Читать книгу Welchen Weg das Herz mir zeigt - Helen Juliet - Страница 9
Kapitel 4
ОглавлениеKai
Riley Anderson. Er war größer geworden und hatte seinen Babyspeck verloren, aber für Kai bestand kein Zweifel daran, dass es sich um Brendons kleinen Bruder handelte. Die dichten, blonden Haare waren unverwechselbar, genauso wie die haselnussbraunen Augen, die jetzt sichtbar wurden, weil Riley die Sonnenbrille abgerissen und sich zu Kai umgedreht hatte.
Riley starrte ihn einen Moment sprachlos an und drehte dann hektisch die Musik leiser, bis sie ein kommunikationsfreudigeres Level erreichte.
Kai hing mit einem glücklichen Lächeln an der Autotür und grinste ihn an. »Schön, dich zu sehen, Kumpel. Ich glaube, ich habe vorhin dein Auto am Straßenrand gesehen.«
»Oh j-ja?«, stammelte Riley.
»Ja«, sagte Kai. »Hattest du Probleme mit dem Motor?«
Riley blinzelte ihn an. Der Bart, den er jetzt trug, stand ihm gut. Er ließ ihn älter wirken. Kai rasierte sich immer glatt, weil er mit Bart wie ein Wilder ausgesehen hätte, nachdem er sich die Muskeln antrainiert hatte. Rileys Bart betonte das Kinn und sah aus, als würde er sich wunderbar weich anfühlen.
»N-nein, eigentlich nicht«, beantwortete Riley nach ein oder zwei Sekunden Kais Frage. »Das Navi hatte nur wieder einen Aussetzer. I-ich kann nicht glauben, dass du auch hier bist.«
»Ich weiß«, stimmte Kai ihm zu.
Er war selbst davon überrascht, wie sehr er sich freute. Es war nicht so, dass er Brendons versponnenen kleinen Bruder sonderlich vermisst hätte, aber trotzdem stand er jetzt hier und sprudelte fast über vor Freude bei der Vorstellung, dass sie gemeinsam Urlaub machten. Kai lernte gerne neue Freunde kennen, also lag es vielleicht daran, dass Riley endlich alt genug war, um sich mit ihm anzufreunden.
»Wie lange ist es eigentlich her? Vier Jahre? Fünf?«, fragte er.
Riley machte aus unerfindlichen Gründen einen nervösen Eindruck. Kai erinnerte sich daran, dass er schon als Kind sehr nervös gewesen und manchmal in helle Aufregung geraten war, um kurz darauf den Mund zuzuklappen und kein Wort mehr zu sagen. Er hoffte, dass sich das mit dem Alter gebessert hatte. Kai wollte ihn nicht einschüchtern, wie es ihm manchmal – unbeabsichtigt – bei anderen Leuten passierte. Riley war praktisch mit ihm aufgewachsen und musste wissen, dass Kai ein Softie und herzensguter Mensch war.
»Ja«, erwiderte Riley. »So um den Dreh. Brendon hat mir nicht gesagt, dass du auch kommen würdest.«
Kai lehnte sich mit einem Schulterzucken zurück, die Hand immer noch an der heißen Autotür. »Er hat mich erst vor einer Woche gefragt, ob ich auch kommen will. Aber es ist cool, dass du hier bist! Wir haben dich die letzten paarmal vermisst.«
Er meinte es ehrlich. Riley strahlte eine ruhige Präsenz aus, die Kai immer zu schätzen gewusst hatte. Selbst wenn er vollkommen überfordert war, versuchte er immer sein Bestes. Auch das bewunderte Kai. Und die Tatsache, dass Riley extra nach Cumbria gekommen war, um mit ihnen zu zelten, bestätigte ihn in seiner Einschätzung.
Riley sammelte abwesend einige leere Tüten auf und steckte sie in eine Tasche, die auf dem Beifahrersitz auf einem Stapel Decken lag. Dann sah er Kai an und runzelte die Stirn. »Du warst letztes Jahr nicht dabei.« Er schüttelte den Kopf und rutschte auf seinem Sitz hin und her. »Bei diesem Treffen in Dorset oder wo auch immer. Ich kann mich nicht erinnern, dass Brendon dich erwähnt hat.«
»Ähem.« Kai musste erst seine Gedanken sortieren. »Nein, das war ich nicht«, gab er zu. »Aber im Jahr davor war ich dabei. Und an Brendons Geburtstag haben wir dich auch vermisst.«
Wahrscheinlich hatten die glitzernden Lichter von London mehr zu bieten als das kleine Farnborough. Kai schämte sich nicht, das zuzugeben. Es war keine große Überraschung, dass Riley sein eigenes Leben lebte. Es war nur verdammt schade, dass er so viele Treffen verpasst hatte. Aber das machte es noch besser, dass er dieses Mal gekommen war. Und hoffentlich hatte er die Unbeholfenheit seiner Teenagerjahre abgelegt, sodass sie alle zusammen etwas unternehmen konnten.
Riley rieb sich die Nase. Es sah aus, als würde er Sommersprossen bekommen. »Äh, ja. Sorry. Nett, dich wiederzusehen.« Er schraubte eine Wasserflasche auf und trank den letzten Rest in einem Schluck. Kai fiel auf, dass er nervös mit dem Fuß wippte. Er hatte auch einen roten Kopf. Fast, als wäre er verlegen.
Kai trat stirnrunzelnd einen Schritt zurück. Vielleicht hatte er auf Riley, ohne es zu wollen, bedrohlich gewirkt. »Bleibst du die ganze Woche?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
Er war erleichtert, als Riley zu lachen anfing und die Spannung nachließ.
»Ja«, sagte Riley und rieb sich den Bart, der etwas röter war als der Rest seiner Haare. Dann zeigte er mit dem Daumen über die Schulter und drehte den Kopf um. »Sieht man das etwa nicht?«
Kai bückte sich und warf einen Blick in das Auto. Es war bis unters Dach mit Gepäck beladen. »Wow.« Er pfiff durch die Zähne. »Du machst wohl keine halben Sachen, wie?«
Riley zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht gut im Packen, aber ich kann mich noch an das Pfadfindermotto erinnern.« Er legte Daumen und kleinen Finger zusammen und salutierte mit den drei mittleren Fingern. »Allzeit bereit.«
Jetzt musste Kai auch lachen. Riley hatte ein so ernstes Gesicht gemacht, als würde er einen Eid ablegen. »Ja, stimmt«, sagte er nickend. »Aber es gibt einen Unterschied zwischen bereit für einen Campingurlaub und einem Umzug. Was zum Teufel hast du da alles reingeladen?«
Riley rieb mit den Fingern übers Lenkrad und drehte sich wieder um. Bevor er antwortete, kniff er die Augen zusammen und warf einen grimmigen Blick auf das Wohnmobil, das ihm im Weg stand. Kai nahm an, dass er deswegen nicht ausgestiegen war. Er wartete, bis der Fahrer zurückkam, damit sie beide weiterfahren konnten. Kai fühlte sich etwas unbehaglich, so über ihm aufzuragen.
»Das meiste sind Lebensmittel«, sagte Riley. »Kleidung, Schlafsachen. Und ich habe ein neues Zelt gekauft«, fügte er verlegen hinzu, als wäre es ihm peinlich, dass er noch kein Zelt gehabt hatte. Aber in London konnte man damit auch nicht viel anfangen, oder?
Kai drückte ihm die Schulter. »Nun, an Lebensmittel habe ich nicht gedacht. Also danke. Ich beteilige mich an euren Kosten.«
»Oh n-nein, schon gut«, stammelte Riley. »Es ist… für die Allgemeinheit, ja?« Er lächelte verlegen.
Kai kam sich vor, als würde er Riley nervös machen, was schade war. Aber er lächelte so beruhigend wie möglich zurück. Sie hatten eine ganze Woche Zeit, in der Riley ihn wieder besser kennenlernen konnte. Dann würde er hoffentlich erkennen, dass er nichts zu fürchten hatte.
»Das ist nett. Wirklich. Ich konnte nur meinen Rucksack mitbringen«, erklärte er. »Da passt nicht viel rein. Aber ich finde schon einen Weg, mich bei dir und deiner Familie zu revanchieren.«
Riley nickte, ließ die Hände in den Schoß fallen und starrte sie an. Er schien sich erst wieder fangen zu müssen, bevor er den Kopf umdrehte und Kai ansah. »Das ist cool. Danke. Ich bin sicher, ich brauche früher oder später meinen persönlichen Bear Grylls, um diese Woche zu überleben.«
Kai brach in lautes Gelächter aus. »Dafür hast du eine ganze Familie«, scherzte er, musste sich aber eingestehen, dass ihm der Gedanke gefiel, Riley auszuhelfen. »Aber so gut wie ich sind sie nicht«, fügte er augenzwinkernd hinzu. »Du kannst dich jederzeit melden.«
Es hörte sich an, als hätte Riley geschluckt. Aber ganz sicher war sich Kai da nicht, weil im Hintergrund immer noch leise Musik zu hören war. Er ignorierte es. Auch wenn Riley sich jetzt noch eingeschüchtert fühlen mochte, würde das am Ende dieser Woche nicht mehr der Fall sein. Dafür wollte Kai sorgen.
Riley fuhr sich glättend über die Shorts und zeigte dann mit dem Finger auf den Winnebago, der immer noch vor ihm auf dem Weg stand. »Also dann. Hast du eine Ahnung, wem dieses Gefährt gehört?«
Kai grinste. »Oh, ich glaube, die müssen sich noch eine Ausnahmegenehmigung oder so was besorgen, damit sie ihn hier abstellen dürfen.« Er rieb sich den Nacken. Es war wirklich verdammt heiß. »Kannst du dich noch an die Zwillinge erinnern?«
Rileys Kopf schoss herum. »Die Grinters?«, fragte er, als würden sie noch mehr Zwillinge kennen. »Daryl und Charlotte?«
Cameron Grinter war der Chef der Pfadfinder in der Region, in der der Vater von Riley und Brendon mit seiner Gruppe ansässig war. Es war also keine große Überraschung, dass er auch gekommen war. Seine Zwillinge waren einige Jahre jünger als Kai und damit etwas älter als Riley.
Kai zuckte mit den Schultern. Er wusste nicht, warum Riley ihn so beunruhigt ansah. »Ja. Ich wette, die hast du auch seit einigen Jahren nicht mehr gesehen.«
Riley knabberte an seiner Unterlippe und lenkte Kais Aufmerksamkeit damit auf seinen Mund. »Ich habe die meisten hier lange nicht mehr gesehen«, sagte er. »Von meiner Familie abgesehen.« Es hörte sich traurig an, was Kai ebenfalls nicht verstehen konnte. Schließlich hatte Riley noch nie viel Spaß am Camping gehabt.
»Dann wird es sein wie in alten Zeiten«, sagte er fröhlich. Riley erwiderte sein Lächeln und entspannte sich wieder etwas. Vielleicht war er nur nervös, weil er die Freunde seines Vaters wiedersehen würde. Kai fand sie alle sehr nett, aber daran konnte Riley sich möglicherweise nicht mehr erinnern. Er erinnerte sich wahrscheinlich nur noch an das, was ihm nicht gefallen hatte. Vor allem das Camping und alles, was dazugehörte.
Kai verspürte plötzlich das Bedürfnis, Riley zu behüten. Wenn Riley sich wirklich hilflos und ängstlich fühlte, wollte Kai alles in seiner Macht Stehende tun, um ihm den Aufenthalt hier zu erleichtern. Vermutlich war Riley nur gekommen, weil Phil seinen fünfzigsten Geburtstag feierte. Jedenfalls konnte Kai sich nicht vorstellen, dass er freiwillig und aus Spaß am Camping gekommen war. Auf ihn selbst traf das nicht zu, weil er jede Gelegenheit beim Schopf packte, um Zeit in der freien Natur zu verbringen.
Ja, entschied er. Er würde nicht von Rileys Seite weichen und dafür sorgen, dass Riley am Ende dieser Woche einen Campingurlaub mit anderen Augen sah.