Читать книгу Irrlichter und Spöckenkieker - Helga Licher - Страница 14
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Es regnete in Strömen, und ein frischer Wind fegte die letzten Blätter von den Zweigen der knorrigen Eichen am Rande des Dorfteiches. Nach dem heißen, trockenen Sommer setzten die Herbststürme bereits in den letzten Oktobertagen ein. Die Zuckerrüben waren gerade geerntet, als bereits der erste Schnee fiel. Die Menschen auf Föhr bereiteten sich auf einen langen, harten Winter vor.
Stine Knudtsen vergrub ihre Hände tief in die Taschen ihrer Wolljacke. Es war leichtsinnig, keine Handschuhe anzuziehen, dachte sie und beschleunigte ihre Schritte. Sie wollte unbedingt noch vor dem Dunkelwerden zu Hause sein, da heute auf dem Knudtsenhof Schlachtfest war und sie ihrer Großmutter bei den Vorbereitungen helfen musste. Stine liebte die Arbeit in der Küche, doch der Gedanke an die vielen Gäste, die sich zum Essen angesagt hatten, bereitete ihr Unbehagen. Meistens löste sie das Problem auf ihre Weise. Sie half ihrer Großmutter die Speisen zu servieren, nahm aber an der anschließenden Mahlzeit nicht teil. Genau so werde ich es heute machen, dachte sie und beschleunigte ihre Schritte.
»Warum so eilig? Warte doch mal …«
Stine drehte sich überrascht um. Sie war tief in Gedanken versunken und hatte gar nicht bemerkt, dass ihr jemand folgte. Jan Nansen, der Sohn des Bürgermeisters, blieb ganz in ihrer Nähe stehen und klopfte den Schnee von seinem Mantel. In seinen blonden, vom Wind zerzausten Haaren schimmerten die Schneeflocken wie kleine Kristalle.
Stine war ebenfalls stehen geblieben und sah fasziniert in seine Augen. Ihr Herz begann ungestüm zu klopfen - ein Gefühl, das Stine nicht kannte.
Sie hatte den jungen Mann schon einige Male in Oldsum gesehen, doch er war ihr nie besonders aufgefallen.
Stine war es gewohnt, von den Jungen des Dorfes beschimpft und verhöhnt zu werden, aber Jan verhielt sich anders. Sein Blick war offen und freundlich. Schüchtern schaute er sie mit warmen, braunen Augen an.
»Was willst du, ich habe es eilig«, sagte Stine und wollte schon ihren Heimweg fortsetzen. Sie war sehr vorsichtig geworden, denn schon zu oft hatte sie sich in einem Menschen getäuscht.
Jan legte seine Hand auf ihren Arm.
»Bleib doch mal stehen, ich will dich etwas fragen«, sagte er und lächelte.
»Am nächsten Sonntag ist das Feuerwehrfest, hast du Lust mit mir dorthin zu gehen?«
Stine sah den Burschen entgeistert an, einen Augenblick dachte sie, nicht richtig gehört zu haben.
»Du willst mit mir zum Feuerwehrfest gehen?«
Jan drehte verlegen seine Handschuhe in den Händen und nickte. Offensichtlich hatte es ihn sehr viel Überwindung gekostet, Stine anzusprechen.
»Warum sollten wir nicht zum Fest gehen?«, fragte er verunsichert.
»Oder gehst du schon mit einem anderen?«
Stine lächelte und schüttelte den Kopf. Die Idee mit irgendjemandem auf ein Fest zu gehen, kam ihr so absurd vor, dass sie lachen musste.
»Du glaubst doch nicht, dass dein Vater damit einverstanden ist. Weißt du, was man im Dorf über mich erzählt? Anscheinend weißt du es nicht, sonst hättest du mich nicht gefragt. Nein, nein schlag dir das aus dem Kopf, und such dir eine andere.«
Stine schlug fröstelnd den Mantelkragen hoch und wandte sich ab. Es wurde bereits dämmerig, ihre Großmutter würde längst auf sie warten. Sie ließ den jungen Mann einfach stehen und stapfte mit großen Schritten auf den Knudtsenhof zu.
Die meisten Gäste saßen schon an der langen Tafel in der guten Stube, als Stine über die Diele in die Vorratskammer ging. Sie zog den Mantel aus und hing ihn zum Trocknen an den Räucherofen. Mit einigen Griffen richtete sie ihr Haar und zog trockene Schuhe an. Unbemerkt schlich sie an der Stubentür vorbei in die Küche. Mit hochrotem Kopf stand Meta Knudtsen am Kohlenherd und rührte in einem Kessel mit Wurstsuppe. Der Schweiß rann ihr in Strömen von der Stirn. Die Temperaturen in der Küche waren unerträglich.
Sie warf Stine einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Jetzt bin ich mit der Arbeit fast fertig, warum kommst du so spät? Das Essen muss serviert werde. Bitte beeil dich.«
Stine dachte an Jan Nansen, immerhin war er der Grund für ihre Verspätung. Doch ihre Unterhaltung mit dem jungen Nansen, und die Einladung zum Feuerwehrfest erwähnte sie nicht.
»Ich bin aufgehalten worden, tut mir Leid, Großmutter.«
Stine griff nach einer Wurstplatte und verschwand durch die Tür.
Ein verlegenes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie die Platte in der Stube auf den Tisch stellte. Sie fühlte sich in Gesellschaft einfach nicht wohl und wartete sehnsüchtig darauf, wieder in die Küche flüchten zu können. Aber sie wusste auch, was man von einer Knudtsen-Enkelin erwartete und kam ihren Pflichten als Gastgeberin aufmerksam nach.
Schließlich war ein Schlachtfest bei einem der reichsten Bauern von Oldsum immer ein besonderer Anlass, gut zu essen und auch zu trinken. Der Tisch war beladen mit Köstlichkeiten, die von Meta und den benachbarten Bäuerinnen hervorragend zubereitet worden waren. Dem Brauch gemäß, floss Bier und Schnaps in Strömen.
»Guten Tag Stine, lass die Arbeit mal einen Moment ruhen. Ich möchte mit dir etwas besprechen.«
Pfarrer Harms erhob sich umständlich von seinem Stuhl und winkte das Mädchen zu sich heran. Stine schaute beunruhigt zuerst auf den Pfarrer und dann zu ihrem Großvater hinüber, der aufmerksam den Kopf hob und den Pfarrer durchdringend ansah. Doch dieser nickte nur beschwichtigend, während er Stine ins angrenzende Zimmer schob.
»Stine, ich mache es kurz. In einigen Wochen wirst du die Schule beenden und dich auf ein Leben als Bäuerin vorbereiten. Schließlich willst du ja einmal den Hof deines Großvaters übernehmen. Kurz und gut - ich habe eine Anstellung in Utersum für dich gefunden. Dem Bauern Clausen ist vor einiger Zeit die Frau gestorben, und nun sucht er jemanden, der ihm den Haushalt führt. Dort wirst du lernen wie man einen Hof bewirtschaftet. Kochen und Backen kannst du ja schon recht gut, sagt deine Großmutter. Du wirst es bestimmt gut bei Marten Clausen haben und solltest diesen Schritt als eine Möglichkeit annehmen, etwas dazuzulernen.«
Stine stand wie angewurzelt am Kamin und starrte den Pfarrer an.
»Ich soll weg …«, stotterte sie fassungslos.
Pfarrer Harms legte tröstend einen Arm um Stines Schulter.
»Du fühlst dich doch hier nicht wohl, die Leute in Oldsum werden dich nie in Ruhe lassen. Es ist das Beste für dich, glaube mir. In einigen Jahren, wenn du alt genug bist den Hof zu übernehmen, kommst du zurück.«
Stine war blass geworden, ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus über das grüne Marschland. Hier war sie zu Hause, nur hier kannte sie jeden Baum und jeden Strauch. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, jemals von hier wegzugehen.
Sie erinnerte sich daran, wie sie ihren Großvater einmal nach Dunsum begleitet hatte. Er hatte Ersatzteile für den alten Lanz besorgen müssen. Das Dorf lag nur wenige Kilometer von Oldsum entfernt, doch für Stine hatte die Fahrt dorthin eine kleine Weltreise bedeutet.
»Utersum ist so weit, den Weg schaffe ich mit dem Fahrrad nie.«
Das Mädchen blickte den Pfarrer verzweifelt an, in ihren Augen schimmerten Tränen.
»Stine, Utersum ist nicht aus der Welt. Du kannst den Bus nehmen, dann bist du in einer Stunde in Oldsum. Bauer Clausen hat sicher nichts dagegen, wenn du sonntags nach Hause fährst.«
Seine Stimme klang warm und behutsam, offensichtlich hatte er Mitleid mit dem Mädchen. Leise sprach er weiter:
»Schau, der Clausenhof ist ein moderner Betrieb, du wirst dort keine schwere Arbeit verrichten müssen. Und eine Menge Knechte und Mägde gibt es auch. Sie werden dir zur Hand gehen.«
Doch Stine hörte ihm nicht zu. Stumm stand sie am Fenster und starrte auf die endlosen Wiesen und Felder ihres Großvaters. Das alles würde irgendwann einmal ihr gehören.
Ihr Großvater war einer der reichsten Bauern auf der Insel, und wenn sie sein Erbe antreten würde, wäre sie die begehrteste Jungbäuerin auf Föhr.
Aber taugte sie überhaupt zur Bäuerin?
Sie kümmerte sich zwar gerne um die Tiere des Hofes und konnte hervorragend kochen, doch ihre große Leidenschaft war das Schreiben.
»Aus dir wird einmal eine berühmte Schriftstellerin«, hatte ihre Lehrerin einmal gesagt.
Stine lächelte und dachte an die vielen kleinen Geschichten und Gedichte, die sie in ihrem Nachtkästchen versteckt hielt. Die Geschichten erzählten von Zwergen und Prinzessinnen und von ihrer Sehnsucht in fremde Länder zu reisen.
Stine drehte sich um und schaute zur Tür, die sich plötzlich öffnete. Meta kam ins Zimmer, sah fragend von einem zum anderen und wandte sich schließlich an den Pfarrer.
»Ole sagt, du willst meine Ziehtochter nach Utersum bringen?«
Pfarrer Harms blickte zuerst die Bäuerin an und sah sich dann nach Stine um, die immer noch stumm am Fenster stand.
»Ole meinte …«, stotterte er hilflos.
Meta räusperte sich und machte einen Schritt auf ihre Enkelin zu. Der Pfarrer ahnte, dass sich Unheil ankündigte. Er wäre einer Auseinandersetzung mit der Bäuerin gerne aus dem Weg gegangen, aber dafür war es nun zu spät.
»Wann Stine den Knudtsenhof verlässt, bestimme immer noch ich«, sagte Meta schneidend. Ihre Stimme duldete offenbar keinen Widerspruch.
»Das sind Familienangelegenheiten und gehen niemanden etwas an. Auch dich nicht, Pfarrer. Ich werde das mit Ole besprechen.«
Die Augen der Bäuerin funkelten böse, unwillkürlich ballte sie ihre Hände zu Fäusten. Der alte Harms nutzte die Gelegenheit um hastig den Raum zu verlassen. Er kannte Meta, sie war ein gutmütiger Mensch, aber wenn sie zornig wurde, ging man ihr am besten aus dem Weg.
Meta nahm ihre Enkelin in den Arm und strich ihr beruhigend über das Haar.
»Kannst du dir vorstellen nach Utersum zu gehen, Stine?«, fragte Meta. Behutsam nahm sie Stines Gesicht in beide Hände und fuhr fort:
»Ich kenne den alten Clausen, er ist ein anständiger Kerl, und sein Hof ist ordentlich und sauber. Dort wirst du zur Hauswirtschafterin ausgebildet. Eine vernünftige Ausbildung ist notwendig, wenn man einen Bauernhof leiten will. Und das wirst du doch einmal.«
Stine schaute ihre Großmutter traurig an. Sie spürte einen quälenden Stich in ihrem Herzen. Nie hätte sie daran gedacht einmal eine solche Entscheidung treffen zu müssen.
Sie dachte an ihren Großvater, er hatte sich in letzter Zeit sehr abweisend ihr gegenüber verhalten. An manchen Tagen sprach er kaum ein Wort mit ihr. Oft musste sie mit anhören wie er der Großmutter heftige Vorwürfe machte und immer wieder von einem Fluch sprach, der über dem Knudtsenhof liegen solle. Sie wusste, wie gerne er Bürgermeister geworden wäre. Stine fühlte, dass ihr Großvater sie für dieses Unglück verantwortlich machte, obwohl er seinen Vorwurf nie öffentlich aussprach. Trotz allem liebte Stine ihre Großeltern über alles, und der Gedanke an eine Trennung schmerzte sie.
»Großmutter, ich kann mir einfach nicht
vorstellen, woanders zu leben. Hier ist mein Zuhause. Aber wenn es denn sein soll. Du denkst auch, ich sollte nach Utersum gehen, nicht wahr?«
Stine griff nach Metas Hand, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Insgeheim hoffte sie ihre Großmutter würde einfach nur sagen: »Bleib hier …«
Doch Meta seufzte, und während sie in ihrer Schürze nach einem Taschentuch suchte, entgegnete sie kleinlaut:
»Pfarrer Harms hat wohl Recht, Ruhe wirst du hier in Oldsum nicht finden. Wäre deine Mutter damals rechtzeitig gegangen, vielleicht …«, Meta biss sich auf die Lippen und blickte ihre Enkelin erschrocken an. Seit Jahren wurde über Rieke Knudtsen kein Wort verloren. Alle Familienmitglieder hielten sich an diese unausgesprochene Regel.
Der Bauer hatte seine einzige Tochter an dem verhängnisvollen Tag ihres Unfalls aus seinem Leben und damit auch aus seinem Gedächtnis gestrichen. Hasserfüllt vernichtete er alles, was in seinem Haus an Rieke erinnerte. Meta konnte sich lange nicht erklären, warum Ole so verbittert war. Riekes Spinnereien konnten alleine nicht der Grund dafür sein. Inzwischen aber ahnte sie, welch große Schuld der Bauer mit sich herumtrug.
Stine beobachtete ihre Großmutter und sah, wie aufgewühlt sie war.
»Erzähl mir von meiner Mutter«, bat sie.
Meta schluckte und holte tief Luft.
»Ach, deine Mutter verhielt sich manchmal auch ein wenig sonderbar. Großvater konnte das einfach nicht verstehen, das weißt du ja. Es wäre besser gewesen, deine Mutter wäre mit dir und deinem Vater aufs Festland gezogen. Weg von der Insel und diesen üblen Anfeindungen. Aber sie wollte nicht. Na ja, dann hatte sie kurz darauf diesen schrecklichen Unfall.«
Stine horchte auf. Es war das erste Mal, dass Großmutter von ihrer Tochter Rieke erzählte. Stine hatte sich häufig gewundert, dass es keine Erinnerungsstücke von ihrer Mutter im Haus gab.
»Warum war meine Mutter sonderbar? Sah sie auch diese weiße Frau? Bitte, Großmutter sag es mir.«
Stine bebte am ganzen Körper. Konnte es sein, dass es noch jemanden gab, der diese seltsamen Erscheinungen hatte? War es möglich, dass auch ihre Mutter von Träumen geplagt wurde?
»Ja, deine Mutter erzählte häufig von einer Frau in einem weißen Kleid. Ich habe ihr oft gesagt, dass diese Frau ihr Schutzengel sei und ihr nichts Böses will, aber Rieke dachte, sie sei krank. Wir Knudtsen-Frauen haben eine besondere Gabe.«, fuhr die Großmutter fort. »Wir träumen manchmal Dinge, die wir nicht sofort verstehen. Du solltest diesen Träumen nicht zu viel Bedeutung geben, dann wirst du gut damit leben können.«
Stine schaute bedrückt aus dem Fenster. Sie war völlig durcheinander. Die weiße Frau, die wirren Träume, die ihr den Schlaf raubten, all das nannte Großmutter »eine besondere Gabe«.
Sie wollte diese besondere Gabe nicht … Sie wollte einfach so leben, wie viele andere Mädchen …
Stine dachte an die schlaflosen Nächte, die sie frierend in ihrem dünnen Nachthemd auf dem Schemel am Fenster verbrachte. Ununterbrochen spielte ihr kleines Transistorradio Schlager von Lale Andersen und Peter Alexander. Immer wieder, die ganze Nacht …
Die Angst einzuschlafen und von wilden Träumen geplagt zu werden, war übergroß.
Doch Stine musste schon bald erkennen, dass die »weiße Frau« sich durch diese Aktivitäten nicht vertreiben ließ.
Irgendwann war sie wieder da …
Die Sonne war inzwischen hinter den Dächern des alten Kapitänshauses verschwunden, und die Lindenbäume an der Hauptstraße warfen lange Schatten auf das Kopfsteinpflaster. In der kleinen Stube war es längst dämmerig geworden. Nur schemenhaft konnte Stine ihre Großmutter erkennen, die in dem alten Lehnstuhl am Ofen saß. Es war völlig still im Raum, nur ab und zu hörte man von draußen das laute Gelächter der Gäste. Das Festmahl hatte seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Ein Schlachtfest auf dem Knudtsenhof war selten vor Anbruch des neuen Tages zu Ende. Stine dachte an ihre Mutter. Ob sie diese Veranstaltungen wohl auch so verabscheut hatte? Sie konnte sich kaum an ihre Mutter erinnern, und dennoch fühlte sie gerade jetzt eine tiefe Verbundenheit.
»Nun, wie hast du dich entschieden? Wirst du nach Utersum gehen?«
Metas Stimme klang müde, sie erhob sich schwerfällig und wärmte ihre Hände an den heißen Ofenplatten.
»Aber eines solltest du wissen, Stine. Egal wie du dich entscheiden wirst, gegen deinen Willen wird dich niemand wegschicken, auch der Bauer nicht.«
Stine ging langsam auf ihre Großmutter zu und strich ihr zärtlich über die runzeligen Wangen. Leise flüsterte sie:
»Ich werde dich sehr vermissen.«