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»Großmutter, mein Ball ist weg.«

Stine blickte kurz zu ihrer Großmutter hinüber, hüpfte die Steinstufen der Terrasse hinunter und lief in den Garten.

Nachdenklich ließ Meta Knudtsen ihr Strickzeug sinken und sah ihrer Enkelin nach.

Der frühe Tod der Mutter hatte die Sechsjährige vorzeitig zu einem verantwortungsbewussten Mädchen werden lassen, welches seine Großmutter über alles liebte. Oft, wenn Meta das Kind beim Spielen beobachtete, musste sie unweigerlich an ihre einzige Tochter denken. Stine war ihrer verstorbenen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hatte die gleichen dunklen Augen, die neugierig in die Welt blickten, und trug, genau wie ihre Mutter, das dicke, braune Haar zu einem Zopf geflochten.

Schmerzlich erinnerte Meta sich an Riekes Todestag, der sich in einigen Wochen zum dritten Male jährte.

Die alte Bäuerin sah diesem Tag mit Grauen entgegen. Wie in den vorausgegangenen Jahren, würde sie mit ihrer Enkelin zum Grab ihrer Tochter gehen und versuchen Stines Fragen nach der Mutter wahrheitsgemäß zu beantworten. Und wie immer würde sie der Kleinen die Antwort auf die Frage nach dem »Warum« schuldig bleiben. Oft fragte sie sich, ob sie als Mutter versagt hatte? Hätte sie Rieke retten können?

Meta erhob sich seufzend von der Bank und lehnte ihren Rücken müde gegen die von der Sonne erwärmte Hauswand. »Es wird Regen geben«, murmelte sie leise und rieb mit der Hand die schmerzende Schulter. Ihre vom Rheuma geplagten Gelenke registrierten inzwischen jeden Wetterumschwung.

Metas suchte das Kind mit den Augen, aber Stine war längst zwischen den Apfelbäumen verschwunden. Es wird Zeit, nach der Kleinen zu schauen, dachte sie und schlurfte zur Gartentreppe. Während sie haltsuchend nach dem morschen Geländer griff, begannen ihre Hände zu zittern. Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken, und ein Gefühl der Panik überkam sie. Um sie herum wurde es still, die Vögel sangen nicht mehr, und selbst das monotone Rascheln der Blätter im leichten Sommerwind war nicht mehr zu hören.

Urplötzlich schien die Welt den Atem anzuhalten …

Wo war das Kind? Irgendetwas war nicht in Ordnung, das spürte Meta ganz genau. Vor ihrem geistigen Auge nahm sie etwas wahr, was sie nicht beschreiben konnte.

Nur sehr zögerlich wurde das Bild klarer und nahm Gestalt an. Sie sah einen schemenhaften Körper, der sie stark an ihre verstorbene Tochter erinnerte.

»Stine, wo bist du?«, wimmerte sie und umklammerte das Treppengeländer. Vergeblich versuchte sie ihre Unruhe in den Griff zu bekommen, aber es gelang ihr nicht.

»Dem Kind darf nichts geschehen«, murmelte sie monoton und schloss die Augen.

Die Minuten verstrichen und kamen Meta wie eine Ewigkeit vor.

Wie aus weiter Ferne hörte sie irgendwann die Stimme des Mädchens, das weinend zwischen den Bäumen der Obstwiese auftauchte und verzweifelt nach der Großmutter rief.

»Großmutter, ich habe die weiße Frau schon wieder gesehen. Sie soll weggehen.«

Meta erwachte aus ihrer Starre und atmete auf, als sie sah, dass Stine nichts geschehen war. Erschöpft ließ sie sich auf die unterste Treppenstufe sinken und zog das vor Angst zitternde Kind auf den Arm. Meta Knudtsen machte sich große Sorgen um Stine. Zu oft war sie nachts weinend zu ihr ins Bett gekrochen und hatte von einer weißen Frau berichtet.

Meta wusste genau, was das bedeutete. Doch was sollte sie dem Kind sagen? Sie könnte sagen: »Du träumst, denk dir nichts dabei …« Oder: »Deine Phantasie geht mit dir durch, denk an etwas anderes

Die Bäuerin schüttelte den Kopf. Sie wusste genau, dass Stine nicht träumte, und mit Fantasie hatte das, was das Kind sah, schon gar nichts zu tun. Sie hatte immer geahnt, dass sich alles wiederholen würde. Zuerst sie selbst, dann Rieke und nun Stine.

Doch sie musste ihre Enkeltochter beschützen, mit aller Kraft, die ihr zur Verfügung stand. Sie konnte nicht zulassen, dass …

»Großmutter, du sagst der Frau, dass sie gehen soll, nicht wahr? Sie macht mir Angst, sie soll gehen und nie mehr wiederkommen! Nie mehr.«

Stine krallte sich an der Schürze ihrer Großmutter fest und sah beschwörend zu ihr auf. Die Bäuerin schüttelte den Kopf, tröstend strich sie dem Kind übers Haar.

»Hab keine Angst, sie wird dir nichts tun, das ist gewiss. Du hast geträumt, es war nur ein Traum.«

Meta hielt das Mädchen fest umschlungen und summte beruhigend ein Kinderlied. Stine schluchzte noch einmal auf, kuschelte sich in die Arme ihrer Großmutter und sang leise mit.

Wie eine kleine Katze hatte das Kind sich auf dem Schoß der Großmutter zusammengerollt. Leise, gleichmäßige Atemzüge verrieten ihr, dass die Kleine eingeschlafen war.

Meta schaute lächelnd auf ihre Enkeltochter.

»Bald bist du eine echte Knudtsen«, murmelte sie leise und erhob sich. Behutsam nahm sie das Kind auf den Arm, ging die Treppe hinauf und brachte Stine ins Bett.

»Schlaf schön, mein Liebling«, flüsterte sie und strich ihr eine Locke aus der Stirn.

Meta wusste, in dieser Nacht würde nichts den Schlaf der Kleinen stören. Dennoch hatte dieses Erlebnis ihr Seelenleben wieder einmal völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Es kostete sie eine ungeheuere Kraft, sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt sie war. Würden diese Qualen niemals ein Ende nehmen?

Sie dachte an die vielen Zeichnungen, die sie kurz nach Riekes Tod in ihrem Zimmer in einer kleinen, hölzernen Schachtel fand. Jedes Blatt war ordentlich mit Datum und Uhrzeit versehen und zeigte immer das gleiche Motiv. Rieke hatte eine weißgekleidete Frau mit dunklen, langen Haaren gemalt. Im Hintergrund des Bildes war der Friedhof von Süderende zu erkennen. Meta war wie gelähmt und konnte zuerst keinen klaren Gedanken fassen. Schlagartig erinnerte sie sich daran, dass es ähnliche Bilder schon einmal gab. Es war sehr lange her …

Schließlich warf sie die Bilder ihrer Tochter in den Kamin und verbrannte damit auch ihre eigenen Erinnerungen, jedenfalls für eine Weile …

Die Bäuerin blickte beunruhigt zum Himmel hinauf. Dunkle Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, leises Grollen kündigte ein Gewitter an.

Ungeduldig stand sie am Fenster und wartete auf ihren Mann. Schon früh am Morgen war er nach Süderende aufgebrochen, um im Rathaus die Vormundschaft für Stine zu beantragen. Nach einigem Zögern hatte Laas Klaasen sich endlich bereit erklärt, sein Einverständnis zu geben. Stine würde einmal den Knudtsenhof erben, und so war es nur plausibel wenn sie auch offiziell den Namen ihrer Großeltern tragen dürfe. Da das Mädchen in einigen Wochen eingeschult wurde, war für diese Namensänderung jetzt genau der richtige Zeitpunkt.

Endlich hörte Meta in der Ferne das gleichmäßige Brummen des alten Mercedes. Sie strich ihre Schürze glatt und eilte durch die Melkkammer in die Diele.

Als Ole in die Einfahrt zum Hof einbog, fielen die ersten Regentropfen. Der Himmel verdunkelte sich zusehends. Schnell parkte der Bauer das Auto vor dem Stallgebäude und stieg aus.

»Wo ist Stine?«, fragte er, als er in die Diele trat. Suchend sah er sich um, denn wenn es regnete, war seine Enkelin meistens auf der großen Diele anzutreffen. Sie spielte dort gerne mit den kleinen Katzen. Meta scheuchte den Hofhund zur Seite, der den Bauern freudig begrüßte und legte mahnend einen Finger auf die Lippen.

»Stine schläft, der Vormittag war ein wenig anstrengend für sie.«

Den wahren Grund für Stines Erschöpfung verschwieg sie. Ole hätte es ohnehin nicht verstanden.

Der Bauer legte seine Jacke über die Stuhllehne und kramte umständlich ein Dokument aus seiner Aktentasche.

»Jetzt haben wir es amtlich, Mutter, Stine ist unsere Pflegetochter und darf den Namen Knudtsen tragen. So, wie wir es wollten.«

Er legte die Urkunde auf den Tisch und strich zärtlich mit seiner Hand darüber.

Meta wusste, wie viel ihrem Mann daran lag, endlich einen Erben für seinen Hof zu haben, der auch seinen Namen trug.

Ihr Herz schlug heftig, als sie den Namen ihrer Enkeltochter in großen Buchstaben auf dem Dokument las.

»Stine Knudtsen«, sagte sie und lächelte. »Das hört sich gut an.«

»Das hört sich verdammt gut an!«

Ole lachte dröhnend und holte die Kornflasche aus der Anrichte.

»Komm Mutter, darauf stoßen wir an.«

Jetzt wird alles gut, dachte Meta und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Vielleicht glaubte sie in diesem Augenblick wirklich, der Himmel habe ein Einsehen.

Eine Zeit lang hatte es auch tatsächlich den Anschein.

Irrlichter und Spöckenkieker

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