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Allerlei Reimerei

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Obwohl ich mich für ziemlich durchtrainiert halte, fiel mir das Treppensteigen schwer, weil ich zaudernd darüber nachdachte, wie ich Heini begrüßen sollte, ob ich ihm gegenüber ehrlich sein könnte, wenn er mich fragen sollte, wie ich seinen Talkshowauftritt beurteilte.

Als ich vor seiner Wohnungstür stand, hörte ich ein lautes Geigensolo, irgendetwas Klassisches. Noch bevor ich klingeln konnte, öffnete mir Heini die Tür. Bleicher als sonst wirkte er, doch seine tiefe Stimme klang wie immer. Anstatt „Guten Tag“ oder etwas Ähnliches zu sagen, klärte er mich über die Musik auf: „Ein Konzert von David Garrett holt mich immer aus dem Kater-Bett.“ Dann weckte der Beutelinhalt sein Interesse. Er brummte: „Weizenbier, her zu mir. Schön, dich zu sehen. Bleib nicht auf der Treppe stehen.“ Ich nickte ihm zu, übergab ihm den Papierstapel sowie die Bierflaschen und wollte mich höflich-schnell vom verkaterten Reimeschmied verabschieden, bevor er meine Neugier auf seine Wohnung bemerken würde. Doch zu meiner Verblüffung bat er mich hinein: „Komm rein in den Stall des Pegasus. Hier zu dichten ist ein Hochgenuss. Doch bedenke, werter Alt-Gefreiter: Auch Pegasus hat Sonntagsreiter.“

Wie er diesen Satz über das geflügelte Pferd der Dichter wohl gemeint haben mochte, ob er sich selbst damit meinte oder mich, erschloss sich mir nicht, ich war viel zu verblüfft von der Einrichtung der Wohnung.

Zwei große, helle Zimmer, die auf einen mit vielen Buchsbäumen dekorierten, riesigen Balkon hinausführten, standen voll mit Bücherregalen und mehreren großen Kommoden mit Buchstaben-Kombinationen auf den einzelnen Schubladen. Ich las „Aa“ und „Be“ bis „Zy“. „Junge, schau dich nur gut um, dann stirbst’ auch nicht dumm“, dröhnte hinter mir seine Stimme.

Ich blickte Heini an, doch er hatte sich in ein großes Ledersofa gefläzt und begann, die Kopien der Leserzuschriften zu lesen. Die Bücherregale interessierten mich weniger. Es waren, wie ich schnell feststellte, meist Biografien oder andere Sachbücher, wenige Romane. Riesig hingegen die Anzahl der Gedichtbände. Einige Dichternamen – Brecht, Rilke, Grass, Benn, Kästner – waren mir, obwohl ich schon in der Schule mit Lyrik wenig anfangen konnte, geläufig. Aber viele sagten mir nichts. Dazu Anthologien en masse: Deutsche Liebesgedichte, Gedichte von Frauen, Gedichte aus der Bundeswehr und Primaner-Lyrik. Warum aber ein wirtschaftswissenschaftliches Werk mit dem Titel Über das Volksvermögen von einem Herrn Rühmkorf, dessen Namen mir nichts sagte, zwischen all den Lyrikbänden einsortiert war, blieb mir unklar.

„Hast du das alles gelesen?“, fragte ich Heini Weini. Der blickte kurz auf, antwortete scheinbar spontan: „Es wäre ein Vergnügen gewesen, all diese Bücher zu lesen. Doch leider fehlte mir dafür bisher die Zeit, darum tut’s mir um die ungelesenen Dichter leid. Noch muss ich Geld verdienen und arbeiten wie die Bienen. Ach, da fällt mir ein, ich trink’ mein Bier nicht gern allein. Magst du eine Flasche vom perlenden Hopfensaft, der steigert deine Manneskraft?“

Mit Hinweis auf das gerade in der Adlerklause getrunkene Pils und darauf, dass ich über Mangel an Manneskraft nicht klagen könne, lehnte ich ab. Heini stemmte sich aus der mit hellem Leder bezogenen Couch und verschwand mit einer beiläufig gemurmelten Erklärung aus dem Zimmer: „Ohne Kapselheber kommt das Bier nicht bis zur Leber.“

Während Heini in der Küche hantierte, öffnete ich blitzschnell und mit schlechtem Gewissen die oberste Schublade der ersten Kommode mit den beiden Buchstaben „Aa“. Sie war voller ordentlich sortierter Karteikarten im Postkartenformat. Auf der ersten gleich das Kinderwort für Scheiße: Aa. Dazu ein Vers in der mir bekannten Handschrift von Heinrich Weinrich: „Aa nennen Kinder Kacke. Wird’s verboten, kriegen sie ’ne Macke.“ Auf der nächsten Karteikarte las ich „Aal“ und den Reim: „Ein Gedicht über den Aal ist schleimig und banal.“

Ich hörte, wie Heini zurückkam, war jedoch nicht schnell genug mit dem Schließen der Schublade. Sie klemmte, ich bekam einen roten Kopf und stammelte: „Entschuldigung, Heini, ich weiß, das tut man nicht. Aber meine Neugier war einfach zu groß.“

Er schaute mich an, trank einen großen Schluck aus der Flasche und zeigte Verständnis für mein indiskretes Tun: „Ein Journalist ohne Wissbegier ist wie ein Zoo ohne jedes Tier. In unserem Job ist Neugier eine Tugend, sowohl im Alter wie in der Jugend.“ Ich sah ihn dankbar an, er hatte sich bereits wieder in die Leserbriefe vertieft.

Aus seiner betagten Tweedjacke, dieselbe, die er bei seinem TV-Auftritt und wohl auch während des anschließenden Besäufnisses angehabt hatte, und die nun nachlässig auf der Sofalehne lag, fummelte Heini Weini nun einen fetten Rotstift hervor und markierte die Leserbriefe, die er für wert hielt, abgedruckt zu werden. Mich wunderte hinterher, dass er sogar den Verriss des Bonner Germanistikprofessors veröffentlichen wollte. Diese Souveränität imponierte mir.

Erst jetzt bot er mir an, Platz zu nehmen in dem zur Couch passenden Sessel, übergab mir wortlos die mittels Rotstift akzeptierten Leserzuschriften, legte kurz seine Pranke auf meinen Arm und bat ganz ernsthaft: „Jetzt kennst du das Rezept meiner Reimerei. Es ist eine Sammlung von Allerlei. Nur wenig ist spontan. Die meisten Verse habe ich mir zuvor ins Gehirn getan. Seit vielen Jahren sammle ich alles, was nach Reimen klingt, ob man es spricht, schreibt oder singt. An vielen Tagen sitz’ ich in diesen Räumen und versuch’ die Sprache aufzuschäumen. Mal klaue ich bei Tucholsky und mal bei Brecht, beim Reimeklauen ist mir jeder recht. Na, außer Günter Grass, der ist mir zu krass. Doch ob Ulla Hahn oder Else Lasker-Schüler, nach all ihren Versen streck’ ich meine Fühler. Doch an manchen Tagen geht mir keiner der großen Dichter auf den Leim, dann schmiede ich mir selber einen Reim.“

Von so viel Aufrichtigkeit und Vertrauen in meine Verschwiegenheit gerührt, versprach ich, niemandem in der Redaktion und auch nicht anderswo seine Methode zu verraten, scheinbar spontan Verse zu finden, die er in Wirklichkeit über Jahre hinweg gesammelt hat und in seinem phänomenalen Gedächtnis ständig abrufbereit vorrätig hielt. Heini erhob sich, ging leicht tapsig zu dem opulenten Schreibtisch, der vor dem Fenster neben der Balkontür stand und so wirkte, als sei er schon zu Kaisers Zeiten geschreinert worden. Schweigend beschrieb der Reimmeister einen Zettel oder so etwas. Was es genau war, konnte ich nicht sehen, da er mir den Rücken zuwandte. Leise ächzend erhob er sich wieder und drückte mir das Papier in die Hand. Es war ein Scheck über, wie ich mit flüchtigem Blick bemerkte, 2 000 Euro. Heini erklärte: „Krieg keinen Schreck, dies ist dein Scheck. Das ist dein Anteil für den guten Rat, ins Fernsehstudio zu laufen und anschließend mit Karolin zu saufen.“

Diese Großzügigkeit verblüffte mich. 20 Prozent von seiner Gage spendierte mir Heini nur deshalb, weil ich ihm kürzlich bei den Tarifverhandlungen mit dem Protz-Produzenten Thilo geholfen hatte, das Honorar in die Höhe zu treiben. Ich stotterte etwas von „wäre doch nicht nötig gewesen“ und „Freundschaftsdienst“ und so. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und versprach: „Wenn andere Sender mich in Talkshows zerren, werde ich mich nicht sperren. Bitte vermarkte du mich künftig medial, denn dieses selbst zu tun, wäre mir eine Qual. Beim Reimen I will do my best und du, du machst den Rest. Ich vertraue auf deine Diskretion, kein Wort zu Buddha und zur Redaktion.“

Heinrich Weinrich hatte also Blut geleckt. Ich steckte den Scheck in meine Jackentasche, gab meinem Gönner die Hand, sagte „Abgemacht!“ und verabschiedete mich.

Als ich um 2 000 Euro reicher Heinis Wohnung verließ, dachte ich kurz darüber nach, wie schnell und auf welch simple Art und Weise ich gerade den Monatslohn einer Verkäuferin verdient hatte. Ach was verdient, ich hatte ihn bekommen, einfach so. Dann fiel mir eine Weisheit von John F. Kennedy ein: „Denke daran: Das Leben ist ungerecht, aber nicht immer zu deinen Ungunsten.“

Was ich damals nicht ahnte, nicht einmal ahnen konnte: Gerade war ich Teil einer von langer Hand vorbereiteten Inszenierung geworden.

Schlichter Dichter

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