Читать книгу Irrlichter und Spöckenkieker - Helga Licher - Страница 5

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Pfarrer Harms hatte es eilig.

Die letzte Ölung beim alten Christiansen hatte viel mehr Zeit in Anspruch genommen, als ihm lieb war.

Bereits seit Stunden wurde er auf dem Knudtsenhof erwartet und Harms wusste genau – Ole Knudtsen konnte sehr ungnädig werden, wenn man ihn warten ließ.

Hastig lief der Pfarrer den Feldweg entlang, der zur Hauptstraße führte. Von dort war es nur noch ein kurzer Fußmarsch bis nach Oldsum. Zu allem Überfluss hatte es inzwischen zu regnen begonnen und die halblangen, dünnen Haare des Pfarrers klebten zerzaust an seiner Stirn. Mit einer ungeduldigen Handbewegung strich er eine Haarsträhne zurück und schlug den Kragen seines langen, schwarzen Mantels hoch.

Gewöhnlich war er mit seinem Fahrrad unterwegs, aber irgendjemand hatte ihm in der vergangenen Nacht einen Streich gespielt und die Luft aus den Reifen gelassen. Die Luftpumpe war unauffindbar, und so musste sich der Pfarrer zu Fuß auf den Weg machen.

Einen Augenblick lang blieb er an der Kreuzung stehen und ließ seinen Blick über das weite Deichvorland schweifen.

»Hier hat unser Herrgott sein Meisterstück geschaffen«, murmelte er und schlug die Richtung nach Oldsum ein.

Äußerst misstrauisch waren die Oldsumer ihm gegenübergetreten, als er nach seiner Ordination das Pfarramt in der St. Laurentii Gemeinde übernahm. Doch schon bald hatte er durch seine hilfsbereite und bodenständige Art das Vertrauen der Dorfbewohner gewonnen.

Das 800 Jahre alte Gotteshaus der St. Laurentii Kirchengemeinde, welches fortan seine Wirkungsstätte sein sollte, befand sich inmitten des Friedhofes der Orte Oldsum und Süderende. Das Geläut der bronzenen Kirchenglocken war weit über die Insel zu hören, wenn sie mit ihrem satten Klang zum sonntäglichen Gebet riefen.

Während Oldsum im 17. Jahrhundert von Walfängern und Fischern besiedelt wurde, ist das Ortsbild heute von schmucken, reetgedeckten Bauernhöfen geprägt. Duftende Gärten säumen die schmalen Straßen.

Wenn man die Hauptstraße entlang, etwa bis zur Dorfmitte geht, dort wo die alte Windmühle steht, sieht man schon von weitem den stattlichen Hof der Familie Knudtsen.

Der Knudtsenhof ist bereits seit über hundert Jahren im Besitz der Familie, und selbst die Sturmflut im Jahre 1825 konnte dem prächtigen Bauernhof nichts anhaben. Vielen Oldsumern nahm die Flut damals ihr gesamtes Hab und Gut. Als die Deiche brachen und große Teile des Dorfes überfluteten, rechnete niemand mit dieser Katastrophe. Die Menschen wurden von den Wassermassen regelrecht im Schlaf überrascht. Die Familie Knudtsen zeigte sich damals sehr großzügig und nahm viele obdachlose Föhrer bei sich auf. Als der Jungbauer Ole Knudtsen den Hof von seinem schwerkranken Vater übernahm, hatte dieser es bereits zu bedeutendem Wohlstand gebracht und konnte mit Stolz auf eine lange Ahnenreihe zurückblicken.

Ole Knudtsen gehörte zwar zu den einflussreichsten Bauern der Insel, doch sein Leben war alles andere als leicht. Viele Schicksalsschläge hatte die Familie bereits verkraften müssen. Dabei war der Knudtsenhof vom Krieg nahezu verschont geblieben und die zerstörte Remise war dank der fleißigen Helfer schnell wieder aufgebaut, so dass der Hof bald in altem Glanz erstrahlte.

Die Schwierigkeiten, mit denen die Familie Knudtsen fertig werden musste waren anderer Art. Pfarrer Harms seufzte.

Nun gab es einen neuen Erdenbürger auf dem Hof.

Meta und Ole Knudtsen waren zum ersten Mal Großeltern geworden.

»Sieh dir die Kleine an, sie ist eine echte Knudtsen«, rief Ole, nachdem er seine Enkelin stolz dem Pfarrer präsentiert hatte. Alle Mitglieder der Knudtsen Familie hatten die gleichen dunklen Haare und feingliedrige, schmale Hände. Die braunen Augen gaben dem Mädchen ein besonders apartes Aussehen, und der wache Blick faszinierte jeden Besucher, der sich über die handgeschnitzte Eichenwiege beugte.

»Die geschwungene Mundpartie hat sie eindeutig von ihrem Vater«, sagte Oles Tochter Rieke und schaute ihren Mann Laas liebevoll an. Laas Klassen trug einen rostbraunen Anzug und ein tadellos weißes Hemd. Der leichte Bauchansatz wurde kaschiert von einer dunkelbraunen Weste, die mit drei Knöpfen geschlossen wurde. Die Arbeit in der Spedition erforderte stets seriöse Kleidung. Auch äußerlich war erkennbar, dass Laas kein Bauer war.

»Mein Enkelkind soll Stine heißen, wie meine Mutter«, verkündete der alte Knudtsen, nahm umständlich seine Brille ab und verstaute sie in der Brusttasche seiner Arbeitsjacke.

Lächelnd strich Meta ihrem Enkelkind zart über die rosigen Wangen.

»Ja Ole, Stine ist ein schöner Name«, sagte sie leise und schaute ihren Mann nachdenklich an. Tiefe Falten hatten sich in seine sonnengebräunte Haut gegraben, und an den Schläfen kräuselten sich die ersten grauen Haare. Alt ist er geworden, dachte Meta und seufzte.

Die harte Arbeit auf dem Hof hatte ihre Spuren hinterlassen. Oft plagten den Bauern heftige Rückenschmerzen, die jede Bewegung zur Qual werden ließen.

»Heute Abend gibt es Freibier für alle«, verkündete Ole laut, legte seinen Arm um die Bäuerin und drückte sie an sich.

»Jeder in Oldsum soll auf das Wohl unserer Stine trinken.«

Mit der freien Hand griff er nach seinem Glas und trank es in einem Zug leer. Beschämt trat Meta einen Schritt zur Seite, so dass der Arm des Bauern von ihrer Schulter rutschte. Wenn er doch nicht immer so viel trinken würde, dachte sie, wobei sie die Kömflasche unauffällig vom Tisch nahm, um sie in die Küche zu tragen.

»Als unsere Tochter Rieke geboren wurde, hat niemand auf ihr Wohl getrunken«, die Bäuerin konnte nicht verhindern, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten.

Als Oles Frau Meta damals nach vier Fehlgeburten endlich einer gesunden Tochter das Leben schenkte, sah keiner dem Bauern seine Enttäuschung an, obwohl für ihn eine Welt zusammen brach.

Wie sehr hatte er sich einen Stammhalter für den Knudtsenhof gewünscht. Nächtelang saß er im Wirtshaus und ertränke seinen Kummer im Schnaps.

Meta, die heute zur Großmutter geworden war, fühlte damals, wie sehr der Bauer litt und zog sich immer mehr zurück. Wie gerne hätte sie dem Hof den ersehnten Erben geschenkt, doch das Schicksal wollte es anders. Oft sah man die Bäuerin mit dem Kinderwagen auf dem Friedhof von Süderende. Dort kauerte sie unter dem alten Holzkreuz, in ein Gebet vertieft.

»Sie spricht mit dem Kreuz«, raunte der Pfarrer der St. Laurentii Kirchengemeinde beim Frühschoppen Ole zu und machte ein besorgtes Gesicht. Der Bauer schüttelte lachend den Kopf.

»Komm Pfarrer, trink erst mal einen. Die Meta hat einen kleinen Spleen, das legt sich wieder, alles ganz harmlos…«

Doch Ole ahnte, ganz so harmlos, wie er dem Pfarrer weismachen wollte, waren die Spaziergänge auf dem Friedhof nicht.

»Sag Pfarrer, wann wollen wir unser Enkelkind taufen? Ein großes Fest soll es geben, mit Köm und Rum und Zwetschgenkuchen«

Mit vor Stolz geschwellter Brust schaute Ole in die Runde.

Es stand für ihn außer Frage – die Taufe seines ersten Enkelkindes musste gebührend gefeiert werden.

Der alte Harms besah sich den schlummernden Säugling in der Wiege und runzelte missbilligend die Stirn.

»Bei einer Taufe wird kein Alkohol getrunken, so will es der Brauch«, sagte er mürrisch.

»Ach Pfarrer…«, knurrte Ole, während er mit seinem Taschentuch die Schweißtropfen von seiner Stirn wischte.

In diesem Moment erklang aus der Wiege lautes Geschrei.

»Jetzt hast du Stine aufgeweckt«, sagte Laas vorwurfsvoll zu Ole und beugte sich zu seiner Tochter hinunter. Behutsam legte er seinen Daumen in die winzige Hand und beobachtete, wie Stine nach dem Finger griff und ihn fest umklammerte. Sofort beruhigte sich der Säugling, öffnete die Augen und schaute seinen Vater an.

Dem Knudtsen-Bauern wurde es warm ums Herz. Gerührt sah er zu, wie sein Enkelkind ganz leicht den Mund verzog und eine kleine Grimasse zog.

»Sie hat gelächelt…« sagte Rieke, wobei ihre Augen vor Glück leuchteten. Zart strichen ihre Finger über die blütenweiße Bettwäsche. Ole hätte sich gerne seine Pfeife angezündet, traute sich in Anwesenheit des Säuglings aber nicht. Nachdenklich setzte er sich in den Ohrensessel, der neben dem Ofen stand. Bald wird es wieder lebendig auf dem Hof, dachte er. Dann fiel sein Blick auf Meta, die sich leise mit Rieke unterhielt.

Trotz ihrer fünfzig Jahre war Meta noch immer eine schöne Frau. Aus den kleinen Lachfältchen, die ihr Mann so liebte, waren mittlerweile tiefere Falten geworden. Noch immer blinzelte sie mit den Augen, wenn sie aufgeregt war und biss sich leicht auf die Unterlippe, wenn jemand sie verunsichert hatte. Ihre graumelierten Haare trug sie meistens zu einem Knoten gesteckt. Nur abends, wenn sie ihr bodenlanges Nachtkleid anlegte, hingen die Haare offen bis auf die Schultern hinunter, wobei sie tatsächlich wieder jung aussah, wie in ihren Mädchentagen.

Als junger Bursche war Ole bei den Mädchen auf der Insel sehr beliebt gewesen. So manche Deern im heiratsfähigen Alter warf ihm vielsagende Blicke zu, wenn abends auf der großen Diele getanzt wurde. Er aber hatte nur Augen für die junge Meta Ahrends, die vom Festland gekommen war, um auf Föhr als Lehrerin zu arbeiten. Meta hatte dunkelblonde Haare und lustige Sommersprossen auf der Nase, die Ole besonders gut gefielen. So dauerte es nicht lange, bis der Bauernsohn die hübsche Meta als seine Frau auf den Knudtsenhof holte.

Die ersten Jahre ihrer Ehe verliefen glücklich und harmonisch. Ole liebte seine Frau maßlos und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Zunächst zeigte Meta großes Interesse an der Landwirtschaft, doch immer häufiger ließ sie ihren Mann die Stallarbeit alleine erledigen. In dieser Zeit entstanden die ersten kleinen Gedichte, die sie liebevoll mit kleinen Zeichnungen versah.

Sein Blick ruhte noch immer auf Metas Gesicht. Laas beugte sich zu ihr, sagte etwas und Meta lächelte. Ole hatte sie viel zu selten lächeln sehen …

»Meta hat die Schwermut von ihrer Mutter geerbt«, hatte der Pfarrer einmal gesagt. »Auf dem Festland war die alte Frau Ahrends als Heilerin bekannt, sie hatte einen Pakt mit dem Teufel«, fuhr er flüsternd fort.

Der Bauer reagierte damals sehr verärgert und wies den alten Harms scharf zurecht. Doch seine Gedanken wollten sich einfach nicht mehr beruhigen.

Hatte der Pfarrer Recht?

Irrlichter und Spöckenkieker

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