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Miteinander leben
ОглавлениеAls ich mit meiner Familie vor fast 28 Jahren nach Graz übersiedelt bin, um hier an der Universität zu arbeiten, hatten meine Frau und ich recht klare Vorstellungen von einer optimalen Wohnumgebung. Grün sollte vorhanden sein, die Stadt aber gut erreichbar. Luftqualität, Verkehrsberuhigung und Schulen waren wichtige Entscheidungskriterien.
So landeten wir im Jänner 1985 in einer kleinen Reihenhaussiedlung am nördlichen Stadtrand, ohne jeden Durchzugsverkehr und mit einem riesigen Spielplatz direkt neben den Häusern. Die 28 Häuser waren rasch alle bezogen, fast durchgängig von Jungfamilien wie uns. Und weil die Wohnqualität hoch und das Nachbarschaftsklima gut war, zog auch fast niemand weg, sodass bis heute zumindest drei Viertel zu den Erstbewohnern zu zählen sind.
Aber wir alle sind über ein Vierteljahrhundert älter. Die vielen Kinder, die in den achtziger Jahren die Siedlung belebten, sind ausgezogen, zurück blieben wir, entweder Menschen im Ruhestand oder knapp davor. In ein paar Häuser sind aber Jungfamilien gezogen, die genau das schätzen, was wir so genossen haben: dass die Kinder den Spielplatz haben, dass die Privatstraße eine sichere Erweiterung des eigenen Gartens ist und dass die Kinder daher in einer gesunden und wenig bedrohlichen Umgebung aufwachsen können. Nur: drei Viertel der Bewohner sind 60 und älter und viele sind Kinder nicht mehr gewohnt. Ein ganz seltsamer Generationenkonflikt bahnte sich an: Die Kinder sind zu laut, ihre Dreiräder hindern die Bewohner am Zufahren und vieles mehr. Kurzum: die jungen Familien werden als Kontrapunkt zur eigenen Lebenssituation, zum Rückzug in den gepflegten kleinen Garten empfunden.
Mich stimmt das traurig, denn ich kann dem gemeinschaftlichen Weg in eine Alterswohnsiedlung wenig abgewinnen. Ich mag die Kinder. Klar, oft kann man kaum im Garten lesen, wenn nebenan alle herumtollen, aber ohne unsere drei entzückenden Kinder von nebenan wäre auch unser Garten viel weniger von Zukunftshoffnung und von positiven Gefühlen erfüllt. Jeder Ball, der über den Zaun fliegt, jedes begeisterte Kommentieren der Kletterkünste unserer Katzen aus Kindermund bringt Leben und Freude in unseren Alltag.
Überall in der Welt spricht man davon, dass man Wohnsituationen ethnisch, sozial und altersmäßig durchmischen sollte, um Spannungen abzubauen, Integration zu erleichtern und Toleranz zu lernen. Aber die Realität ist meist eine andere. So auch bei uns: innerhalb weniger Monate zog eine bestimmte Alterskohorte und ein bestimmtes soziales Segment, nämlich der gehobene Mittelstand, in die Siedlung ein und es gab wenig Antrieb, von hier wieder wegzuziehen. Städte wachsen nicht kontinuierlich, sondern schubweise. Wenn etwa auf den Reininghausgründen in Graz ein neuer Stadtteil entstehen sollte, wird dieser zweifellos jüngere Bewohner haben als die übrige Stadt und in drei Jahrzehnten schließlich überaltern. Und schon jetzt kann man die potenziellen Generationenkonflikte am Horizont erkennen.
Ist es zwischen den Generationen schon schwierig genug, so potenziert sich das noch mit ethnischen und sozialen Fragen. Wenn in eine günstige Wohngegend plötzlich größere Gruppen von armen Migrantenfamilien ziehen, wenn Stadtteile sich nicht nur im langsamen Altern ändern, sondern plötzlich mehr als nur laute Kinder neu sind, sondern wenn auch andere Sprachen gesprochen, andere Gerichte gekocht werden. Durchmischung ist nicht immer die Zauberformel.
In den USA und in Kanada kann man sehen, dass Zuwanderer auch in den großen Städten eigene Subeinheiten besetzen: Chinatown, Little Italy kennt man über das Kino oder über touristische Erfahrung, aber auch die Polen, die Burgenländer, die Bayern bilden kleine Inseln mit einer vertrauten Sprache und vertrauten Regeln in den fremden Großstädten. Es dauert zwei bis drei Generationen, bis man wirklich ungeniert hinaustreten kann und Teil der neuen Gemeinschaft geworden ist. Eine zu rasche, vielleicht sogar erzwungene Durchmischung fördert nur Ängste auf der einen, Vorurteile auf der anderen Seite. Behutsamkeit, Neugier, administrative Hilfe und vor allem schulische Kontakte helfen hingegen.
Unsere Kinder waren in den USA etwa in Programmen, die Kinder aus aller Herren Länder Englisch als Zweitsprache vermittelten. Das waren spannende Integrationsschritte und auch Begegnungen zum Abbau von Barrieren. Deutsch als Zweitsprache, ein Hinführen zur Kultur unseres Landes, das könnte auch bei uns helfen und tut es, wo es angeboten wird, ja auch tatsächlich.
Klar – Zusammenleben in unterschiedlichen Sprachen, Religionen, sozialen Situationen, Generationen, Normen und Gewohnheiten ist schwer zu organisieren und in der Tendenz konfliktträchtig. Der eingangs geschilderte kleine Generationenkonflikt in unserer Wohnsiedlung ist angesichts der mancherorts sichtbaren echten Konfliktlagen wohl ein Luxusproblem, das sich mit etwas gutem Willen ganz leicht lösen lassen sollte. Rücksichtnahme und ein wenig Toleranz reichen aus, um die letzten Meter zum eigenen Haus im Schritttempo zu fahren oder aber Kinderstimmen als Bereicherung zu hören. Aber auch die Kinder sollen lernen, mit den Älteren umzugehen.
Neben- und miteinander zu leben bedeutet, Kompromisse zu finden und nicht nur die eigenen Regeln gelten zu lassen, sondern auch Lösungen zu suchen, die für alle Betroffenen nicht nur akzeptabel, sondern auch einsichtig sind. Da bedarf es professioneller Hilfe, da müssen Personen im Einsatz sein, die Mediation, also das Ausgleichen, gelernt haben. Aber vor allem müssen wohl alle Betroffenen einsehen, dass niemand 100 Prozent seiner Vorstellungen durchbringen sollte, denn das bedeutet Gewalt. Und in den großen Metropolen der Welt kann man die Lehrbeispiele beobachten, wie ein verkorkstes Miteinander sich eruptiv und blutig entladen kann. Vorbeugen ist bei uns jedenfalls besser und klüger, als heilen zu müssen.
Sendung vom 28. August 2011