Читать книгу Welchen Weg das Herz mir zeigt - Helen Juliet - Страница 14
Kapitel 9
ОглавлениеKai
Kai nippte an der köstlichen, eisgekühlten Limonade, die ihm die Grinters angeboten hatten, nachdem die Zwillinge ihn überredet hatten, sie zum Wohnmobil zu begleiten. Er wusste nicht recht, was er hier noch tun sollte. Das einzig Sinnvolle, was er bisher getan hatte, war, ihnen beim Ausladen des Gepäcks zu helfen, das in dem riesigen Wohnmobil verstaut war. Jetzt bestanden sie darauf, ihn wie einen Gast zu behandeln.
»Oh nein, mein Bester«, sagte Pamela, als er die Flasche abstellte, um ihnen beim Aufbau eines Zelts zu helfen. »Bleib sitzen und ruh dich aus. Du musst einen anstrengenden Tag hinter dir haben.«
So schlimm war sein Tag eigentlich gar nicht gewesen. Jetzt saß er auf der Treppe des Wohnmobils und sah zu, wie die Zwillinge ihre nagelneuen Zelte mit einer Effizienz aufbauten, als wäre es ein Wettlauf um den ersten Platz. Cameron war mit dem großen Zelt beschäftigt, in dem er und Pamela schliefen. Pamela lief aufmerksam um ihn herum und reichte ihm, was immer er als Nächstes brauchen würde, ohne dass er sie erst darum bitten musste.
Sie trug eine schicke beige Hose zu braunen Reitstiefeln, einer pfirsichfarbenen Bluse und einem gemusterten Schal. Auf Kai wirkte sie in ihrer Garderobe wie der Nachtisch in einem Luxusrestaurant. Als er noch jünger war, hatte sie ihn immer nervös gemacht. So ähnlich wie seine Hockeytrainerin, Ms. Ferguson. Es war, als wüsste sie genau, wie man jemandem den Hintern versohlte.
Kai räusperte sich und rutschte unruhig hin und her. Er schweifte ab. Nur ein Bier, und schon hatte er unanständige Gedanken über eine verheiratete Frau. Als er noch ein Teenager mit übersprudelnden Hormonen war, mochte das harmlos gewesen sein; aber jetzt – nachdem er mehr als genug sexuelle Erfahrungen gesammelt hatte – fühlte es sich plötzlich an, als wäre es tatsächlich eine realistische Option.
»Alles in Ordnung, mein Bester?«, fragte Pamela und musterte ihn von oben bis unten.
Kai nickte und versuchte, mit dem Mund nach dem Strohhalm zu fischen, spritzte sich aber stattdessen Limonade ins Gesicht. Na toll. »Ja, danke, Mrs. G!«, rief er und wischte sich das Kinn ab.
»Ha!«, rief Charlotte triumphierend, als sie den letzten Zeltpflock in den Boden gehämmert hatte. Daryl streckte die Zunge raus und sortierte seine letzten beiden Pflöcke. Charlotte warf ihm einen Handkuss zu. Vermutlich war es tatsächlich ein Wettbewerb gewesen.
Während die Grinters sich beim Aufpumpen ihrer Luftmatratzen ablösten, zog Kai gelangweilt sein Handy aus der Tasche. Er hatte es während der Anreise oft benutzt. Der Akkustand war schon ziemlich niedrig und er wusste nicht, wann er es wieder aufladen konnte. Vermutlich gab es in der Rezeption Steckdosen, die er benutzen konnte, aber er wollte das Handy nicht so lange unbeaufsichtigt lassen. Da es sowieso nur noch einen einsamen Ladebalken anzeigte, beschloss er, die letzten Reste an Energie zu nutzen, bevor sie sinnlos aufgebraucht wurden.
Normalerweise hatte er nicht viel Zeit für Sachen wie Facebook, deshalb war es relativ neu für ihn, hier zu sitzen und sich anzusehen, was seine Freunde gerade machten. Er schmunzelte, als er die Selfies sah, die Brendon und Slady während ihrer Fahrt gepostet hatten. Einige andere seiner Freunde waren im Fitnessstudio oder mit ihren Kindern unterwegs. Es gab die üblichen Fotos vom Abendessen und der Ausgehgarderobe – alles, was für einen Samstagabend so gang und gäbe war.
Kai hielt mit dem Scrollen inne, als ein vertrautes Gesicht in seinem Newsfeed auftauchte. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, mit Riley befreundet zu sein. Aber da war er und trug dasselbe Hemd wie vorhin, als sie zusammen sein Zelt aufgebaut hatten.
Wunderschöne Aussicht auf dem Weg in den Familienurlaub!, stand unter dem Bild. Es war ein ziemlich dämliches Foto, aber Kai musste grinsen und ihm wurde warm ums Herz.
Ohne lange nachzudenken, wechselte er auf Rileys Seite und schaute sich die älteren Posts an. Riley beschwerte sich oft über den öffentlichen Nahverkehr in London, teilte Artikel über LGBT-Angelegenheiten, begeisterte sich für Kochsendungen und postete jeden Freitag Fotos von kleinen Hündchen. Kai kam sich fast vor, als würde er Riley ausschnüffeln. Aber er wollte seine Wissenslücken über Brendons Bruder füllen, den er seit Jahren nicht gesehen hatte.
Kai wünschte sich plötzlich, das wäre nicht der Fall gewesen. Dass Riley nicht das Bedürfnis verspürt hätte, sich von den anderen abzusetzen und sein eigenes Leben zu führen. Sicher, Riley schien oft mit Freunden in den Klubs unterwegs zu sein, aber es wäre trotzdem nett gewesen, ihn gelegentlich zu sehen. Ihm wurde bewusst, dass er Riley vermisste, was nun wirklich seltsam war, weil Riley ein unglaublich schüchterner Junge gewesen war, der die meiste Zeit kein Wort über die Lippen gebracht hatte. Aber er war im Hintergrund immer dabei gewesen, wenn Kai und Brendon ihr eigenes Ding gemacht hatten.
Jetzt war Riley zurück und Kai hoffte, dass er vielleicht etwas offener und selbstbewusster geworden war. Riley hatte keinen Grund, sich vor ihm und Brendon in Acht zu nehmen. Er mochte sich für andere Dinge interessieren als sie, aber das hieß noch lange nicht, dass sie keine Gemeinsamkeiten finden konnten, oder?
Kai scrollte Rileys Profil wieder in die Gegenwart zurück und verfolgte anhand der Fotos, wie sehr Riley sich verändert hatte, seit er in London lebte. Die größte Veränderung lag ungefähr zwei Jahre zurück, als Riley unübersehbar erwachsen geworden war.
Kais Blick blieb an einem Foto hängen, das Riley im Garten eines Pubs zeigte. Er trug ein rosa Hemd, das oben nicht ganz zugeknöpft war. Einen Bart hatte er damals noch nicht. Die Sonne schien und Riley lachte herzlich. Es war ein etwas unbeholfener, aber liebenswerter Schnappschuss, auf dem er absolut unbekümmert und frei wirkte.
Das Bild nahm Kai auf unerklärbare Art gefangen. Er wusste nicht, wie lange er es schon angestarrt hatte, als eine Hupe ertönte und er erschrocken zusammenzuckte. Sein Daumen verrutschte und die Seite verschwand vom Bildschirm. Das Handy verlor wieder den Empfang und da er es sowieso nicht aufladen konnte, schaltete er es ab.
Er ging in den Winnebago und stellte seine leere Limonadenflasche in die Kiste zurück. Der Boden des Wohnmobils war im Wohnbereich mit Teppichboden ausgelegt, in der Küche mit Linoleum. Dort stand nicht nur ein normaler Mülleimer, sondern auch einer für Recyclingmaterial. Die Fahrerkabine lag am entgegengesetzten Ende der Küche und dazwischen standen ein gepolstertes Ledersofa und ein großer Flachbildfernseher. Es wirkte fast wie das Zimmer eines Nobelhotels.
Ihm würde vermutlich schlecht werden, wenn er seitlich zur Fahrtrichtung auf dem Sofa sitzen und fernsehen würde. Aber vielleicht gewöhnte man sich auch daran. Er lachte leise. Bescheiden sah definitiv anders aus.
»Hallo, Kai!«, rief Charlotte, als er wieder nach draußen kam. Sie trug jetzt eine große Sonnenbrille – bernsteinfarben wie ein guter Whisky – und Kai sah seine Reflexion in den verspiegelten Gläsern. »Kannst du uns helfen, die Taschen wieder wegzupacken?«
»Sicher«, sagte er und war froh, etwas zu tun zu haben.
Als er eine der Taschen aufhob, fiel etwas Schweres heraus. Es war ungefähr zwanzig Zentimeter breit und schwarz und sah aus, als wäre es der Controller einer Spielekonsole, auch wenn es ein Modell war, das Kai nicht erkannte. Unter den vielen Knöpfen waren auch zwei kleine Joysticks – vermutlich für die Daumen – und ein Bildschirm, der den gesamten Mittelteil des Geräts einnahm.
»Was ist das?«, fragte er neugierig, als er es aufhob. Glücklicherweise schien es nicht beschädigt worden zu sein.
»Oh… nichts«, sagte Daryl, nahm es Kai aus der Hand und warf es in sein Zelt. »Komm, ich helfe dir.«
Kai runzelte die Stirn, als Daryl ihm hastig aufräumen half. Glaubte er, dieses Ding – was immer es auch sein mochte – wäre bei Kai nicht in sicheren Händen? Er mochte groß sein, aber deshalb war er noch lange kein Tollpatsch, der alles zerbrach. Schließlich arbeitete er mit den Händen für seinen Lebensunterhalt.
Seine Verärgerung lenkte ihn ab und als er eine leere Tasche aufheben wollte, fand er sich plötzlich an Charlottes Seite.
»Ups«, sagte sie kichernd und drückte ihn kurz an sich, bevor sie ihn wieder losließ. »Ich bin so froh, dass du auch hier bist. Es ist wie in alten Zeiten. Die ganze Bande ist gekommen.«
Kai lächelte nachsichtig und tat so, als wäre ihm nicht aufgefallen, dass sie sich absichtlich angeschlichen hatte. Sie und Daryl hatten nie zu seinem und Brendons engem Freundeskreis gehört. Die beiden hatten sich immer als etwas Besseres betrachtet.
Pamela schnalzte mit der Zunge. »Ich glaube doch, ihr seid seitdem alle etwas erwachsener geworden. Meint ihr nicht auch, meine Lieben?« Sie zwinkerte Kai zu und biss sich auf die perfekt geschminkten Lippen, bevor sie wieder im Wohnmobil verschwand. »Wer hat Lust auf Bellinis?«, rief sie von drinnen.
Kai schluckte und beschloss, für die nächste Zeit mehr Abstand zum weiblichen Teil der Grinters zu halten.
Während er zum Gepäckraum auf der Rückseite des Winnebago ging, warf er einen Blick auf Rileys Zelt, das nur gut zehn Meter entfernt stand. Riley war nicht mehr allein. Phil und Bev waren mittlerweile eingetroffen. Da konnte Jake auch nicht allzu fern sein.
»Hey«, rief er, nachdem er die Taschen verstaut hatte. »Rileys Familie ist gekommen. Ich will sie begrüßen. Bis später!«
Charlotte, die zwei Sektgläser in den Händen hielt, verzog das Gesicht und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber Cameron nickte ihm zu. »Bis später, Kai.«
»Tschüss, mein Bester«, gurrte Pamela über den Rand ihres Sektglases und wackelte mit den Fingern.
Kai wartete ab, bis er hinter dem Wohnmobil außer Sicht war. Dann schüttelte er den Kopf und joggte los. Wie gut, dass er sich schon vorgenommen hatte, Riley öfter zu sehen und Neuigkeiten mit dem Rest der Andersons auszutauschen. Er wusste wirklich nicht, wie lange er es noch ausgehalten hätte, von Pamela Grinter wie eine besonders schmackhafte Vorspeise gemustert zu werden.
Als er auf Rileys Zelt zuging, stellte er fest, dass Brendon offensichtlich noch nicht eingetroffen war. Egal. Er wollte auch die anderen begrüßen, also legte er für die letzten Schritte noch einen Gang zu.
Sie standen um Rileys Zelt versammelt und bewunderten es. Kai konnte sie gut verstehen. Der ganze Platz sah aus, als käme er direkt aus einem Buch von Doktor Seuss oder von den Teletubbies. Alles war bunt, glitzerte und drehte sich. »Wow«, sagte er, als er zwischen Phil und Riley zum Stehen kam.
Die Andersons drehten sich zu ihm um. Bev hielt eines der Marmeladengläser mit den Teelichtern in den Händen.
»Kai!«, riefen Rileys Eltern.
Er warf die Arme um Phil und drückte ihn kurz an sich. »Hallo, Kumpel«, begrüßte er ihn und drehte sich zu Rileys Mutter um. »Du siehst prima aus, Bev«, sagte er und umarmte sie ebenfalls. Sie freute sich über das Kompliment und schlug ihm lachend an den Arm. Kai drehte sich jetzt zu Riley um, der sich offensichtlich sehr freute, seine Familie bei sich zu haben. Es passte zu ihm. »Es ist wunderschön geworden«, sagte Kai aufrichtig und machte eine ausholende Geste mit dem Arm. »Sieht aus wie die Illustration zu einem Artikel über Campen mit Stil.«
Riley lächelte strahlend. »Äh… danke«, sagte er und rieb sich über den kurzen Bart.
Kai sah sich um. »Wo ist denn euer großer Junge?«
»Hier drinnen.« Jake lag auf Rileys Bett und war mit seinem Handy beschäftigt. Der weiße Terrier der Familie hatte es sich zu seinen Füßen bequem gemacht. Jake salutierte, aber weder er noch die Hündin sahen aus, als wollten sie demnächst ihr gemütliches Lager aufgeben. Wie hieß sie noch? Bia? Sie war richtig niedlich.
Kai salutierte zurück, obwohl Jake immer noch auf den Bildschirm seines Handys starrte. Seine Mum intervenierte. »Komm schon, du Faulenzer«, rief sie und trat gegen die Luftmatratze, ohne auf Rileys Protest zu achten. »Die Zelte bauen sich nicht von selbst auf.«
Jake seufzte dramatisch, rollte von der Matratze und stand auf. »Hallo, Kai«, sagte er und reichte ihm die Hand. »Ich habe einen Job gefunden. Hat Brendon dir schon davon erzählt?«
Kai zog die Augenbrauen hoch. »Wirklich? Mann, das ist ja prima! Als was?«
Jake nickte. »Im Zentrum für Wassersport. Nachdem ich jetzt den Realschulabschluss habe, kann ich sogar richtig angestellt werden. Nicht nur als Aushilfe oder so. Ich arbeite an der Rezeption und unterrichte mit George Kajakfahren. Und ich lasse mich von Dad als Gruppenleiter für die Pfadfinder ausbilden, aber das ist kein richtiger Job. Das mache ich nur aus Spaß.«
Die Worte sprudelten immer schneller aus ihm heraus und er rollte die Zunge zwischen den Zähnen. Kai beobachtete ihn genau und nickte dazu. »Das ist wirklich cool. Gut gemacht. Ich wette, es wird dir viel Spaß machen.«
Jake nickte zustimmend. »Und ich kann das. Ich kann das echt gut machen«, sagte er selbstbewusst.
Durch seine Freundschaft mit Brendon kannte Kai Jake schon seit dessen frühester Kindheit. Er war ein lieber Junge und liebte Wassersport über alles. Kai freute sich, dass es ihm so gut ging.
Bev und Phil beobachteten Jake stolz. Jake hatte ein Jahr länger für seinen Schulabschluss benötigt, aber er hatte sich sehr viel Mühe gegeben. Und wenn er jetzt schon einen Job gefunden hatte, der so gut zu ihm passte, waren die Noten fast egal.
Riley legte seinem Bruder den Arm über die Schultern und zog ihn an sich. »Gut gemacht«, flüsterte er ihm zu. Jake drückte ihn ebenfalls.
Kai zeigte auf den Dachgepäckträger von Phils Wagen, auf dem zwei Kajaks festgeschnallt waren. »Wollen wir gelegentlich ein Wettrennen machen?«, fragte er Jake.
Jakes Augen funkelten. »Wirklich?«
»Worauf du dich verlassen kannst«, versicherte ihm Kai.
»Dann kommt jetzt«, unterbrach sie Phil und legte Jake die Hand auf die Schulter. »Lass uns den Rest des Gepäcks aus dem Auto holen. Ihr könnt euch weiter unterhalten, wenn die Zelte aufgebaut sind.«
Jake nickte begeistert. »Ja, Dad. Gute Idee. Das machen wir.«
Kai lächelte, als die drei Andersons zurück zum Auto gingen. Riley wollte ihnen folgen, aber Kai berührte ihn kurz am Arm, um ihn zurückzuhalten. »Das ist wirklich cool«, sagte er. Es hatte ihm vorhin nicht gefallen, wie abschätzig sich die Grinters geäußert hatten. Sie hatten den Luxus eines Wohnmobils, aber Riley hatte hart gearbeitet, um sich mit einfachen Mitteln bequem und gemütlich einzurichten. Dafür respektierte Kai ihn.
Riley senkte den Blick und biss sich auf die Lippen. Er freute sich offensichtlich über das Lob. Kai hatte ein merkwürdiges Gefühl in der Brust und stellte fest, dass es ihm sehr gefiel, Riley so glücklich zu sehen.
»Danke«, sagte Riley und steckte die Hände in die Taschen. »Du kannst, äh… jederzeit vorbeikommen, wenn du willst.«
»Das werde ich tun«, sagte Kai und meinte es ernst.