Читать книгу Die Normalität des Absurden - Heinz Schneider - Страница 27
ОглавлениеLeo Trotzki
Im Jahre 1956 erstand ich zu meiner großen Überraschung in der Universitätsbuchhandlung in der Langen Reihe in Greifswald das in der BRD editierte Buch von Jawaharlal Nehru „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, das er als Häftling für seine Tochter Indira Gandhi geschrieben hatte. In ihm fand ich ein Testament W. I. Lenins aus dem Jahr 1922/23, das in der DDR nicht bekannt war oder geheim gehalten wurde. Darin wurde von Lenin der in der SED angefeindete und 1940 von der Tscheka in der Nähe von Mexiko-City ermordete Leo Trotzki als der fähigste Mann im ZK der russischen Kommunisten betrachtet und für die leitende Funktion nach Lenins Tod als privilegiert angesehen, während J. W. Stalin aufgrund seiner Grobheit und Launenhaftigkeit als weniger geeignet erschien.
Ich wandte mich daraufhin an den Politoffizier Oberst Herold und bat ihn um eine Erklärung dieses mir bis dahin völlig unbekannten Sachverhalts, womit ich buchstäblich in ein Wespennest getreten war. Trotzkis bedeutende Rolle während der russischen Oktoberrevolution und in der unmittelbaren Zeit danach wurde in der DDR stets geleugnet und er wurde ähnlich wie ein gefährlicher „Volksfeind“ angesehen. Ausgerechnet Lenin, der politische Halbgott (oder besser Übervater?) der Kommunisten, sollte diesen von der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) geächteten Gegner der Partei gelobt haben. Ich brachte damit die „führenden SED-Genossen“ der Militärmedizinischen Sektion in Greifswald, allesamt Altstalinisten, in arge Erklärungsnot und hatte sie buchstäblich kalt erwischt. Dass sie in der Folgezeit für mich kaum noch Sympathie empfinden würden, war mir klar. Für die Partei war ich künftig so etwas wie ein rotes Tuch. Doch Pandit Nehru war der Gründungsvater der Blockfreien, die in der DDR damals gut angesehen waren. Ich lobte ihn, so gut ich konnte. Und das meinte ich durchaus ehrlich.
Eine Blockfreiheit für ein wiedervereinigtes Deutschland analog zur Republik Österreich (1955) hätte ich mir schon 1952, dem Jahr der Stalin-Noten, durchaus gewünscht, konnte mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Sowjetunion das Uranvorkommen in der DDR nicht weiterhin ausbeuten wollte. Somit hielt ich den sowjetischen Vorschlag, der auf eine Neutralität Gesamtdeutschlands ausgerichtet war, wohl eher für eine Farce. Nebenbei bemerkt: Eine Antwort auf meine vermutlich als provokant angesehene Frage erhielt ich von den Politoffizieren nie.