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Kapitel 3

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Riley

Rückwirkend betrachtet war der Sommer vermutlich nicht die beste Jahreszeit, sich einen Bart wachsen zu lassen. Dabei war der Bart noch nicht einmal sehr lang und Riley gab sich große Mühe, ihn immer schön ordentlich zu stutzen. Aber jeder zusätzliche Millimeter Haarlänge fühlte sich an wie ein gut isolierter Dachboden. Die Haare auf seinem Kopf wuchsen auch dicht, waren an der Seite gescheitelt und fielen ihm in die Stirn. Es mochte recht schick aussehen, aber bei diesen Temperaturen kam er sich vor, als würde er eine Sturmhaube tragen.

Er fuhr sich schnaubend durch die Haare und wurde durch den kühlen Fahrtwind belohnt, der für einige Sekunden bis zu den Haarwurzeln durchdrang. Doch dann fielen die Haare an ihren Platz zurück und klebten ihm wieder am Kopf. Sosehr sie ihn im Moment auch störte, die Frisur gefiel ihm. Er würde nie auf den Gedanken kommen, sich die Haare kurz zu scheren. Also musste er die Zähne zusammenbeißen, bis die heißen Monate vorbei waren.

Außerdem war der Sommer erträglich. Solange es eine Klimaanlage gab. Glücklicherweise war Rileys Büro in einem Neubau und deshalb mit einer Klimaanlage ausgestattet – eine Seltenheit in Großbritannien. Zu Hause musste er sich mit einem alten Ventilator begnügen, den er vors Bett stellte. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu reisen, war das Äquivalent zu einem kostenlosen, aber extrem stinkigen Saunabesuch. Klimaanlagen waren einer der Gründe, warum Riley exotische Reiseziele vorzog, die mit dem Flugzeug erreichbar waren.

Aber er hatte in diesem Jahr noch einige Urlaubstage, sodass er das nachholen konnte. Der Vorteil an einem Campingurlaub war, dass man – vom Benzin und anderen Vorräten abgesehen – kaum Geld ausgab. Vielleicht ergab sich im Laufe des Jahres noch ein günstiges Angebot und er konnte für eine Woche richtig verreisen. Dieser Gedanke stimmte ihn wieder etwas fröhlicher und er drehte die Musik lauter.

Es könnte wirklich schlimmer sein. Es könnte zum Beispiel regnen. Die Hitzewelle ließ ihm wenigstens die Option, ausgiebige Sonnenbäder zu nehmen. Außerdem hatte er alle Zutaten für eine ganze Anzahl köstlicher Cocktails mitgebracht. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich also ohne Weiteres vorstellen, er läge irgendwo am Mittelmeer am Strand, wo die Wellen sanft ans Ufer schwappten.

Während er sich einem besonders spektakulären Aussichtspunkt näherte, schaute er auf die Uhr am Armaturenbrett und stellte fest, dass er noch genügend Zeit hatte, um eine kurze Pause einzulegen. Riley war schon vor zehn Uhr in London aufgebrochen, um dem Wochenendverkehr zu entgehen. Obwohl er einige Male angehalten hatte, um sich Snacks und Kaffee zu besorgen und die Beine zu vertreten, war er früher als erwartet in Cumbria angekommen.

Es war ein gutes Gefühl, die Beine ausschütteln zu können. Er streckte die Arme nach dem blauen Himmel aus und bückte sich dann, bis er mit den Fingern die Zehenspitzen berührte. Sein Rücken knackste und er richtete sich stöhnend wieder auf. Zärtlich tätschelte er Bettys Kühlerhaube. Sie war glühend heiß und verstaubt. Obwohl er sein Auto liebte, hätte er nach sieben Stunden Gefangenschaft in dem kleinen Käfig nichts dagegen, sich für einige Tage nicht hinters Steuer setzen zu müssen.

Da niemand in der Nähe war, ließ er sich Zeit und suchte sich einen schönen Landschaftsausschnitt, um mit dem Handy ein Selfie zu schießen. Am Straßenrand fiel der Hügel steil ab und die Baumgrenze war kilometerweit bis zum Horizont sichtbar. Riley machte einige Schnappschüsse – schmollend, grinsend und lächelnd. Nachdem er mit keinem der Bilder zufrieden war, versuchte er es mit einer anderen Pose und vor einem anderen Hintergrund. Zu guter Letzt warf er noch ein Zwinkern und ein glühendes Funkeln in die Waagschale.

Er entschied sich schließlich für eines der Fotos mit dem Lächeln, weil es sittsamer wirkte. Er lehnte sich an Betty, öffnete Instagram und spielte eine Weile mit den Filtern.

Sein Bart hatte, nachdem er etwas ausgewachsen war, zu seiner Überraschung eine rötliche Farbe angenommen, die sich von seinen dunkelblonden Haaren abhob. Es gefiel ihm eigentlich recht gut, aber wenn der Farbunterschied so stark wurde, dass es lächerlich aussah, würde er mit einer Tönung nachhelfen müssen.

Nachdem er mit dem Bild zufrieden war, aktivierte er Hochladen. Der Empfang war hier nicht gerade überwältigend, wie ihm vorhin schon sein Navi bestätigt hatte. Hoffentlich reichte es aus, um das Foto bald online zu stellen.

Er bewunderte die Aussicht und ließ den Autoschlüssel um die Finger kreisen. Ihm war bewusst, dass er absichtlich trödelte, weil er nicht vor seiner Familie auf dem Campingplatz eintreffen wollte.

Er hatte in den letzten Jahren nicht viel Kontakt mit der Pfadfindergemeinschaft gehabt. Es kam ihm vor, als wären sie nicht sehr beeindruckt von Phil Andersons mittlerem Sohn und würden sich ihm überlegen fühlen, nachdem er alles hingeschmissen und darauf verzichtet hatte, die Prüfung für das Survival-Abzeichen abzulegen.

Riley mochte zwar kein Vegetarier sein, aber das hieß noch lange nicht, dass er eigenhändig ein fluffiges Kaninchen fangen und häuten wollte.

Er war es gewohnt, sich in der Außenseiterposition zu befinden. Riley hatte nur selten das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. Menschen, die sich zum Pfadfinder berufen fühlten, waren allerdings häufig geradezu übertrieben stolz auf ihre Naturverbundenheit. Sie schwelgten in ihren Überlebenskünsten und hatten kein Verständnis für die kleinen Annehmlichkeiten, nach denen sich Riley sehnte. Ihm war es recht. Er bewunderte sie sogar. Er wünschte nur, sie würden ihm nicht ständig das Gefühl vermitteln, eine verweichlichte Schwuchtel zu sein, weil er lieber Cappuccino trank als Instantkaffee. Oder lieber Designerjeans trug als diese unförmigen Säcke, die es bei Tesco billig zu kaufen gab.

Es war auch nicht so, dass er als Pfadfinder unbegabt gewesen wäre. Er hatte einiges an Abzeichen für künstlerische oder handwerkliche Kurse eingeheimst, an denen er erfolgreich teilgenommen hatte. Nicht zu vergessen ein Abzeichen in Meteorologie und eines in Sport. Dafür hatte er nur rennen müssen und das konnte schließlich jeder, oder? Aber ein echter Pfadfinder musste unter Sternen schlafen und da sie hier in England waren, wo die Sterne meistens von Regenwolken bedeckt wurden, hatte Riley schon vor vielen Jahren entschieden, dass dieses Leben nichts für ihn wäre.

Er stieg kopfschüttelnd in sein altes Auto und schnallte sich an. Was war schon dabei, wenn er mit dem Rest der Gruppe nichts anzufangen wusste? Falls seine Familie noch nicht eingetroffen war, würde er sich einfach absetzen und auf ihre Ankunft warten. Sollten die anderen sich doch den Mund zerreißen. Und wahrscheinlich würde er sowieso eine Ewigkeit brauchen, bis er sein Zelt aufgebaut hatte. Auch wenn ihm die Website hoch und heilig versprochen hatte, dieses spezielle Modell wäre absolut simpel.

Er stellte zu seiner Überraschung fest, dass sein Foto auf Instagram hochgeladen worden war, also blieb er noch einige Minuten sitzen und lud es auch bei Facebook und Twitter hoch. Die Karte mit der Route tauchte dieses Mal auch schneller auf dem Bildschirm auf. Vermutlich lag es an der Höhe, die ihm zugutekam und den Empfang verbesserte.

Er trank einen Schluck lauwarmes Wasser, drehte die Musik wieder auf volle Lautstärke und legte den Gang ein. Dann fuhr er wieder los.

Das Dorf Seathwaite war gewissermaßen der letzte Außenposten der Zivilisation, bevor er den Campingplatz von Turner Hall Farm erreichen würde. Die Landschaft wurde vom Scafell Pike bestimmt, der riesig über dem Dorf aufragte. Vorsichtig manövrierte Riley seinen Wagen durch die engen Straßen.

Ihn durchfuhr ein Schauer, als er sich vorstellte, er wäre an einem Ort wie diesem aufgewachsen. Auf gewisse Weise war es wunderschön hier und erinnerte ihn an ein Gedicht von William Wordsworth. Andererseits gab es der Redewendung vom einzigen Schwulen hier eine vollkommen andere Bedeutung. Im Gegensatz zu Seathwaite kam ihm Farnborough, Hampshire, wo er aufgewachsen war, wie eine glitzernde Metropole vor. Es lag vor allem an der Abgeschiedenheit. Ob sie hier überhaupt Breitband hatten? Uber gab es jedenfalls nicht.

Riley fuhr durch das offene Tor, bevor er dabei erwischt werden konnte, wie er sich nach Hinweisschildern zu einem Schnapsladen oder gar einer Post umsah. Es gab hier nur Farmen, Farmen und nochmals Farmen. Wenigstens waren die Lämmer niedlich, die sorglos auf den grünen Weiden herumsprangen.

Laut GPS war er nur noch wenige Minuten von seinem Ziel entfernt. Turner Hall Farm, wo er die nächste Woche verbringen würde, hatte auf den Bildern, die er im Internet gefunden hatte, recht malerisch ausgesehen. Sanfte Hügel und schroffe Felsen mit einer bezaubernden Flora und Fauna. Selbst wenn er die Fotos erst nach seiner Rückkehr posten konnte, würde ihm die üppige Natur ausreichend Bildmaterial liefern.

Alles in allem war er optimistischer an diesem Ort eingetroffen, als er vor seiner Abfahrt vermutet hätte. Bis auf das Problem, dass es nur eine einzige kleine Schotterstraße gab, die ihn zu seinem Ziel führte. Und mitten auf dieser Straße stand, weiß und makellos glänzend in der Sonne, ein Winnebago.

Er sah mehr wie ein Raumschiff als wie ein Wohnmobil aus. Riley schaute automatisch in den Himmel und hielt nach der Enterprise Ausschau. Nichts zu sehen. Vielleicht war es auch Kanye, der hier auf Tour war und sich verkrochen hatte, weil er nicht den Paparazzi in die Hände fallen wollte.

Nachdem er sich darüber amüsiert hatte, reagierte er mit gemischten Gefühlen auf den Anblick. Eifersucht – weil das Ding auf dem höchsten Stand der Technik war. Verärgerung – weil sich der Besitzer nicht an die Regeln hielt, während er selbst auf alle Annehmlichkeiten des Lebens verzichtet hatte. Und Ungläubigkeit – weil dieser Idiot schamlos den Eingang zum Campingplatz zu versperren wagte.

Er drückte in kurzem Abstand zweimal auf die Hupe. Obwohl er schon einige aufgebaute Zelte sehen konnte, schien sich keine Menschenseele in der Nähe der silbernen Monstrosität aufzuhalten. Er sog zischend die Luft ein und sah sich genauer um. Wirklich, er wollte nur einen Parkplatz finden und endlich sein Zelt aufbauen. Wenn alles wunschgemäß lief und er eine nette Ecke fand, würde er sich bestimmt gleich besser fühlen. Dann konnte er es sich auf einem Campingstuhl gemütlich machen und die letzten Stunden Tageslicht mit einem kühlen Bier genießen.

Ihm blieb keine andere Wahl, als abzuwarten. Natürlich könnte er den Weg verlassen und an dem Monster vorbeifahren, aber dann würde er das Gras aufwühlen, was er nicht für sonderlich ökofreundlich hielt. Es war durch die Trockenheit sowieso schon ziemlich ausgedörrt. Da musste er mit seiner alten Klapperkiste nicht auch noch die letzten Pflänzchen aus dem Boden reißen.

Er kniff sich in den Nasenrücken und stöhnte so laut, dass es sich mehr wie ein Knurren anhörte. Er wollte sich nicht wie ein Arschloch aufführen, aber er drückte trotzdem noch einmal auf die Hupe. »Hallo?«, brüllte er mit geschlossenen Augen. Die Musik war so laut, dass er vermutlich sowieso schon bemerkt worden war. Er drehte sie noch etwas lauter.

Natürlich hätte er aussteigen und sich auf die Suche nach den Eigentümern machen können. Aber er wollte einfach nur noch auspacken. Und zwar jetzt. Er hatte keine Lust, rumzutrödeln und sich in höflichen Tratsch verwickeln zu lassen. Er hatte die Fahrt hinter sich gebracht und jetzt stand der Aufbau des Zeltes auf dem Programm. Danach konnte er sich zurücklehnen und entspannen. Bei dem Gedanken, diese Reihenfolge durcheinanderzuwirbeln, lief ihm ein Schauer über den Rücken.

Er hielt die Augen geschlossen und atmete tief durch, um nicht noch nervöser zu werden. Dabei spielte er mit der Nagelhaut an seinem Daumen und wippte mit den Beinen. »Hallo?«

Der Wagen fing an zu vibrieren, als jemand mit den Händen auf die Kühlerhaube schlug. Riley riss die Augen auf und zuckte panisch zusammen. »Riley!«, rief der Mann und warf zwei riesige Hände in die Luft, als würde er sich unbeschreiblich freuen. Dann kam er zum Seitenfenster und zeigte auf die Stereoanlage. »Ich habe dich schon gerufen. Du hast es geschafft!«

Der Mann hatte ungefähr Rileys Größe, aber während Riley schlank war und nur eine dünne Muskelschicht hatte, war der Kerl, der an seiner Autotür hing, ein einziges Muskelpaket. Seine mächtigen Oberarme waren tätowiert und unter der weißen Weste im Bruce-Willis-Stil lugten prachtvolle Brustmuskeln hervor.

Was ihn aber sofort verriet, waren sein offenes Lächeln und sein unbeschwerter Gang, den man ihm selbst dann noch ansah, wenn er still stand. Dazu die nahezu schwarzen Haare, das kantige Kinn, die kleinen, funkelnden Augen…

Riley sackte der Magen in die Kniekehlen. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Warum hatte ihm niemand gesagt, dass er auch kommen würde? Und doch stand er jetzt hier, so beeindruckend wie immer, seit er ein erwachsener Mann geworden war. Über einen Meter achtzig goldene Haut, ein freundliches Lachen und ein unerschütterlicher Optimismus.

»Kai?« Er hörte sich selbst für seine eigenen Ohren jämmerlich an.

Jetzt war es offiziell. Auch ohne das Camping, die Insekten, das zweifelhafte Essen und die fehlenden Steckdosen.

Das Unheil stand leibhaftig vor ihm. Er war verloren.

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