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S-Klasse

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Am Morgen nach der Reim-Show brachte ich Eva zum Flughafen. Da ich am Wochenende gearbeitet hatte, wenn auch am Sonntag nur wenige Stunden, gerade lange genug, um die steuerfreie 75-Euro-Pauschale dafür abzugreifen, hatte ich frei.

Im Briefkasten fand ich verabredungsgemäß Wagenschlüssel und Dokumente des Testwagens, den ich heute für unseren Autoredakteur fahren und beurteilen durfte. Ich mache mir eigentlich nicht viel aus Kraftfahrzeugen. Denn die, die ich mir leisten kann, interessieren mich nicht, und die, die mich interessieren, kann ich mir nicht leisten. Doch unser Autoredakteur war – wieder mal – ohne Führerschein. Er hatte mir anvertraut, er sei seinen Lappen losgeworden, weil er erneut zu schnell gefahren sei. Ich glaubte ihm das nicht, sondern war mir sicher, er hatte zu viele Promille im Blut und wurde dabei erwischt. Selbstverständlich verpetzte ich den verzweifelten Kollegen nicht. Wir trafen eine Verabredung, die für uns beide von Vorteil war. Solange er lappenlos zu Fuß gehen musste, fuhr ich die Testwagen, sagte ihm, was ich gut und was schlecht fand und er schrieb alles brav auf und veröffentlichte es unter seinem Namen. Win win.

Heute erwartete mich eine mattsilberne Mercedes-S-Klasse. Eva, schon in ihrer schmucken Lufthansauniform, entfuhr ein: „Wow! Hast du heimlich Lotto gespielt und gewonnen?“ Während ich ihren Rollkoffer verstaute, klärte ich sie kurz auf; gestern hatte ich vergessen, ihr von dem Deal mit dem PS-Kollegen zu erzählen. Sie stieg ein, die Tür machte ein sattes „Plopp“, Eva schnupperte den Geruch des feinen Leders und fühlte sich „wie die Queen“. Da fiel mir natürlich sofort der Schmeichelsatz ein: „Du bist ja auch meine Queen.“

Anfangs hatten wir noch das Lokalradio an. Dort wurde die Vorsitzende der Grünen im Stadtrat interviewt. Sie regte sich gerade über die gereimte Kolumne von Heinrich Weinrich vom Samstag auf. Das tat sie so ungeschickt und tief betroffen, dass Eva wenig damenhaft meinte: „Wenn ich Heinrich Weinrich wäre und würde jetzt hören, was für einen Scheiß die grüne Tussi da von sich gibt, da würd‘ ich mir glatt einen runterholen.“

Nur auf einem kurzen Teil der Autobahn von der City bis zum Airport gibt es keine Geschwindigkeitsbeschränkung. Ich gab Gas, so etwa 220 zeigte der Tacho. Die Frau neben mir merkte an: „Der könnte aber schneller!“ Ich erwiderte: „Ist aber kein Airbus. Außerdem will ich, dass die Fahrt mit dir nicht so schnell zu Ende geht.“ Sie schaute scheel.

Der Motor summte und surrte sanft. Ich hoffte heimlich, der Führerscheinentzug des Auto-Kollegen würde verlängert.

Am Flughafen verabschiedete Eva mich relativ kühl mit Wangenküssen. Obwohl sie sehr gefühlvoll sein kann, mag sie keine öffentlichen Zärtlichkeiten. Ich wünschte ihr ein „Glückauf!“ Ich liebe diesen alten Bergmannsgruß.

Kaum saß ich wieder hinterm Lenkrad, rief mich Susi an, die eigentlich Susanne heißt. Sie war wohl, so wird gemunkelt, die letzte Geliebte des Zeitungsgründers. Jedenfalls brachte er sie kurz vor seinem Tod als Redakteurin im Ressort von Rosi Heckmann unter. Dort bearbeitete sie unter anderem die Leserbriefe und, da sie vor Urzeiten mal Konditorin gelernt hatte, war sie verantwortlich für das tägliche Koch- bzw. Backrezept. Susis Torten sind legendär. Wann immer ein Kollege was zu feiern hat, Geburtstag oder Beförderung, Hochzeit oder Scheidung, Taufe oder Konfirmation, bestellt er bei Susi „was Süßes“. Für kleines Geld gibt es großen Genuss. Niemals verbirgt sie ihre Leidenschaft für kreatives Torten-Design und teilt jedem mit, das sei ihre wahre Berufung, nicht das öde Arbeiten unter der Zicke Rosi Heckmann. Doch leider verdiene der beste Bäcker weniger als der dümmste Redakteur. Wahrscheinlich hat sie recht.

Susi klang verzweifelt. „Ich stör’ dich nicht gern an deinem freien Tag. Aber du musst mir helfen, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“

Dass ich nun auch von ihr als Kummerkasten missbraucht wurde, störte mich, ich war doch nicht der Betriebsrat. Aber ich dachte an die Torte, die ich zu Evas Geburtstag bei Susi in Auftrag gegeben hatte, und zwang mich zuzuhören.

„Also“, erklärte Susi, „du bist doch mit Heini Weini … also ihr seid doch gute Kollegen. Und um den geht es. Wir haben 46 Leserbriefe bzw. E-Mails zu seinem Gedicht über die Grünen bekommen, so viele wie noch nie zu einem politischen Kommentar …“

Das sei doch sehr erfreulich, unterbrach ich sie. Ja, aber darum gehe es nicht. „32 Leser stimmen ihm zu, elf sind empört und der Rest, also drei, da weiß man nicht genau, was die meinen. Aber jetzt kommt das, weshalb ich dich störe. Die Heckmannsche will, dass ich die elf, die Heinis Gedicht ablehnen, alle abdrucke aber nur vier von den positiven Zuschriften, darunter übrigens eine von einem Bonner Germanistikprofessor, der mal über Robert Gernhardt promoviert hat, und die Tendenz von Heinis Werk lobt, aber die Form schlicht katastrophal findet.“

Ich warf ein, es sei Usus beim Blatt, alle Leserbriefe dem Redakteur zukommen zu lassen, der den Artikel verfasst hat, auf den sie sich beziehen.

„Ja, das wollt’ ich ja“, erklärte Susi, „aber Heini ist heute nicht in der Redaktion erschienen. Seine Freundin, die Wirtin von der Adlerklause, hat, wie ich aus der Morgenkonferenz erfahren habe, Buddha eine SMS geschickt, die er laut vorgelesen hat: ‚Seid nicht zu sehr betroffen, Heini hat diese Nacht zu viel gesoffen. Jetzt hat der Vater erstmal einen Kater.‘ Also, was soll ich tun?“

Ich strengte mein Hirn an. Susi fragte ungeduldig: „Bist du noch dran?“

Dann kam mir die Lösung in den Sinn. „Susi, schick mir Kopien aller Briefe und E-Mails an meine private E-Mail-Anschrift, also nach Hause, und schreib mir dazu, dass ich sie ausdrucken und dem Dichter geben soll. Dass er zu Hause kein eigenes Notebook hat, dürfte ja allgemein bekannt sein. Ich meinerseits werde alle Briefe mit entsprechendem Kommentar an Buddha weiterleiten. Du wärst aus dem Schneider und die Heckmannsche Intrige im Eimer.“

Susi grunzte: „Das reimt sich ja, ein wenig. Doch so machen wir’s. Übrigens scheint heute in der Redaktion Weltreimtag zu sein. Alle möglichen Kollegen imitieren unseren Fernseh-Dichter, mal nett, mal bösartig. Sogar unser Bote wünschte mir einen ‚Guten Morgen, ohne Sorgen‘ und Lene hat bei mir vorhin eine Torte bestellt und gesagt: ‚Lieber eine leckere Torte als süße Worte.‘ Vielleicht ist Reimen ja doch ansteckend.“

Diesmal war ich uneingeschränkt stolz auf meinen Rat. Die Vorbehalte Buddhas gegen Heinis Reimerei, auch seinen nur mühsam unterdrückten Neid auf dessen Nimbus als Reporter und die Preise, die er eingeheimst hatte, ja, die waren mir wohl bewusst. Doch stand bei Buddha bisher immer das Wohlergehen des Blattes an vorderster Stelle, sogar als er kürzlich Heinis Entlassung forciert hatte. Das Blatt, das ist sein Leben. Ein anderes hat er nicht. Deshalb würde er es niemals durchgehen lassen, Leserbriefe so zu manipulieren, dass eindeutige Trends umgekehrt werden.

Ich gab Gas und fuhr auf einem großen Umweg zurück in die City, schließlich musste ich den Wagen ja gewissenhaft testen. Das war ich meinen Lesern schuldig, also den Lesern meines PS-Kollegen.

Mir fiel ein, dass unsere Bundesligisten heute Training hatten. Ich fuhr zum Stadion und stellte meinen Test-Mercedes frech neben die vielen Fords, die auf dem Mannschaftsparkplatz standen. Ford war zu jener Zeit Hauptsponsor und die Jungs mit den goldenen Füßen mussten Fords Pflaume bewegen, so stand es in ihren Verträgen.

Als ich mich aus dem Ledersessel der Luxuslimousine erhob, sah ich Pierre Verlaine aus seinem Focus aussteigen. Verlaine war erst in der vergangenen Saison dank des großzügigen Sponsors als große Torjäger-Hoffnung vom FC Toulouse eingekauft worden. Bislang war es bei der Hoffnung geblieben. Er sah mich staunend an und fragte in seinem drolligen Deutsch: „At disch adoptiert deine Scheffin? Oder hast du gemacht Überbankfall?“ Ein wenig Neid glomm in den Augen des Focus-Muss-Fahrers, der mit seinen 23 Jahren mehrfacher Millionär sein dürfte.

Beschwichtigend erklärte ich ihm, dieser Mercedes sei leider nicht meiner sondern ein Testwagen. Der schwarzgelockte Hoffnungstreter grinste: „Passt auch nischt für disch. Mehr was für grandpères. Isch habe mir eine Maserati bestellt, also privat. Aber verrat misch nicht bei Trainer. Hast du,“ wechselte er unvermittelt das Thema, „nischt meine Fallrückzieher bemerkt? Ein bisschen mehr in rechte Winkel, und wir hätten besiegt Bayern. Merde!“ Klar, ich hatte den bemerkt, aber in meinem Bericht nicht erwähnt. Ich entschuldigte mich lahm: „Wenn er drin gewesen wäre, wäre mir das nicht entgangen.“ Monsieur Verlaine lächelte dünnlippig und verschwand in der Umkleidekabine.

Etwa eine halbe Stunde schaute ich dem leichten Training zu, von Spielern und Trainer freundlich mit Kopfnicken oder Handzeichen begrüßt. War vielleicht doch ganz nützlich, einen halbwegs freundlichen Vorbericht zu schreiben, und so eine Art Laudatio nach dem Null zu Null am Samstag. Das Unentschieden gegen die Bayern wirkte wie Bein-Viagra auf unsere Mannschaft. Sie kickte lustvoll, konzentriert, präzise. Vielleicht hat sie ja doch noch eine Chance auf den Klassenerhalt. Ich würde es den Jungs und mir gönnen.

Zu Hause leitete ich als Erstes alle Leserbriefe, die mir Susi zugemailt hatte, weiter an den Chefredakteur, merkte noch betont harmlos an, die Tendenz sei ja wohl eindeutig positiv, das werde sich bestimmt auch im Blatt niederschlagen. Ich werde, schrieb ich weiter, alle Zuschriften ausdrucken und Heinrich Weinrich, verbunden mit den besten Genesungswünschen der Kollegen, in seinen Briefkasten werfen.

Das Ausdrucken war eine ziemlich öde Arbeit. Kurz bevor ich damit fertig war, erhielt ich eine SMS von Buddha, nur ein Wort, es ließ mich rätseln, wie es gemeint war: „Weinrich-Versteher.“

Mit dem Packen Papier unterm Arm bestieg ich den Testwagen. Direkt vor der Adlerklause fand sich, oh Wunder, ein Parkplatz. Heini hatte vor Jahren mal beiläufig erwähnt, er wohne über seiner Stammkneipe, der Gastraum sei sein eigentliches Wohnzimmer. Ich schaute auf die Klingel- und Briefkastenschilder neben der Haustür, doch den Namen „Weinrich“ fand ich nicht. Stattdessen „Charlo“.

Etwas ratlos stand ich herum und überlegte, ob ich klingeln sollte, als ich ihre Stimme hörte. Sie kam aus der Wirtshaustür nebenan und stellte sachlich fest: „Du willst sicher zu Heini. Doch komm’ erstmal rin in die gute Stube. Ich öffne erst am Abend, aber für seine Kollegen mach’ ich gern eine Ausnahme.“ Das leere Lokal roch überraschend gut, nicht wie erwartet nach abgestandenem Bier oder kaltem Zigarettenrauch. Das sagte ich der Wirtin, es freute sie. „Lüften ist alles“, erklärte sie sachlich, „und ein bisschen Raumduft. Ein Pils wie immer?“

Wie immer, ein alter Wirtstrick, so oft war ich ja noch nicht in ihrer Kneipe gewesen, doch ich antwortete: „Wie immer, aber nur eins, muss noch fahren.“ Dabei deutete ich auf die Luxuslimousine mit dem Stern am Kühler, was Charlo ignorierte.

Während sie sich ans Zapfen machte, fragte sie mich: „Hast du gestern die Sendung mit Heini gesehen?“ Ich nickte, schwieg aber. Sie fragte weiter: „Und, wie fandest du ihn?“ – „Na ja“, zögerte ich mit der Antwort, „es war ganz amüsant, er hat sich gut geschlagen. Meine Freundin war ganz begeistert. Aber, ehrlich, wenn ich tagtäglich mit einem Menschen zusammensein müsste, der ständig reimt, also in jeder Situation, das fänd’ ich ganz schön nervig. Ich wüsste nicht, wie lange ich das aushalten könnte.“

Sie schaute mich aus ausdrucksstarken, dunklen Augen an, strich sich eine kleine Locke ihrer roten Haare aus der Schläfe und nickte: „Darauf kannst du einen lassen. Vielleicht sind Heini und ich nur deshalb noch zusammen, weil wir zwar im selben Haus auf derselben Etage wohnen, aber unsere Wohnungen durch den Flur getrennt sind. Nee, der Heini, so gern ich ihn ja hab’, der ist schon was Besonderes. Hier in der Adlerklause hat er ja seinen Fanclub, ich nenn’ den immer den ‚Club der Proll-Poeten‘ …“

Ich prustete laut los, das freute Frau Wirtin, und sie zeigte hinter ihren wieder knallrot geschminkten Lippen etwas schiefe, aber strahlend weiße Zähne, „… also die Proll-Poeten, alles Stammgäste mit Niveau, ein Arzt, zwei Studienräte, eine kesse Pfarrerin und der Direktor der Volkshochschule, alles Leute mit Abitur, mindestens, die waren gestern Abend vollzählig versammelt und kriegten sich kaum noch ein vor Spaß. Besonders der Reim von ‚tender‘ auf ‚Ständer‘, der hat ihnen gefallen. Aber, wenn einer immer nur reimt, also auch im Bett, dann kann man schon mal die Lust verlieren.“

Bei diesem Bekenntnis erwachte der Reporter-Instinkt in mir. Ich versuchte, meine Frage harmlos klingen zu lassen: „Ach, also auch beim Sex reimt er?“ Ich trank einen Schluck Pils, sie schaute mich nachsichtig lächelnd an, dann brach es aus ihr heraus: „Dir kann ich’s ja sagen, bist ja sein Freund und auch nicht prüde, glaub’ ich. Wenn Heini mir zu Anfang unserer Beziehung, ist schon einige Jahre her, mal geflüstert hat: ‚Deine Titten sind wahre Sahneschnitten‘ oder: ‚An deinem Busen möcht‘ ich schmusen‘, oder: ‚deine Muschi schmeckt besser als jedes Sushi‘, fand ich das ja ganz lustig. Aber wenn er sagt ‚Charlo, mach die Beine breit, jetzt kommt der Herr der Herrlichkeit‘, dann geht mir das ziemlich aufn Keks. Dabei bin ich als Wirtin einiges gewöhnt. Inzwischen bitte ich Heini immer häufiger, wenn wir allein sind bei ihm oder bei mir, einfach den Mund zu halten. Was er auch brav tut, wenn auch leider nur kurz.“

Schwer fasziniert und zugleich leicht angewidert hörte ich ihr zu, unterbrach sie aber nicht bei ihrem Geständnis: „Dabei lieb’ ich ihn. Er ist nämlich ein verdammt toller Liebhaber, der beste, den ich je hatte. Und ich hatte einige, das kannst du mir glauben. Und Mumm hat er auch. Kürzlich, er kam gerade aus der Klapse, wo er wegen der Rumreimerei von eurem Chefredakteur hingeschickt worden war, machten hier zwei Skins Stunk. Einem hat er beim Rausschmeißen das Nasenbein zertrümmert und dessen Kumpel so gewaltig in den Arsch getreten, dass er jaulend abgehauen ist. Tja, und jetzt ist der Heini berühmt. Was willst du eigentlich von ihm? Er hat wirklich einen ziemlichen Kater. Als ich ihn heute Morgen durch die Wohnungstür laut schnarchen hörte, da war mir sofort klar, dass mit ihm heute nichts anzufangen ist. Ich habe ihn dann kurz geweckt. Er hat mir gesagt, dass er nach der Aufzeichnung der Talkshow mit der Moderatorin und dem Produzenten, diesem Thilo, den du ja auch kennst, total versackt ist. Ich hoffe jedenfalls, dass der Thilo dabei war. Denn diese Karolin entspricht ziemlich genau Heinis Beuteschema.“

Ich fragte Charlo: „Hast du die E-Mail an den Chef geschrieben?“ Sie bejahte stolz: „Sogar ganz allein gereimt.“ Ich riet ihr, auf Nachfragen – von wem auch immer – diese Version beizubehalten.

Während wir plauderten, bemerkte ich, wie mir Charlos lässig-erotische Ausstrahlung von Wort zu Wort besser gefiel, obwohl sie sicher zehn Jahre älter ist als ich, und sie – verglichen mit meiner Super-Eva – natürlich nur zweite Wahl wäre, wenn denn was wäre. Ich teilte ihr sachlich mit, ich hätte für Heini die auf seine Grünen-Schelte bezogenen Leserbriefe ausgedruckt, sie möge sie ihm doch, wenn er wieder vernehmungsfähig sei, aushändigen. Die meisten Zuschriften seien positiv, was zu seiner Genesung beitragen könne.

Sie bot sich an, ihren Geliebten anzurufen und ihn zu fragen, ob es ihm recht sei, wenn ich ihm die Briefe selbst übergebe. Einfühlsam sagte sie mir, ich solle nicht böse sein, wenn er das nicht wolle, denn er hüte seine Wohnung wie eine Festung. Nach ihrer Kenntnis habe Heini noch nie einen Kollegen zu sich eingeladen. Nur sie, als seine Quasi-Frau, habe uneingeschränkten Zutritt zu seinem Reich und seine Tochter.

Jetzt war ich bass erstaunt: „Heini Weini hat eine Tochter? Das hab’ ich ja gar nicht gewusst, hat er nie von erzählt. Ich dachte bisher immer, er sei ewiger Junggeselle.“

„Psst!“, flüsterte Charlo und legte den rechten Zeigefinger vor die Lippen, „verrat ihm nicht, dass ich dir das gesagt habe. Ich nahm an, wenigstens du wüsstest es. Tatsache ist: Heini war nie verheiratet. Seine Tochter, die dürfte jetzt Ende zwanzig, Anfang dreißig sein, war das Ergebnis eines One-Night-Stands mit einer verheirateten Frau, als Heini noch bei den Fallschirmjägern war. Erst nach dem Tod ihres Gatten, ein Multimillionär, hat Heini erfahren, dass er seit Jahren Papa ist. Da war seine Tochter aber schon erwachsen. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden ist verblüffend, besonders das markante Kinn mit dem Grübchen. Seit Heini weiß, dass er der Vater von Dorothée ist, so heißt sie nämlich, den Nachnamen habe ich vergessen, irgendwas mit ‚von‘, also seitdem haben die beiden ein ganz tolles Verhältnis zueinander. Zweimal im Jahr kommt sie rüber aus den USA, wo sie lebt, und bleibt dann immer für ein paar Tage. Sie ist vom Wesen her wie Heini, gar nicht hochnäsig oder eingebildet, obwohl sie Literaturprofessorin an so einer Eliteuniversität ist, in Kalifornien, glaub’ ich.“

Ich war verblüfft. Heute hatte ich mehr über Heinrich Weinrich erfahren als all die Jahre zuvor, in denen wir als Kollegen zusammen gearbeitet hatten. Ganz tröstlich, dass es in den Zeiten von Facebook, Twitter & Co noch Menschen wie Heini gibt, die ihre Geheimnisse hüten können und sie nicht breittreten.

Während ich den letzten Schluck Pils in mich hineinschüttete, telefonierte Charlo mit ihrem Heini. Noch während sie miteinander sprachen, hob sie den Daumen ihrer rechten Hand und lächelte mich an. Sie legte den Hörer auf und formulierte filmreif: „Der Herr lässt bitten. Dritte Etage, kein Fahrstuhl. Nimm zwei Flaschen Weizenbier mit. Das beste Mittel gegen Kater. Vertrau einer altgedienten Wirtin: Weizenbier verscheucht das Katertier.“

Ich tat wie geheißen. Während ich langsam die Treppen zur Wohnung hinaufstieg, unter dem linken Arm die Ausdrucke der Leserbriefe, in der rechten Hand einen Plastikbeutel mit zwei Flaschen Weizenbier, wurde mir etwas beklommen. Ich war mir nicht sicher, ob ich der Ehre würdig wäre, Heinis feste Burg betreten zu dürfen.

Schlichter Dichter

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