Читать книгу Schlichter Dichter - Helmut Böger - Страница 5

Semi-Journalismus

Оглавление

Der Tag, an dem Heinrich Weinrich zum ersten Mal nach seinem Zwangsurlaub wieder in der Redaktion auftauchte, war der wohl verrückteste in meinem Leben. Na ja, der zweitverrückteste.

Den bizarrsten erlebte ich als fünf Jahre alter Bub, wie meine Oma mich immer nannte, nachdem ich einer Nonne in meinem katholischen Kindergarten die Haube vom Kopf gerissen hatte, um zu erfahren, ob sie wirklich, wie mein Freund Marvin behauptete, kahl rasiert war. Ich bekam von Schwester Walburga eine schallende Ohrfeige und musste wegen „Insubordination“ – was das genau bedeutet, musste meine Mama im Duden nachschlagen – den frommen Kindergarten verlassen. Doch wusste ich nun, dass Schwester Walburga keineswegs eine Glatze trug, sondern ihre Haare raspelkurz. Und ich hatte erfahren, dass Wissenwollen schmerzhaft sein kann. Marvin hat mich sehr bewundert.

Obwohl ich brennend gern wissen wollte, wie Heinrich Weinrich seine Degradierung vom Chefreporter zum Schlussredakteur aufgenommen hatte, und ob er immer noch ständig in schlechten Reimen sprach und schrieb, zögerte ich, ihn in seinem Exil-Büro unterm Dach zu besuchen. Mir wollte einfach kein Vorwand einfallen.

Also las ich die neueste Ausgabe des Kicker noch sorgfältiger als sonst, guckte im Internet, was die Kollegen von bild.de produziert hatten, trank einen Kaffee mehr als üblich und fragte den Büroboten, während dieser die Post verteilte, ob er schon bei Weinrich gewesen sei. „Jaaa“, sagte er sehr gedehnt und fiel ins Flüstern, „der hat es da ganz gemütlich unterm Dach, der ganze Dachboden für einen Mann, dat is doch Verschwendung. Da kann er tun und lassen, wat er will. Es stinkt auch schon wie in seinem alten Zimmer nach Zigarrenqualm. Aber, dat janz im Vertrauen, bei der Post für ihn war auch ein Brief von einer Klinik für Psiatrie.“

„Psychiatrie?“, fragte ich den unüberhörbar aus dem Rheinland stammenden Boten. Er nickte: „Sach‘ ich doch!“

Sollte, überlegte ich, Heinrich Weinrich gar nicht nur freigestellt oder beurlaubt gewesen sein in den vergangenen Wochen, sondern im Irrenhaus gesessen haben wegen seines Reimticks? Das Wort „Irrenhaus“ strich ich gleich aus meinen Gedanken. Unkorrekt.

Nun gönnte ich mir keinen Aufschub mehr, Weinrich unterm Dach aufzusuchen, auch wenn mir seit Kindergartentagen bewusst war, wie schmerzhaft Erkenntnis sein kann.

Die Redaktion und die Verlagsspitze arbeiteten in einem großzügigen Bürgerhaus in der Innenstadt. Der Verleger hatte das im Krieg durch Bomben weitgehend zerstörte Haus Anfang der 50er Jahre, als es mit seinem Blatt aufwärts ging und er ziemlich schnell ziemlich reich wurde, gekauft und für viel Geld restaurieren lassen. Nun stand es unter Denkmalschutz. Innen war das Gebäude gerade noch zeitgemäß. Wir normalen Redakteure saßen auf fünf Etagen verteilt in größeren Räumen zu dritt, viert oder fünft, je nach Größe des Ressorts, die Ressortleiter hatten kleine Einzelbüros, ebenso die zwei stellvertretenden Chefredakteure, Buddha und die Verlagschefin repräsentierten in repräsentativen Räumen, den ehemaligen Salons. Nur zwei Personen, die nicht über „Personalverantwortung“, wie das im Managerdeutsch heißt, verfügten, hatten Einzelzimmer. Chefreporter, nun also a. D., Heinrich Weinrich und die „Ratgeber-Tante“, wie wir Rosi Heckmann heimlich nannten. Sie gab Lesern gute oder zumindest gut gemeinte Ratschläge für alle Lebenslagen, wenn es mit dem Sex nicht mehr klappte, oder die Rente falsch berechnet worden war, wenn der Hund Durchfall oder ihre Rosen Läuse hatten. Einmal in der Woche, immer samstags, schilderte Rosi Leserfragen und gab Antworten, die sie für lebensklug hielt. Wir, die wir uns für richtige Journalisten hielten, nahmen sie nicht ernst. Doch bei jedem Copytest schnitten ihre Beiträge bei den Lesern besser ab als die politischen Kommentare oder die preisgekrönten Reportagen von Heinrich Weinrich. Ein Grund, weshalb die beiden sich nicht mochten, und er ihre Texte als „Semi-Journalismus“ oder als „Gesülze“ abtat.

Fünf Etagen waren durch zwei Fahrstühle und einen Paternoster erreichbar. Doch zum sechsten Geschoss, wo bis zu ihrer Entlassung drei Schlussredakteure unterm Dach Dach inmitten ausrangierter Möbel und Bänden mit vergilbten Zeitungen gearbeitet hatten, führte nur eine knarrende Holztreppe. Ich stieg hinauf, klopfte oben an der Tür und hörte Weinrichs Bass: „Komm herein, sei ein Schwein, bring Glück herein.“

Ich trat ein und musste mich zunächst an das Dämmerlicht gewöhnen. Der Raum erstreckte sich über das ganze Haus und bekam durch vier Fenster in den Dachgauben nur spärlich Tageslicht. Mitten in dem riesigen Raum, der auf mich wirkte wie ein gut aufgeräumtes Sperrmülllager oder eine vergessene Bibliothek, stand ein Schreibtisch, darauf ein Apple-Computer, eine Zigarren-Klimabox und das Bild einer attraktiven, jungen Frau. An der Wand hing ein gerahmtes Foto. Es zeigte eine Masse von Menschen, davon viele in Uniform, die die rechte Hand zum Hitlergruß erhoben hatten. Nur ein Mann stand da und hielt seine Arme verschränkt.

Heinrich Weinrich bemerkte, dass ich etwas ratlos auf das Foto schaute und begann, es zu erläutern: „Auf den Führer scheiß‘ ich, dachte der Arbeiter Landmesser im Jahre Neunzehnhundertneununddreißig. Er weigerte, sich den Führer zu grüßen, dafür musste er mit dem Leben büßen. Von ihm wäre nichts geblieben, hätte ich nicht über ihn geschrieben.“

Ganz kapiert hatte ich das nicht. Einige Tage später habe ich recherchiert, was es mit dem Foto auf sich hat. Im Frühjahr 1939 hielt Hitler in Hamburg bei der Werft Blohm + Voss die Taufrede beim Stapellauf des Schlachtschiffs „Bismarck“. Während alle Mitarbeiter den Führer mit dem deutschen Gruß ehrten, verschränkte der Arbeiter August Landmesser als Einziger auf dem Foto die Arme. Der Grund: Weil er ein jüdisches Mädchen liebte, war er wegen Rassenschande verurteilt worden.

„Wie geht es dir so?“, begann ich mit dieser unverbindlich-doofen Standardfrage das Gespräch, setzte dann hinzu: „Reimst du immer noch andauernd?“ Heinrich Weinrich lächelte mich undurchdringlich an, sodass mir nicht klar wurde, ob er mich auf den Arm nehmen wollte oder seinem Reimzwang folgte: „Ruhig Blut, mir geht es gut. Ich sitze über den Dächern der Stadt und fresse mich an miesen Texten satt. Korrigiere der Kollegen Orthografie und hüte die Worte wie der Bauer das Vieh. Nach wie vor ist mir das Reimen Lust, es erspart mir manchen Frust.“

„Mal ehrlich“, versuchte ich den kollegialen Frontalangriff, „kannst du nicht auch ganz normal wie wir alle reden und schreiben?“

Seine Antwort kam so schnell, wie andere ungereimt reden: „Normal, das ist mir zu pauschal. Klar kann ich reimlos reden und auch schreiben. Doch dann könnte ich mich selber nicht mehr leiden. Auch der Psychiater, bei dem ich auf Buddhas Wunsch zur Untersuchung war, schreibt in seinem Bericht ganz klar …“ Der schlichte Dichter fischte aus dem Sakko, das er über die Lehne seines Schreibtischsessels gehängt hatte, ein Stück Papier, auf dem ich als Briefkopf lesen konnte „Institut für Psychiatrie und Psychotherapie Charité Berlin“. Weinrich legte seine halb aufgerauchte Zigarre nahezu feierlich auf den Rand des Aschenbechers und zitierte betont langsam aus dem Brief des Arztes: „Herr Heinrich Weinrich hat kein gestörtes Ich. Auch das Über-Ich ist es nich. Weder sehe ich ein Krankheitsbild, noch führt der Patient Böses im Schild. Seine Lust an der Poesie benötigt keine Therapie. Er ist gesund wie ein junger Hund. Doch, dies sei eingeräumt, niemals zuvor hat ein Psychiater von Reimlust und Reimzwang auch nur geträumt. Ungelogen, dieser Fall ist eher ein Fall für Philologen.“

Triumphierend reichte mir der wohl doch nicht irre Reimer den Brief des Irrenarztes und lud mich am Abend zur Feier seines neuen Jobs auf ein „Bier wie ich dir“ in die Adlerklause ein.

Ich verabschiedete mich mit einem Reim: „Zwischen Leber und Pils passt immer noch ein Pils“, und fragte mich, während ich die steile Treppe herunterstieg, ob Reimzwang ansteckend sein könnte. Oder wollte der Psychiater seinen Patienten und den Auftrag gebenden Chefredakteur verarschen mit seiner gereimten Diagnose? Die ging wohl in die Hose.

Schlichter Dichter

Подняться наверх