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Kapitel 5
ОглавлениеRiley
Riley schossen so viele Gedanken durch den Kopf, dass er den Überblick verlor und keinen von ihnen länger als eine Sekunde festhalten konnte.
Ganz vorne stand dabei – im wahrsten Sinne des Wortes – Kai Brandt. Wie konnte das sein? Wieso hatte sein Bruder ihn nicht gewarnt? Er hätte Brendon erwürgen können, aber damit hätte er nur seine Gefühle für den besten Freund seines Bruders offenbart. Und das wollte er unter allen Umständen vermeiden. Von all den Leuten, die ihm in dieser Woche zugemutet wurden…
Riley hatte als Teenager mehr als eine peinliche Schwärmerei erlebt. Er war in einem kleinen Vorort aufgewachsen und es war daher keine große Überraschung, dass die wenigsten von ihnen schwul waren. Aber Kai, der ständig mit seinem älteren Bruder rumhing – ob in der Schule, zu Hause oder bei den Pfadfindern? Der hatte ganz oben auf Rileys Liste der Unerreichbaren gestanden und so manche Fantasie beflügelt.
Nach all den Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten, fingen die Schmetterlinge in seinem Bauch immer noch zu flattern an. Dass Kai mit ihm sprach, als wären sie alte Freunde, machte die Sache noch schlimmer. Es war ganz anders als früher, als er nur Brendons lästiger kleiner Bruder gewesen war, der ständig mitspielen wollte und den älteren Jungs damit auf die Nerven fiel.
Riley versuchte, dem Ganzen eine positive Seite abzugewinnen. Er wollte versuchen, die Chance zu ergreifen und die Zeit mit ihm als erwachsenen Mann zu verbringen. Vielleicht konnten sie ja – unabhängig von Brendon – Freunde werden. Dann könnten sie vielleicht auch online in Kontakt bleiben, ohne dass Riley sich dabei peinlich vorkam. Es wäre schön, gelegentlich ein Foto oder einen kurzen Kommentar auszutauschen. Sehr schön.
Nicht so schön war allerdings die Anwesenheit der Grinters, die ihm, kaum eingetroffen, schon wieder Ärger machten. Während Kai ihn munter plaudernd darüber informierte, was einige der Truppe in den letzten Jahren gemacht hatten, musterte Riley mit grimmigem Blick das Wohnmobil. Vielleicht flog das Mistding ja in die Luft, wenn er es nur hart genug anstarrte.
Er konnte sich damit abfinden, Cameron und Pamela wiederzusehen. Sie waren nie sehr an dem kleinen, versponnenen Riley Anderson interessiert gewesen. Wahrscheinlich würden sie ihn auch dieses Mal einfach ignorieren.
Aber Daryl und Charlotte? Ihn durchfuhr eine düstere Vorahnung. Aber es war schon in Ordnung. Kai hatte recht. Es war lange her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Sie würden einfach alle so tun, als wäre es nie passiert. Oder wenn, dann jemand anderem.
Wie auch immer – Riley war jetzt ein erwachsener Mann. Er war kein Teenager mehr, der sich nicht traute, den Mund aufzumachen, weil er nicht bemerkt werden wollte. Er hatte einen Job. Einen sehr guten sogar. Er hatte seine eigene Wohnung und bezahlte pünktlich seine Rechnungen. Er konnte auch mit den weniger angenehmen Ereignissen aus seiner Vergangenheit umgehen.
Aber Kai. Bei dem musste Riley verdammt vorsichtig sein. Wahrscheinlich war Abstand die beste Lösung. Wenn er sich von seinem Jugendschwarm fernhielt, konnte er seine Reaktionen besser unter Kontrolle behalten. Freundlich sein. Sie konnten freundlich miteinander umgehen. Das wäre – im Vergleich zu früher – schon ein großer Fortschritt.
Und ihre Kleingruppe um mehr Menschen zu erweitern, wäre auf jeden Fall ein guter Anfang.
Er wartete ab, bis Kai über eine dumme Geschichte ins Lachen kam, die einem alten Bekannten widerfahren war. Riley hatte ganz vergessen, wie gerne Kai lachte. Er schien sich ständig darüber zu freuen, was rund um ihn herum passierte. Riley räusperte sich.
»Ähem«, sagte er und hielt sich die Hand über die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, als er Kai von unten anschaute. »Ist meine Familie schon eingetroffen?«
Kai schüttelte den Kopf und sah sich um. »Bisher habe ich nur die Grinters gesehen.« Er zog das Handy aus der Tasche und stellte sich so, dass er dem Bildschirm mit seinem riesigen Körper Schatten gab. »Oh. Slady hat mir vorhin einen Text geschickt.« Er las die Nachricht durch. »Er und Brendon sind direkt hinter deinen Eltern und Jake. Sie sollten im Laufe der nächsten Stunde eintreffen.«
Slady – Gemma Haverslade – war Brendons Freundin. Sie fuhren im Konvoi mit Rileys Eltern und Jake, seinem jüngeren Bruder. Riley runzelte die Stirn und nahm sein Handy aus der Halterung. »Ich habe keine Nachricht bekommen.«
»Oh«, sagte Kai und steckte den Kopf ins Auto, um den Bildschirm von Rileys Handy sehen zu können. Damit kam er natürlich auch viel näher und ihre Schultern waren nur noch Zentimeter auseinander. Rileys Verstand fror ein. »Aha!« Kai zeigte auf eines der Symbole am oberen Bildschirmrand. »Du hast die Benachrichtigungen abgestellt.«
Die Panik wurde von Verlegenheit abgelöst und Riley rutschte in seinem Sitz nach unten. »Oh ja«, murmelte er. Er wischte mit dem Daumen über den Bildschirm und aktivierte die abgeschalteten Funktionen wieder. »Ich hatte die anderen Apps abgeschaltet, weil das Navi ein Stromfresser ist.« Er hatte das Handy an den Zigarettenanzünder angeschlossen, aber der brachte nicht viel. Bei einer langen Fahrt war es besser, so viel Strom zu sparen wie möglich.
Nachdem er die Benachrichtigungen wieder aktiviert hatte, wurde er mit einer ganzen Reihe an Nachrichten belohnt, in denen ihn seine Familie über den Verlauf ihrer Anreise auf dem Laufenden hielt. Er las sie lächelnd durch. Es sah aus, als hätten sie auf der M6 für eine Weile im Stau gestanden, aber damit musste man an einem Freitagnachmittag in der Nähe von Birmingham rechnen.
Als er wieder aufschaute, war Kai immer noch da und lehnte sich ans Fenster. Er hatte vermutlich keine Ahnung von der Wirkung, die seine Nähe auf Riley ausübte. Kai wusste, dass Riley schwul war. Jeder wusste das. Es war kein Geheimnis. Aber ihm war wahrscheinlich nicht bewusst, dass allein seine Anwesenheit Riley dahinschmelzen ließ. Es war schon eine ganz besondere Art von Folter.
»Ja, du hast recht«, sagte Riley, um das Schweigen zu brechen. Er konzentrierte sich auf sein Handy und versuchte, den Geruch zu ignorieren, den Kai verströmte. »Sie sollten bald hier sein. Ich wollte vielleicht auspacken, bevor sie ankommen«, fügte er seufzend hinzu. Aber dieses verflixte Wohnmobil stand ihm immer noch im Weg und von den Besitzern war weit und breit nichts zu sehen.
Kai hatte offensichtlich den gleichen Gedanken, denn er zog den Kopf aus dem Auto und sah sich wieder um. Immer noch niemand zu sehen. »Nun«, sagte er. »Sie sind kurz vor dir eingetroffen und sollten bald zurück sein. Wenn du willst, kann ich zur Anmeldung gehen und nachsehen, was dort los ist.«
Riley wusste, dass es unvermeidlich war, wollte die Grinters aber erst begrüßen, wenn es sich absolut nicht mehr verhindern ließ. Deshalb schüttelte er den Kopf und schaltete den Motor aus. Die Ruhe wirkte sofort beruhigend auf ihn.
»Danke, aber du hast recht. Sie kommen vermutlich bald zurück.« Er löste den Sicherheitsgurt und drückte den Rücken durch. »Ich kann die Zeit nutzen, um die Beine auszustrecken.«
Kai trat einen Schritt zurück, damit Riley die Tür öffnen konnte. Dabei fiel sein Blick wieder auf Rileys vollgeladenes Auto. Riley hatte sich etwas geschämt, als er Kais Reaktion auf das viele Gepäck erlebte. Aber was sollte er machen? Er musste die nächsten Tage in dieser Wildnis irgendwie überstehen und dazu brauchte er so viel Vertrautes wie möglich um sich herum.
Obwohl es erst eine Stunde her war, seit er angehalten und die Selfies geschossen hatte, war es ein gutes Gefühl, die Arme ausstrecken zu können. Als er mit seinen Dehnübungen aufhörte, sah er, dass Kai ihn lächelnd beobachtete. »Was ist denn?«, fragte er unsicher.
»Du bist ziemlich groß geworden, Kumpel«, sagte Kai schmunzelnd.
Seine Stimme klang so warmherzig, dass Rileys Körper natürlich beschloss, diese Wärme nach unten zu transportieren. Platz, mein Junge!
Kai zeigte auf den Rücksitz. »Pass auf«, sagte er. »Wie wäre es, die Zeit zum Ausladen zu nutzen? Du kannst das Auto später nachholen. Es ist nicht weit bis zu unserem Stellplatz.«
Riley überlegte. Es irritierte ihn, sich nicht an die geplante Reihenfolge halten zu können. Er hatte einen perfekten Platz ausgesucht, an dem er das Auto für die nächste Woche abstellen wollte. Aber spielte das eigentlich eine Rolle? Er würde im Laufe der nächsten Woche mehr als einmal mit solchen Problemen zu kämpfen haben. Am besten, er fand sich sofort mit dem Chaos ab und gewöhnte sich daran.
»Ja«, stimmte er zu und lächelte Kai an. »Ja, das hört sich vernünftig an. Wirklich.«
Kai klatschte die Hände zusammen. »Cool! Mach den Kofferraum auf und ich schnappe mir die erste Tasche.«
Riley sah ihn überrascht an. Kai wollte ihm helfen? Es war ein aufregender Gedanke, aber auch beängstigend. »Oh, n-nein«, stammelte er. »Es geht schon. Du musst dich bestimmt noch um deine eigenen Sachen kümmern.«
Kai zuckte mit den Schultern und steckte die Hände in die Taschen seiner Shorts. Seine Beine waren wie Baumstämme und mit dunklen Haaren bedeckt. Riley unterdrückte ein Schaudern, als er sich vorstellte, zwischen diesen Beinen eingeklemmt zu sein.
»Ist alles schon erledigt«, verkündete Kai fröhlich. »Ich habe nicht viel Gepäck dabei. Und ich helfe dir gerne.«
Die Vorstellung, die nächste Stunde gemeinsam zu verbringen, war einschüchternd. Aber wenn Riley ehrlich war, freute er sich auch darauf, mit Kai zusammen zu sein, ohne dass sie von den anderen gestört werden konnten. »Na gut«, sagte er nach kurzem Zögern. »Das wäre prima. Vielen Dank.«
Offensichtlich musste er sein Vorhaben, Kai aus dem Weg zu gehen, vorübergehend noch auf die lange Bank schieben.