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Kapitel 1
ОглавлениеRiley
Rileys Arsch fühlte sich vollkommen taub an, und zwar nicht auf die gute Art.
Er zog sich das T-Shirt von der Brust und trank den letzten Schluck abgestandener Cola. Sosehr er auch auf dem Sitz hin und her rutschte, es wurde nicht bequemer. Der Sicherheitsgurt drückte ihm an den Hals.
Er schaute auf den Bildschirm des Handys, das am Armaturenbrett in einer Halterung steckte. Es zeigte ihm an, dass er demnächst rechts abbiegen musste. Aber der Empfang war so schlecht, dass er nicht sagen konnte, ob die Abzweigung noch vor ihm lag oder ob er sie schon verpasst hatte. Diese kleinen Landstraßen waren alle nicht ausgeschildert. Er kämpfte mittlerweile schon mit seiner aufsteigenden Panik.
»Tief durchatmen«, beruhigte er sich selbst. Glücklicherweise tauchte in diesem Moment eine unbefestigte Parkbucht vor ihm auf. Er bremste ab, brachte den Wagen zum Stehen und wartete, bis die Karte auf seinem Handy sich aktualisiert hatte. Er lag sowieso gut in der Zeit und konnte sich eine kurze Pause erlauben.
Er nahm das Handy aus der klauenartigen Vorrichtung, die in einen der Lüftungsschlitze geklemmt war. Betty, sein VW Polo, hatte zwar keine Klimaanlage, aber sie gab sich alle Mühe, die warme Außenluft ins Wageninnere zu blasen.
Riley legte den Arm in die Tür, wo sich normalerweise die Fensterscheibe befunden hätte. Selbst das offene Fenster konnte die gleißende Hitze der Nachmittagssonne, die über ihm am Himmel stand, kaum dämpfen. Er rieb sich den schweißbedeckten Nacken und aktualisierte die App in der Hoffnung, sein Navi damit aus dem Tiefschlaf zu wecken.
Er wollte sich nicht verspäten, auch wenn er nur seinen eigenen Terminplan einhalten musste. Und er wollte sich nicht auf den kleinen Landstraßen von Cumbria verfahren. Es würde zwar erst in einigen Stunden dunkel werden, aber dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Je früher er den Campingplatz erreichte, umso besser.
Er stöhnte leise und schlug mit der Stirn gegen das Lenkrad, während sein Handy überlegte, ob es die Route neu laden sollte oder nicht. »Ich will kein Spielverderber sein«, murmelte er und schlug immer wieder gegen den abgewetzten Lederbezug des Lenkrads. »Nein, das will ich nicht.«
Camping. Wer immer sich diesen verdammten Unsinn ausgedacht hatte, sollte bestraft werden.
Er hatte schon als Kind mehr als genug solcher Ausflüge ertragen müssen. Eiskaltes Wasser, undichte Luftmatratzen und Dosenfraß. Brennnesseln und Mückenstiche, praller Sonnenschein und Wolkenbrüche und nur eine durchhängende Plane, unter der man Schutz suchen konnte.
Wie viele Sommer hatte er damit verbracht, von einem Pool und All-you-can-eat-Büfetts zu träumen, die seine Mitschüler auf ihren Reisen hatten? Als Teenager hatte er dann endlich rebelliert, musste nicht mehr mitfahren und durfte die Ferien zu Hause verbringen. Und jetzt – nachdem er gedacht hatte, nie wieder einen Schlafsack sehen zu müssen – ging es von vorne los. In Cumbria.
Er schlug wieder stöhnend mit dem Kopf gegen das Lenkrad. »Nein, ich bin kein Spielverderber«, flüsterte er und schluckte die Panik runter, die ihm in die Kehle kroch.
Durchs Seitenfenster der Beifahrerseite nahm er eine Bewegung wahr. Er hob den Kopf und sah eine neugierige Kuh, die sich von dem angrenzenden Feld genähert hatte und ihn und sein vor sich hin brutzelndes Auto neugierig beobachtete.
Ihr plötzlicher Anblick brachte ihn zum Lachen und seine Anspannung ließ ein wenig nach. Es passierte ihm nicht alle Tage, dass er sich unverhofft einem so großen Nutztier gegenübersah.
»Hallo du«, sagte er leise, während die Kuh ungerührt vor sich hin kaute. Riley streckte die Hand aus und berührte vorsichtig ihr feuchtes Maul.
Sie erschreckte ihn mit einem lauten Muh. Schnell zog er die Hand wieder zurück, musste dann aber über sich selbst lachen.
»Ja«, sagte er nickend und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, die schweißnass an seinem Kopf klebten. »Ich frage mich auch, was ich hier verloren habe.«
Ein schlammbedeckter, verstaubter weißer Transporter kam die Straße entlang, aber da Riley ihm nicht im Weg stand, drehte er sich wieder zu der Kuh um.
»Uff. Dir gefällt es hier vermutlich, wie? Viel frische Luft und außer den anderen Kühen niemand, der dir auf die Nerven fällt.«
Muh.
Obwohl ihm schmerzhaft bewusst war, wie weit er sich von jeder Zivilisation entfernt befand, musste er zugeben, dass die Landschaft einen gewissen Reiz besaß. Durch die Trockenheit war sie mehr gelb und braun als grün, aber die sanften Hügel beruhigten seine angespannten Nerven. Die Luft war auf eine Weise frisch, wie man es auf der M25, Londons ständig verstopfter Ringautobahn, niemals erleben würde.
Wenn er sich auf die erfreulichen Kleinigkeiten konzentrierte, würde sich dieser Urlaub vermutlich wesentlich angenehmer gestalten. Es war zwar immer noch nicht das, was er sich darunter vorstellte, aber immerhin musste er eine ganze Woche lang das Büro nicht sehen.
Nachdem die App sich endlich wieder sortiert hatte und seinen Standpunkt anzeigte, ließ er den Motor wieder an. Die Kuh verabschiedete sich mit einem letzten, verstimmten Muh und marschierte auf die Weide zurück. »Tschüss, Daisy«, rief er und winkte ihr nach. Sie wedelte mit dem Schwanz.
Er rüttelte leicht an seinem Handy, um sich zu versichern, dass es fest in seiner Halterung hing, und stupste es sicherheitshalber noch an. Es rührte sich nicht vom Fleck und die Karte auf dem Bildschirm blinkte ihm aufmunternd zu. Riley warf einen Blick in den Rückspiegel für den Fall, dass sich ein weiteres Auto von hinten anschlich.
Zwischen Rücksitz und Kofferraum war gerade noch genug Platz, um aus dem Fenster zu sehen. Der Rest war voll beladen mit allem, was er für ein menschenwürdiges Dasein nötig – und nicht so nötig, wie er zu seiner Schande eingestehen musste – hatte. Selbst auf dem Beifahrersitz und im Fußraum lag Gepäck. Er hatte dort warme Decken und mehrere Kissen verstaut. Sicherheitshalber.
Riley warf einen letzten Blick auf die Karte und versicherte sich, dass die Luft immer noch rein war (und die Straße frei), dann legte er einen Gang ein und fuhr los.
Zwanzig Minuten. Das war die Fahrtzeit, die seine App anzeigte. Dann würde er sein Ziel erreicht haben. Er wollte das Beste aus diesen letzten Minuten der Einsamkeit machen und stellte die Lautsprecher, die mit seinem Handy per Bluetooth verbunden waren, auf volle Lautstärke. Die Foo Fighters spielten und luden ihn ein, lauthals mitzusingen.
Jetzt musste er nur noch aus diesem Auto raus, die Beine ausschütteln und all die komfortablen Reiseziele vergessen, die er in sieben Stunden hätte erreichen können, wenn er sich vernünftigerweise in ein Flugzeug gesetzt hätte. »Es geht nicht nur um dich«, redete er sich beruhigend zu und holte tief Luft. Er hatte die Einladungen seiner Familie jahrelang abgewimmelt. Er war ihnen also einiges schuldig.
Während er der immer kurviger werdenden Landstraße folgte, ging er in Gedanken die Maßnahmen durch, mit denen er sich die nächste Woche so angenehm wie möglich gestalten wollte, weil… ja, er war dazu verdammt, sie in einem Pfadfinderlager zu verbringen. Ja, ihm standen für absehbare Zeit Gemeinschaftsduschen und Essen vom Lagerfeuer bevor. Aber er würde auch seine Familie sehen, die er in den letzten Monaten vermisst hatte. Er wünschte nur, sie wären nicht solche Frischluftfanatiker.
»Ladegerät fürs Handy, tragbare Powerbank im Auto«, zählte er leise auf, während er um eine Ecke bog, hinter der die Straße steil anstieg und zwischen Bäumen verschwand. Er atmete langsam aus und konzentrierte sich. »Nagelneue Luftmatratze mit batteriebetriebener Pumpe. Knuddeliger Schlafsack, pfiffige, neue Garderobe im ländlichen Stil und literweise Schnaps.« Er lächelte über sich selbst. »Wenn das nicht umwerfend wird!«
Er hätte sich sogar beinahe geglaubt.
Doch, wirklich. Es würde nett werden. Er war kein verwöhnter Großstadtbengel. Er würde diesen Urlaub so genießen, wie er beabsichtigt war. Sein Dad liebte nichts mehr als Campingurlaub. Und er feierte seinen fünfzigsten Geburtstag. Also wurden ihm alle Wünsche erfüllt. Es würde Unmengen zu Essen geben (selbst wenn es aus der Dose kam), Spaß und Spiele und ausgiebigen Tratsch mit seiner Mum. Wenn Riley mit ihr telefonierte, war es hoffnungslos. Immer wurde sie irgendwie abgelenkt. Und auf seine E-Mails antwortete sie entweder gar nicht oder nur mit einer Reihe Emojis. Mit seinem Bruder hatte er auch schon lange keine Neuigkeiten mehr ausgetauscht. Riley war fest davon überzeugt, dass diese Aussichten einen Campingurlaub mitten in einer sommerlichen Hitzewelle wert waren.
Außerdem waren sie im Lake District. Hier war es nicht nur atemberaubend schön, hier gab es auch – wie der Name schon sagte – unzählige Seen. Und wenn es ihm zu viel wurde, musste er nur in den nächsten See springen und sich abkühlen.
Traurigerweise würde es niemanden geben, für den er mit dem Hintern wackeln konnte. Dort, wo er normalerweise seinen Urlaub verbrachte – in Resorts mit schwulen Gästen –, gab es am Swimmingpool oft Männer, die seine schlanke Gestalt zu schätzen wussten. In dem halben Dutzend Urlaubsreisen, seit er von zu Hause ausgezogen war, hatte er nicht wenige Affären gehabt.
Dieser Campingplatz war für Führungspersonal und deren Familien, nicht für die eigentlichen Pfadfinder. Daher würden sich dort nur einige Dutzend Erwachsene und der eine oder andere Teenager aufhalten. Riley seufzte. Ihm stand ein gesunder Urlaub bevor – wenn man von dem Bier und dem Schnaps absah, mit dem er sich reichlich eingedeckt hatte.
Aber er würde es schon schaffen, eine Woche ohne Augenschmaus zu überleben, oder?
Wahrscheinlich.