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Verlegene Verlegerin

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Was Lene mir zum Weitererzählen anvertraut hatte, das hatte mich ziemlich erstaunt. Es war tatsächlich höchst ungewöhnlich, dass die Verlegerin, die sich selbst niemals so nannte, sondern Mehrheitsgesellschafterin, eine Entscheidung des Chefredakteurs missbilligte und sogar widerrief. Zumal, wenn dies Geld kostete, ihr Geld.

Ich war ihr ein paar Mal begegnet, meist auf Reitturnieren. Früher, als junge Frau, war sie, wie ich in Archiven überregionaler Blätter recherchiert hatte, eine talentierte Amazone und wäre beinahe in die Nationalmannschaft der Dressurreiterinnen gekommen. Wenn wir uns trafen, war ich immer bemüht, meine mangelnden Reitsportkenntnisse zu kaschieren. Ich bin nun mal ein Fußballmensch. Obwohl sie merken musste, dass ich von ihrer Leidenschaft bestenfalls Wikipedia-Wissen hatte, war sie gleichbleibend freundlich, kühl-freundlich.

Einmal, als ich erst kurz bei ihrer Zeitung angestellt war, ihre Marotten noch nicht kannte und sie mit „Ah, meine Verlegerin“ linkisch begrüßt hatte, wies sie mich höflich zurecht: „Lassen Sie das. Verlegerin, das macht mich ganz verlegen. Ich verlege höchstens meine Brille.“

„Ja, aber …“, widersprach ich. „Kein aber. Mein Vater, der war Verleger mit Leib und Seele. Mein Bruder wäre es geworden, ganz sicher, wenn er …“ Der Satz verhungerte unvollendet. Sie fuhr fort: „Ich bin nur die Erbin, die Verwalterin eines gelegentlich bedrückenden Nachlasses. Aber lassen wir das. Schauen Sie sich lieber die elegante Gangart dieser Schimmelstute an.“ Ich gehorchte.

Nach diesem Gespräch mit der verlegenen Verlegerin fragte ich am nächsten Tag Heinrich Weinrich, der gerade von einer Reportage über das Albert-Schweitzer-Hospital in Gabun zurückgekehrt war, ob er mich über die Geschichte der Zeitung und der Verlegerfamilie aufklären könne. „Klar, mache ich gerne und sofort“, grinste der Chefreporter, der zu jener Zeit noch ganz normal und reimlos sprach, „ich suche nämlich gerade nach dem besten Einstieg in die Lambarene-Story, und weil mir bisher keiner eingefallen ist, bin ich für jede Ablenkung dankbar.“ Er fingerte aus einem auf dem Schreibtisch stehenden Humidor eine mittelgroße Zigarre, biss mit seinen gelblichen Zähnen ihren Kopf ab und entzündete sie mit höchster Konzentration. Eigentlich herrschte im gesamten Verlagsgebäude auf Anordnung der Verlegerin, die nicht so tituliert werden wollte, Rauchverbot seit den Tagen, als sie selbst mühsam dem Nikotin entsagt hatte. Aber Heinrich Weinrich als privilegierter Einzelzimmerbewohner ignorierte diesen Ukas wie viele der älteren Redakteure.

„Also, lieber Kollege, es folgt die Geschichte unserer kleinen, aber immer noch feinen Zeitung im Schweinsgalopp, und zwar so, wie sie nicht im Internet steht. Sie beginnt Ende der 30er Jahre, als der Gründer, ein knorriger Sozialdemokrat, vor den Nazis nach England ins Exil flüchtete. Die Braunen nahmen ihm weniger sein Sozi-Sein übel, sondern dass er sich nicht von seiner jüdischen Frau scheiden lassen wollte. Im Exil hat er sich mehr schlecht als recht durchgeschlagen mit Schreiben, obwohl das nie seine Stärke war. Immerhin hat er mit Thomas Mann korrespondiert, wird sogar mehrfach in dessen Tagebüchern erwähnt, wenn auch nicht immer schmeichelhaft. Nachdem der Nazi-Spuk vorbei war, bekam er von den Briten die Lizenz fürs Zeitungsmachen, das war kurz nach dem Krieg gleichbedeutend mit der Erlaubnis, Geld zu drucken.“

„Wie, musste man damals eine Lizenz haben, um eine Zeitung zu gründen?“, fragte ich; Geschichte hatte mich in der Schule nämlich immer gelangweilt. „Ja, musste man“, erklärte mir der Chefreporter nachsichtig, „nun hatte er also die Lizenz und suchte Redakteure, ein paar kannte er, oder sie wurden ihm von der SPD empfohlen. Dann stellte er den Walter Wiese ein. Sagt dir der Name was?“

„Nee“, zuckte ich mit den Schultern.

„Also, Wiese war ein glänzender Organisator und guter Schreiber. In seinem Lebenslauf hatte er auch nicht verschwiegen, dass er im Krieg Offizier war. Doch hatte er vergessen zu erwähnen, dass er dies nicht in der Wehrmacht, sondern in der Waffen-SS war. Unser Verleger hatte dem Wiese völlig vertraut. Als er die Wahrheit erfuhr, irgendwann in der späten 50ern, war er fix und fertig. Das hat er mir selbst mal so erzählt.“

„Du kanntest ihn also noch?“, fragte ich.

„Na klar, er hat mich und Buddha ja noch selbst eingestellt, am selben Tag. Deshalb genieße ich hier in der Redaktion nicht nur Presse-, sondern auch Narrenfreiheit.“

Weinrich lachte und musste husten. Er fuhr dann fort: „Doch die Folgen des Falls Wiese waren schlimm. Der Alte, eigentlich ein vertrauensvoller Kumpeltyp, wurde extrem misstrauisch. Und dann passierte die Sache mit seinem Sohn, ein Sonnyboy, der die Frauen liebte und den Whisky und seine heißen BMWs. Völlig blau lenkte er seine Maschine gegen den einzigen Baum auf der Landstraße nach Norden, da wo heute noch das Kreuz steht, nicht das Kreuz, sondern eines von vielen, denn die Kreuze werden oft geklaut. Nach dem Tod seines Sohnes war der Alte nicht mehr nur extrem misstrauisch, er war ein gebrochener Mann.“

„Selbstmord?“, fragte ich.

„Dafür gab es keinen Grund. Der Sohn war überhaupt nicht der Typ dafür, sich selbst umzubringen. Nee, Todesursachen waren eindeutig Whisky und BMW. Der Alte bestimmte nun, dass seine Tochter – die Mutter war schon länger tot – den Verlag erben sollte. Doch die zickte rum, wollte lieber ihr Studium der Kunstgeschichte in Florenz beenden. Naja, der Alte hat sie dann doch überredet oder überzeugt oder genötigt. Ich weiß es nicht, war ja nicht dabei, leider. Wäre sicher eine tiefgründende Geschichte gewesen.“

„Aber sie macht ihre Sache doch ganz gut, oder?“, warf ich ein.

„Naja, jetzt. Zu Anfang machte sie einige Fehler. Weißt du, was ihre erste Entscheidung war?“

„Nee, wie sollte ich?“

„Recherchieren, Herr Kollege!“, klang es jetzt etwas von oben herab, „ihr erster Ukas nach dem Tod des Alten aus physischem und psychischem Gram war, ein totales Alkoholverbot zu verhängen nicht nur in der Kantine sondern im ganzen Verlag. Darüber stand eine Personalie im Spiegel. Seitdem hält sich unsere First Lady völlig raus, bis auf das Rauchverbot, also nach außen jedenfalls. Nur in Personalfragen, da mischt sie intern kräftig mit, und durchaus mit Erfolg. Denn eines hat die Dame neben ihrem unbestrittenen Kunstverstand: eine fast schon bedrohliche Menschenkenntnis. Sie durchschaut jeden Blender spätestens nach fünf Minuten.“

Nun wurde mir mulmig wegen der Begegnung mit ihr beim Reitturnier. Ich dachte kurz nach und war sehr zufrieden, dass unser Gespräch nicht einmal zwei Minuten gedauert hatte.

Heinrich Weinrich blies einen Rauchkringel in sein Büro und fragte mich: „Kennst du eigentlich den Spruch, der hinter ihrem Schreibtisch hängt?“ – „Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß, „ich hatte noch nicht das Vergnügen, ihr im Chefbüro eine Visite abstatten zu dürfen.“

„Sei froh“, grinste Weinrich, „denn das ist meistens unangenehm. Also der Spruch lautet: ‚Die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte und die vierte verkommt vollends‘. Stammt von Bismarck. Und wenn jemand unsere Besitzerin darauf anspricht, dann sagt sie ‚Sie sprechen hier übrigens mit der zweiten Generation.‘ Das nennt man wohl Selbstironie oder wie. Au, das reimt sich.“

Ich bedankte mich bei meinem Mentor und machte mich auf den Weg zu meinem Schreibtisch. Unterwegs fiel mir ein, dass ich gar nicht danach gefragt hatte, warum die unzweifelhaft kluge und auch nun im fortgeschrittenen Alter nach wie vor attraktive Frau nicht verheiratet war, ob die Gerüchte, sie ziehe Frauen Männern vor, denn stimmten. Doch ich traute mich nicht umzukehren.

Schlichter Dichter

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