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Kapitel 2

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Kai

Es gab eine Grenze. Niemand konnte sich ständig Fotos von Schafen ansehen, ohne den Verstand zu verlieren.

»Oh ja, sie ist süß«, sagte Kai mit einem verkniffenen Lächeln. Er sah nervös auf die leere Landstraße vor ihnen, dann zu dem Fahrer des schmutzigen, weißen Ford Transit, der ihn mitgenommen hatte, als er am Straßenrand gestanden und den Daumen rausgestreckt hatte. Der Mann hatte eine Hand am Lenkrad, mit der anderen hielt er Kai ein abgewetztes, kleines Fotoalbum vor die Nase.

»Ah ja«, sagte er liebevoll. »Das ist Sally.«

Der Mann trug trotz der brütenden Hitze Wachsjacke, Schiebermütze und Gummistiefel. Seine Backen waren von einem Spinnennetz geplatzter Äderchen überzogen und seine Hände hart und rissig durch Jahrzehnte körperlicher Arbeit.

Kai hatte das Gefühl, einem Mann wie ihm genauso viel oder wenig vertrauen zu können wie jedem anderen auch. Aber er hatte nicht mit Sally gerechnet. Oder Jem. Oder Florence.

»Sie hat im letzten Jahr einen Preis für mich gewonnen, mein schönes Mädel.«

Kai musste über den Enthusiasmus des Mannes lachen. Wilbur – so hatte er sich vorgestellt – war ohne Zweifel verdammt stolz auf seine Tiere. Kai hätte Schafe bisher nicht als hübsch oder hinreißend bezeichnet und wenn, dann nur, wenn sie sich im Lammragout seiner Mum befanden. Aber Sallys Gesicht konnte vermutlich auf seine Art durchaus hübsch genannt werden.

Kai fragte den Mann nicht, ob sie in einem Ragout geendet hatte.

Wilbur steuerte seinen Transporter mit der Sicherheit eines Mannes, dem die Landstraße mit ihren Kurven und Windungen seit Jahren vertraut war. Er wusste genau, wann er ausweichen oder abbremsen musste. Trotzdem ließ Kai die Karte auf seinem Handy nicht aus den Augen, um sicherzugehen, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden.

Er war mit dem Bus vom Bahnhof in Oxenholme bis in die kleine Stadt Broughton-in-Furness gefahren. Danach musste er sein Glück als Anhalter versuchen, um sein Ziel in Seathwaite zu erreichen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Durch seine Größe musste er sich wenig Sorgen machen, wenn er sich fremden Menschen anvertraute. Er bezweifelte also, dass es für ihn gefährlich war, als Anhalter zu fahren. Eher hatte er dadurch einen Nachteil, weil viele Autos an ihm vorbeigebraust waren. Vor allem, wenn sie von Frauen gefahren wurden. Sie hatten wahrscheinlich nur einen Blick auf seine Muskeln und Tätowierungen geworfen und entschieden, dass es so besser wäre.

Kai konnte ihnen dafür keine Vorwürfe machen. Aber die Sonne brannte so erbarmungslos heiß vom Himmel, dass er mehr als froh gewesen war, als Wilburs weißer Transporter am Straßenrand anhielt. Wilbur hatte die Beifahrertür geöffnet und ihn aufgefordert einzusteigen, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Nachdem sie losgefahren waren, hatte er Kai gesagt, Seathwaite läge nicht direkt auf seinem Weg und er müsste einen kleinen Umweg machen. Er schien sich jedoch so über die Gesellschaft zu freuen, dass Kai mehr als bereit war, im Austausch für die Fahrt seine Schafe zu bewundern.

Durch das offene Seitenfenster wehte erfrischend der Fahrtwind und kühlte ihm die Haut. Kai hatte durch seine Arbeitsuniform nicht oft die Gelegenheit, die Tattoos auf seinen Armen zu zeigen. Er legte den linken Ellbogen auf den Fensterrahmen und genoss den Sonnenschein. Sie fuhren an einem kleinen, silbernen Auto vorbei, das am Straßenrand parkte. Er musste lächeln, als er die Kuh sah, die neugierig ins offene Fenster des Autos schaute und den Fahrer inspizierte.

Dort, wo er gelebt hatte, waren immer Kühe und Schafe auf den Wiesen gewesen. Sie grasten zwischen den Schulen und Krankenhäusern, den Wohn- und Gewerbegebieten. Hier gab es nichts außer dem gelegentlichen Feldweg oder Bauernhof. So weit das Auge reichte, war nur Natur zu sehen. Kai atmete die frische Luft tief ein und grinste.

Er war schon seit Jahren nicht mehr richtig zelten gewesen. Jessica, die keine Naturliebhaberin war, hatte sich immer standhaft geweigert, auch nur ein wenig abenteuerlich zu sein. Kai hätte sich vermutlich denken können, dass ihre Beziehung nicht für die Ewigkeit bestimmt gewesen war.

Er seufzte und ließ sich von Emma, einem niedlichen Herdwicklamm, ablenken. Sie war viel schwärzer als die anderen Schafe, die er schon bewundert hatte.

Er hatte Brendons Einladung, die Ferien mit dessen Familie zu verbringen, vor allem deshalb angenommen, weil er nicht allein Urlaub machen wollte. Seit seiner Trennung von Jessica waren sechs Monate vergangen. Sie waren als Freunde auseinandergegangen, weil sie beide wussten, dass sie nicht füreinander bestimmt waren. Aber manchmal, in Zeiten wie diesen, vermisste er es, in einer Beziehung zu sein.

Seit er Single war, traf er sich auch nicht mehr so oft mit Brendon und Slady, die wirklich alles zusammen unternahmen. Sie vermittelten ihm nie das Gefühl, unwillkommen zu sein, aber irgendwann kam immer der Punkt, an dem sie Zärtlichkeiten austauschten. Dann entschuldigte sich Kai und ging, weil er sich nicht wie das fünfte Rad am Wagen fühlen wollte.

Aber diese Woche würde er nicht nur mit ihnen verbringen, und auch das war einer der Gründe, warum er die Einladung gerne angenommen hatte. Brendons Eltern hatten ihn immer wie ihren eigenen Sohn behandelt und seine jüngeren Brüder waren – trotz des Altersunterschieds – auch recht cool.

Riley, den mittleren Bruder, hatte er allerdings schon seit einigen Jahren nicht gesehen. Er würde dieses Mal bestimmt auch nicht kommen, weil er sich schon immer für andere Dinge interessiert hatte als der Rest der Andersons.

Trotzdem hatte Kai nie etwas gegen ihn gehabt. Riley hatte nie viel geredet und war immer mit irgendwelchen merkwürdigen Projekten oder Hobbys beschäftigt gewesen. Beispielsweise seine Besessenheit mit der vorletzten Olympiade. Oder das Notebook, das er ständig mit sich rumschleppte, während er sich für Astronomie interessierte. Er müsste jetzt etwas älter sein, oder nicht? Etwa zwanzig oder einundzwanzig. Kai hob die Augenbrauen. Es wäre interessant zu sehen, was aus ihm geworden war.

»So«, verkündete Wilbur und klappte sein Fotoalbum zusammen wie eine Krabbe ihre Scheren. Dann steckte er es weg. »Seathwaite, mein Junge.«

Sie waren langsamer geworden, als eine kleine Ansammlung von Häusern sichtbar wurde. Sie bildeten eine Mischung aus rundlichen Pflastersteinen und nicht mehr ganz weißer Tünche. Die meisten Häuser hatten zwei Stockwerke und waren von bäuerlichen flachen Nutzgebäuden umgeben. Als sie an einem der Schwingtore anhielten, nickten die Menschen ihnen zu oder winkten zur Begrüßung.

Kai musste grinsen, als er sich in seinem Sitz umdrehte, um sich die schroffen Hügel zu betrachten, die das Dorf von drei Seiten umgaben. Auf der vierten Seite, hinter dem rostigen Tor, erstreckten sich Felder und Wiesen, die bis zu den weiter entfernten Hügeln reichten. Hier waren die Schafherden zu Hause, deren Weiden von schiefen Steinmauern umgeben waren. Die wenigen Wolken am Himmel warfen dunkle Schatten aufs Gras. Sie trieben die weidenden Tiere vor sich her.

»Wunderschön«, sagte er und drehte sich wieder zu Wilbur um, der ihn anlächelte.

»Das ist es, mein Junge«, stimmte er Kai zu. »Du willst zur Turner Farm, ja? Nimm den Weg dort vorne. Es dauert ungefähr zwanzig Minuten, aber mit deinen jungen Beinen schaffst du es bestimmt schneller.«

»Vielen Dank, Sir«, sagte Kai und schüttelte Wilbur herzlich die Hand. »Ich weiß Ihre Mühe zu schätzen.«

Wilbur winkte ab. »Das war doch selbstverständlich. Wir müssen uns alle gegenseitig helfen, nicht wahr? Jetzt mach dich auf den Weg.«

Kai sprang lachend aus dem Wagen und zog seinen Rucksack und das Zelt hinter sich her nach draußen. Zwischen den Pflastersteinen unter seinen Füßen wuchs saftiges Gras. Die ganze Landschaft war eine harmonische Mischung aus Grün- und Grautönen. Er setzte sich den Rucksack auf und schnallte ihn fest. Wilbur wendete den Wagen und Kai winkte ihm nach, als er sich auf den Rückweg machte.

Einige der Einheimischen zogen die Augenbrauen hoch, als sie Kais tätowierte Arme sahen. Er lächelte nur fröhlich in die Runde. »Guten Morgen«, rief er ihnen zu. Einige gingen schnell weiter, andere grüßten verhalten zurück. Ein Mädchen im Teenageralter riss den Mund auf und wurde rot.

Kai stieß kopfschüttelnd das Tor auf und ging den Weg entlang, den Wilbur ihm gezeigt hatte. Er ärgerte sich etwas darüber, dass ihn manche Menschen automatisch für einen Schläger zu halten schienen. Aber er konnte es nicht ändern und es war sinnlos, sich damit aufzuhalten. Ihm gefielen die Tattoos.

Jedenfalls war er sicher, dass es nicht an seinem Gesicht liegen konnte. Seine Augen mochten etwas klein sein, aber er hatte ein markantes Kinn und ein strahlendes Lächeln. Er trug seine Haare absichtlich etwas länger, damit er nicht aussah, als wäre er gerade aus dem Knast entlassen worden. Und obwohl er sehr kräftig war, war er doch kein Elefant von Mann. Meistens passte er immer noch in die Anzüge, die man in ganz normalen Läden von der Stange kaufen konnte.

In größeren Städten wie Farnborough war es leichter für ihn. Dort gab es einen Rugbyklub und im Fitnessstudio war er auch beileibe nicht der Größte. Nicht zu vergessen die Armeeangehörigen aus der Garnison, die sich an der Straße nach Aldershot befand. Mit denen wollte Kai nicht verwechselt werden. Er hatte seinem Land nie gedient, aber die Anwesenheit der Soldaten bedeutete, dass er mit seinen Muskeln und Tätowierungen weniger auffiel.

Während des Urlaubs hier würde er vermutlich nur selten mit den Einheimischen in Kontakt kommen, und wenn, musste er ihnen eben zeigen, dass sie von ihm nichts zu befürchten hatten.

Er überlegte, wen Brendon ihm noch aus der alten Zeit angekündigt hatte. Kai hatte ihm nicht richtig zugehört, weil alles sehr kurzfristig geplant worden war. Die Sidcups waren vermutlich auch dabei. Ihre Kinder waren jetzt schon älter und wenn Kai sich richtig erinnerte, hatten sie mittlerweile selbst schon Nachwuchs. Jayne Sidcup brachte zu diesen Ausflügen immer selbst gebackene Kuchen mit und Derek unterhielt sie mit amüsanten Geschichten aus seiner Zeit als Lehrer. Kai hätte nichts dagegen, sie wiederzusehen.

Nach ungefähr zehn Minuten kam er an einen Durchbruch in einer der höheren Mauern. Auf der anderen Seite lag der Campingplatz und da es Juli war, waren schon etliche Camper eingetroffen und hatten ihre Zelte aufgeschlagen. Kai entdeckte auf der linken Seite einen freien Stellplatz, der für ihn und die Andersons perfekt passen würde. Falls sie noch nicht hier waren und schon einen gefunden hatten.

Vor ihm lag ein altes Bauernhaus, das einen offiziellen Eindruck machte. Vermutlich konnte man sich dort registrieren lassen und die Gebühren bezahlen. Kai machte sich auf den Weg.

Hinter der Rezeption stand eine Frau, deren T-Shirt mit Border Collies bedruckt war. Auf dem Tisch vor ihr lagen Stapel mit Aktenordnern, Pappkartons und Dosen, die Schafspellets enthielten. An der Wand hinter ihr hing eine beeindruckende Sammlung alter Kalender, auf denen ebenfalls Collies abgebildet waren. Die Frau sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und schürzte die Lippen.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Kai wollte sie nicht ausrauben, also hatte er nichts zu verbergen. »Hallo. Ja«, sagte er fröhlich. »Ich möchte diese Woche mit Freunden hier zelten. Ich glaube, die Buchung läuft auf den Namen Phil Anderson.« Er hatte auf der Website des Campingplatzes gelesen, dass man auch in der Hochsaison nicht vorbuchen müsste, sondern einfach spontan vorbeikommen könnte. Trotzdem konnte es nicht schaden, wenn die Frau wusste, dass er zu einer Gruppe gehörte.

Sie fuhr sich durch die trockenen, lockigen Haare und blätterte durch eines der Notizbücher, die vor ihr lagen. »Oh, richtig. Die Pfadfinder.« Sie musterte wieder seine Tattoos. Vielleicht glaubte sie ihm nicht, dass jemand mit einem so auffälligen Körperschmuck zu einer Familienorganisation wie den Pfadfindern gehören konnte. Seine Arme waren zwar nicht komplett mit Tätowierungen bedeckt, aber viel freie Haut war nicht mehr zu sehen.

»Ja, Ma'am«, sagte Kai lächelnd. »Kann ich schon aufbauen?«

»Es kostet sieben Pfund pro Tag, zahlbar jeden Morgen.«

Er wühlte in der Tasche seiner Shorts, bis er das Portemonnaie fand, und legte einen Zwanziger auf den Tisch. »Äh…«, sagte er und wünschte, er hätte vor der Abfahrt heute früh an Kleingeld gedacht. »Können Sie wechseln?«

Sie legte schweigend eine Unmenge an Ein-Pfund-Münzen vor ihm auf den Tisch, die er einsteckte. Wenigstens hatte er jetzt für die nächsten Tage genug Kleingeld, um passend zu zahlen.

»Tschüss«, sagte er nickend und ging nach draußen, zurück in den Sonnenschein.

Vor den Duschen blieb er an einem Wasserhahn mit Trinkwasser stehen und füllte seine Feldflasche auf. Er trank sie halb aus, füllte sie wieder und schlenderte dann zu dem Stellplatz, an dem er vorhin vorbeigekommen war. Ein kurzer Blick über den Campingplatz zeigte ihm, dass er der Erste ihrer Gruppe war. Er konnte also den Platz auswählen.

Er packte die Gelegenheit beim Schopf und sah sich den Platz genauer an. Er wollte weder abschüssiges Gelände noch einen Platz unter den Bäumen, weil dann ständig Blätter und anderer Schmutz auf die Zelte rieseln würde. Der Stellplatz, der ihm vorhin aufgefallen war, war relativ flach und von einem Halbkreis aus Felsen umgeben, die ihn einfassten und eine schöne Begrenzung darstellten.

Nachdem er sich entschieden hatte, verbrachte er die nächste halbe Stunde damit, sein Zelt aufzubauen. Er summte fröhlich vor sich hin. Sein Zelt war groß genug für zwei Personen. Er konnte sich also nachts ausstrecken, ohne mit einem fremden Ellbogen ins Gehege zu kommen.

Obwohl er sich große Mühe gab, es zu ignorieren, stimmte ihn dieser Gedanke melancholisch. Jess war nett gewesen und er wusste nicht so recht, warum es zwischen ihnen nicht geklappt hatte. Oder davor mit Mira. Keine von ihnen wäre sehr begeistert davon gewesen, den weiten Weg aufs platte Land auf sich zu nehmen, um eine Woche in dieser Hitze auf einem Campingplatz zu verbringen. Vielleicht war es also besser so. Trotzdem würde Kai sich freuen, endlich einen Menschen zu finden, mit dem er gelegentlich die Zivilisation hinter sich lassen und sich im Schmutz wälzen konnte.

Er schaute auf und sah ein großes, strahlend weißes Wohnmobil, das auf dem Kiesweg parkte. Es passte irgendwie nicht recht hierher. Kai kniff die Augen zusammen und erkannte Cameron Grinter, der mit dem Rest seiner Familie aus dem Gefährt ausstieg. Ah, das passte doch. Es war ein Update ihres älteren Modells. Die Grinters brachten immer ihren Winnebago zu diesen längeren Urlauben mit. An normalen Wochenenden mussten sie sich, wie der Rest der Truppe, mit einem Zelt begnügen.

Kai winkte ihnen zu, aber sie hatten ihn offensichtlich noch nicht gesehen. Trotzdem war es nett zu sehen, dass schon einige ihrer Gruppe eingetroffen waren.

Er trank einen Schluck Wasser und machte sich dann daran, seinen Schlafsack auszurollen. Anschließend packte er den Rest seiner Ausrüstung in den jetzt halb leeren Rucksack und stellte ihn in eine Ecke des Zelts. »Geschafft«, sagte er nickend zu sich selbst.

Er schaute hinaus in die Sonne, hielt sich schützend die Hand über die Augen und sah sich wieder nach Neuankömmlingen um. Er wurde durch den Anblick eines kleinen, silberfarbenen Autos belohnt, das langsam den Weg entlanggekrochen kam, bis das Wohnmobil ihm den Weg versperrte und es stehen blieb. Aus den offenen Fenstern dröhnte laute Musik.

Kai zog die Augenbrauen hoch.

Das Auto kannte er doch!

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