Читать книгу Die Normalität des Absurden - Heinz Schneider - Страница 30
ОглавлениеEin Extra-Brötchen für Ungarn
Karl Y. (Name anonymisiert), Mitstudent und aktives SED-Mitglied, hatte Ende 1956 in einer freiwilligen Spendenaktion Geldbeträge für die ungarische „Revolution“ gesammelt, wobei im offiziellen DDR-Sprachgebrauch damit nicht die Tätigkeit der revolutionären Anhänger von Imre Nagy, sondern von dem eher konservativen Janos Kadar gemeint war. Letzterer war offenbar von den Sowjets dazu ausersehen, in Ungarn wieder Ruhe und Ordnung herzustellen und das bisherige gesellschaftliche System, wenn auch in gering veränderter, etwas angenehmerer Form – „Gulasch-Kommunismus“ – aufrechtzuerhalten.
In der Sammelliste waren durchschnittliche Spendenbeiträge von drei bis vier Mark ausgewiesen. Da die Parteigenossen hohe Mitgliedsbeiträge zu entrichten hatten, die für mich nicht anfielen, spendete ich zehn Mark, womit ich an der Spitze aller Spender stand, denn ich wollte im Kollektiv nicht als ein Geizhals gelten. In der Hosentasche fand ich noch fünf Pfennige, die ich Karl, mit dem ich allein im Zimmer war, mit dem Hinweis überließ: „Hier ist noch ein Brötchen extra für die ungarische Revolution“, ohne mir etwas dabei zu denken. Etwa ein Jahr später – ich war inzwischen in Ungnade gefallen – gewann das Extra-Brötchen eine unerwartete Bedeutung.
Vater wurde von hohen Armeeoffizieren mitgeteilt, dass sich Generaloberst Willi Stoph, der damalige Verteidigungsminister und spätere Ministerpräsident der DDR, extrem erbost darüber geäußert habe: „Wie ist denn so etwas möglich, dass ein Arbeitersohn, dem in unserer Armee buchstäblich alles geboten wird, sich so unvorstellbar benimmt.“ Ihm war mitgeteilt worden, ich hätte eine Mark (sic) und fünf Pfennige gespendet, womit ich mit großem Abstand am Ende der Sammelliste stand, sodass das „Brötchen extra“ eine völlig neue Bedeutung gewonnen hatte. Mit dem niedrigen Spendenbetrag und dem Extra-Brötchen hätte ich die ganze Sammelaktion bewusst lächerlich gemacht und mich damit eindeutig als Anhänger des „Konterrevolutionärs“ Imre Nagy (*1896, von den Anhängern Janos Kadars am 16. Juni 1958 hingerichtet) zu erkennen gegeben. Zum ersten Mal wurde ich mit dem Attribut „Provokateur“ versehen, eine Bezeichnung, die ich bis etwa 1962 nicht wieder loswurde.
Dieser Vorfall begleitete mich in meiner Stasi-Akte bis zur Wende. Karl wurde später ein bekannter Professor, der mir bis zur Wende gelegentlich sehr geholfen hat. Niemals hätte er selbst die neun Mark einbehalten. Wer letztlich den Differenzbetrag wirklich gestohlen hatte, weiß ich bis heute nicht.
Endlich hatte die Parteileitung des Studienjahres ein Haar in der Suppe gefunden. Daraus wurde allmählich ein dicker Strick. Als ich darauf bestand, dass ich zehn Mark und fünf Pfennige gespendet hätte, wurde ich von meinen Vorgesetzten als ein „Lügner“ und „Geizhals“ hingestellt, der ich niemals war. Ich beschwerte mich schriftlich bei Major Ewald, unserem Kaderchef. Proteste meinerseits über die ungerechtfertigte Einbehaltung von neun Mark, die einem Diebstahl gleichkamen, verliefen jedoch völlig im Sande. Das Wort „Mobbing“ war damals noch nicht üblich. Mein Lebensgefühl hatte wieder einmal erheblich gelitten. Als katholischer Nichtgenosse glaubte man mir in der NVA generell nicht; in der Armee hatte ich mit dieser unkonventionellen Konstellation einfach nichts zu melden und daher sicher auch nichts verloren.