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Auf der Flucht

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Es fällt schwer, in Tagen wie diesen nicht von den Millionen Menschen zu sprechen, die sich in der Welt auf der Flucht vor Krieg, Terror und Vernichtung befinden. Da sterben jetzt nicht nur im Mittelmeer, sondern direkt bei uns Menschen in unmenschlichen Tansportsystemen. Dramatische Bilder erschüttern uns alle.

Bertold Brecht hat einmal im Gedicht „An die Nachgeborenen“ geschrieben:

Was sind das für Zeiten, wo

Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist

Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Der dort ruhig über die Straße geht

Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde

Die in Not sind?

Leben wir wirklich schon wieder in solchen finsteren Zeiten? Ich denke eher nicht, denn ich sehe eine breite Welle von Hilfsbereitschaft, von zivilgesellschaftlichem Engagement und von couragiertem Auftreten gegen Hetze und Hass. So gab es am Montag eine beeindruckende Menschenkette vor dem Landhaus in Graz. Aber das ist nicht nur in meinem Lebensumfeld so, sondern erfasst auch Städte und Dörfer, und zwar überall dort, wo konkret Begegnungen mit Flüchtlingen stattfinden.

Auf der Flucht zu sein, das bedeutet Dinge hinter sich zu lassen, die man persönlich für wichtig empfunden hat, die Orientierung geben konnten und die das Leben strukturierten.

Das kann man „Heimat“ nennen, ein Begriff, den ich selbst nur im Plural verwende, denn Geborgenheit kann man, wenn man Glück hat, auch an mehr als einem Ort im Lebenszyklus finden. Es ist aber jedenfalls das Gefühl, das wir jenen Flüchtlingen, die längerfristig bei uns bleiben, langsam vermitteln müssen, das Gefühl des Angenommenseins, der Sicherheit und der Akzeptanz.

Neue Orientierungspunkte zu finden, ist nicht ganz leicht. Dazu braucht man Menschen, die mit Ratschlägen helfen, die Kontakte aufmachen und die die Neuankömmlinge einfach mitnehmen zu Orten und Plätzen, an denen man ein solches Gefühl der Geborgenheit entwickeln kann. Das ist eine Herausforderung, selbst wenn Ortswechsel freiwillig erfolgen.

Selbst ich war fremd, als ich vor 32 Jahren nach Graz gezogen bin, vorerst allein, wenig später mit der ganzen Familie. Hätte man mich nicht in die Südsteiermark mitgenommen, hätte man mich nicht mit dem Kaiser-Josef-Markt vertraut gemacht, dann wären mir Stadt und Umland viel länger fremd geblieben. So aber war es nicht schwer, ein Netz aufzubauen, in dem wir uns nunmehr seit Jahrzehnten gut aufgehoben fühlen können. Das sind Orte, wo man wirklich vertraut agieren kann. Wenn wir in die Weinberge schauen und die Nebel aufsteigen sehen, wenn am Markt der Bärlauch den Frühling ankündigt oder gerade jetzt den reichen Herbst mit allem, was man sich wünschen kann, dann wissen wir, dass wir von hier nicht mehr dauerhaft weg wollen, so spannend und so schön Urlaube in anderen Weltgegenden auch sein können.

Natürlich, wir hatten kaum sprachliche Verständigungsprobleme, obwohl manch steirische Dialektform für uns seltsam klang und sich nicht immer voll erschloss. Und wir waren und sind beruflich und ökonomisch privilegiert. All das machte die Verankerung leicht. Da haben es die Flüchtlinge von heute ungleich schwerer. Sie können sich kaum verständigen und es fehlt auch an den nötigsten Mitteln für das Überleben. Aber etliche von ihnen werden jene Menschen sein, auf die wir in ein paar Jahren stolz sein werden, so wie derzeit auf unser großartiges Fußball-Nationalteam, das fast zur Hälfte aus Spielern mit Migrationshintergrund besteht. Wie etwa Zlatko Junuzović, der es als kleines Kind aus dem Balkankrieg nach Kühnsdorf in Kärnten geschafft hat.

Die Welle der Hilfsbereitschaft, mit der den Flüchtlingen jetzt begegnet wird, kann uns aber stolz machen. Wenn in Ratsch Flüchtlinge bei der Arbeit im Weingarten helfen dürfen, wenn Oberzeiring ein Willkommensfest für die über 100 Flüchtlinge organisiert, die den kleinen Ort bevölkern, wenn in Etmißl beim Grillabend meines Lieblingsgasthofs eine kurdische Gruppe Musik macht, wenn Kirchen- und Dorfgemeinschaften Deutschkurse organisieren, wenn gemeinsam gekocht wird und wenn in diesen Tagen die Kinder der Flüchtlinge in den Schulen willkommen geheißen werden, dann sind das wirklich erfreuliche Signale. Sicher, es wird dauern, bis aus den interkulturellen Begegnungen richtige Integration wird, aber der eingeschlagene Weg macht Mut.

Helfen kann praktisch jeder. Meine Frau, seit zwei Wochen in Pension, sortiert Kleider und Geschirr durch, was als Starthilfe und dann vor allem in den kalten Monaten helfen wird. Wir werden auch eine Familie bei den Amtswegen oder Einkäufen begleiten, um die Sprachbarrieren und Ängste zu reduzieren. Die Universitäten Österreichs entwickeln Programme, um ihre Tore jenen zu öffnen, die im Herkunftsland studiert haben. Nicht alle, aber viele werden so einen Weg in eine neue Normalität finden.

Klar, vieles läuft nicht gut. Die europäische Ebene braucht schrecklich lang, um politische Gesamtlösungen zu erarbeiten. Ungarn baut einen Stacheldrahtzaun, und die Verletzungen zeigen sich an den Händen und Füßen jener verzweifelten Menschen, die den Zaun überwunden haben. Die Logistik für eine vernünftige Verteilung der Flüchtlinge läuft langsam und mühselig an. Und es gibt noch immer Personen und Gruppen, die ihre Ängste hinter Hassparolen verstecken. All das stimmt traurig, aber ich denke doch, dass die positiven Stimmen überwiegen.

Wenn die furchtbaren Kriege in Syrien oder am afrikanischen Kontinent hoffentlich einmal vorbei sein werden, werden viele in ihr Land zurückkehren. Sie sollten sich dann positiv an unser Land erinnern, sollten die Orte, die ihnen temporär Heimat gewesen sind, als Teil ihrer Familiengeschichte bewahren. Und jene, die auf Dauer hier bleiben, sollten, wenn sie es geschafft haben, möglichst viel Positives aus den Wochen und Monaten, die auf die verzweifelte Flucht folgten, bewahren. Sie alle sollten jene Orientierungspunkte finden, unter Menschen und unter unserer Landschaft, die Vertrautheit geschaffen und Sicherheit vermittelt haben. Gemeinsam, die Flüchtlinge und wir, können beide Seiten das schaffen.

Sendung vom 13. September 2015

Meine Gedanken zur Zeit

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