: „Sechs Röhren, neun Kreise, was für ein Apparat.“ Ich stellte ihm – seinem Wunsch entsprechend – „Radio Moskau“ ein und spürte seine Begeisterung. „Kannst du auch Radio Warschau hören?“ Natürlich konnte ich das. Danach kamen noch einige von ihm gewünschte Ostblocksender an die Reihe, die ich alle prompt herbeizaubern konnte. Selbst Radio Peking war in deutscher Sprache, allerdings erst nach 1961, auf diesem Gerät im Kurzwellenbereich kristallklar zu empfangen.

Nachdem er einige westdeutsche Sender eingestellt haben wollte, ein Wunsch, den ich ihm gern erfüllte, fragte er: „Kannst du auch Radio London hören?“ Immer wieder bewunderte er die Trennschärfe. Ich zögerte nicht, ihm auch diesen, von ihm gewünschten Sender einzustellen. „Bumm, bumm – bumm, bumm – hier spricht London, wir bringen für Sie ‚Briefe ohne Unterschrift‘, eine Sendung für die Sowjetzone.“ Ob er ein exaktes Timing geplant hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls war diese Sendung bei den SED-Funktionären extrem unbeliebt. Er erkundigte sich noch einmal nach dem Preis und hörte mit mir die ganze Sendung an und ich merkte, wie froh er war. Viele Hörer hatten – scheinbar in Briefen ohne Unterschrift – an Radio London geschrieben und berichteten über echte oder vermeintliche Missstände in der DDR. Ich war naiv und ahnte damals nicht, dass dieser „Genosse“ nicht an der Trennschärfe und dem Preis des Gerätes interessiert war, sondern nur wissen wollte, welche Sender ich empfangen könnte und möglicherweise empfangen habe.

Monate später wurde mir von der Dienststellenleitung vorgeworfen, ich hätte als „Angehöriger der NVA“ mit anderen Genossen einen feindlichen Sender und auch Radio Warschau – die Polen waren nicht immer linientreu – gehört, womit meine feindselige Haltung gegenüber der DDR eindeutig erkennbar geworden sei. Heinz hatte meine schier grenzenlose Gutmütigkeit und Naivität ausgenutzt und mich bei höheren Stellen angeschwärzt. Vermutlich war er von der Parteileitung meines Studienjahres auf mich angesetzt worden und ich war auf ihn hereingefallen. Ich konnte nicht leugnen, dass ich wirklich mit „einem Genossen“ Radio London gehört hatte wie einst mein Vater mit mir, mehr als 15 Jahre zuvor. Da es nur ein Genosse gewesen war, konnte ich die Quelle sicher identifizieren und sah mich künftig stärker vor. Jetzt war ich gewarnt. Und warnte von nun an andere. In meinem Sündenregister auf dem Weg zum Provokateur hatte ich einen konstruierten Negativpunkt mehr.

Die Normalität des Absurden

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