Читать книгу Meine Gedanken zur Zeit - Helmut Konrad - Страница 13
Grenzen(los)
ОглавлениеImmer, wenn Freunde oder Bekannte aus Übersee zu uns nach Graz kommen, planen wir einen Ausflug in die Südsteiermark ein. Wir sitzen dann in Ratsch bei unserem Weinbauern, schauen in die Hügel und sehen am Horizont die Kirche von Sveti Duh, Heiligengeist. Sie liegt jenseits der Grenze zu Slowenien, aber selbst in der Zeit des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs wurden dort gemeinsame Kirchweihfeste gefeiert, wo auch die Menschen aus Leutschach und Umgebung zum Feiern auftauchen konnten. Und wir gehen manchmal durch die romantische Heiligengeistklamm selbst hinauf zur Kirche, überschreiten die Grenze und rasten unter der mächtigen Linde im Kirchhof. Der Blick auf das Grenzland ist atemberaubend.
Auf der Fahrt nach Ratsch nehme ich mit den Gästen den kleinen Umweg über die Weinstraße. Sie staunen über den Verlauf der Grenze, die ja an manchen Stellen sogar mitten in der Straße verläuft. Und einer unserer Spazierwege führt genau der Grenze entlang, hin zum Haus von Pinky Wall, wo die Grenzmarkierung weniger als einen Meter vom Hauseck entfernt ist.
Die Grenze in der Südsteiermark war natürlich vor drei Jahrzehnten gesichert und bewacht. Ein Überschreiten vom Süden nach Norden wurde meist schon im Vorfeld verhindert. Aber symbolisch war der Strich am Straßenrand nie eine Mauer oder ein Zaun, sondern bloß eine Orientierungsmarke zwischen Nachbarn.
Europa ist seither zusammengewachsen. Wir fahren zum Essen nach Kungota und trinken dann Wein in Ratsch. Die Winzer an der Weinstraße haben Weingärten auch südlich der Grenze, die Kulturlandschaft unterscheidet sich kaum. Bei den Arbeiten in den Weinbergen parken Autos mit slowenischen Kennzeichen, die Saisonarbeitskräfte zu den österreichischen Winzern transportieren. Man ist nicht in der Fremde, wenn man die Grenze überschreitet. WoZwarhl hat die erzwungene Grenzziehung von 1919 emotionale Spuren hinterlassen, und sehr wohl gab und gibt es die imaginäre, aber umkämpfte Sprachgrenze. Aber das Jahrhundert hat hier vieles abgemildert.
Und nun wird plötzlich die Errichtung eines Zaunes thematisiert. Ein „Türl mit Seitenteilen“ hat es der Bundeskanzler genannt, von einem grenzsichernden Zaun sprechen andere. Wie soll das gehen? Geht der Zaun über die Geleise der Bahnlinie hinweg, soll er mitten in der Mur verlaufen und mitten auf der Weinstraße? Und welche Funktion soll er haben?
Es ist zuzugestehen, dass es bei jedem Popkonzert und jedem Fußballspiel Sperrgitter gibt, die den Menschenmassen einen geordneten Weg zum Eingangstor weisen, wo man nach Vorlage des Dokumentes, also der Eintrittskarte, Einlass erhält. Dagegen ist nichts einzuwenden. Wenn Hunderte von hinten nachdrängen, kann es vorne schon eng werden. Ein geordneter Eintritt in unser Land und die Vorlage vorhandener Dokumente sollte die Regel sein, das entspricht den rechtlichen Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft. Aber ein Zaun animiert höchstens Schlepper, um viel Geld um das Hindernis herum Routen anzubieten. Das ist kontraproduktiv. Und ein Zaun kann Menschen, die in Schlauchbooten über das Mittelmeer gekommen sind, die Hunderte Kilometer meist zu Fuß am Balkan hinter sich haben und die mehr als eine Grenze schon überwunden haben, wohl nicht ernsthaft aufhalten.
Die Menschen aus den Kriegsgebieten sind nun einmal da. Etwa jeder Zehnte will in Österreich bleiben, die meisten wollen nach Deutschland. Diese Verteilung entspricht etwa den Größenverhältnissen der beiden Länder, ist also zwischenstaatlich gerecht, obwohl die Last leichter zu schultern wäre, würden sich die anderen Staaten der Europäischen Union an der Aufnahme beteiligen.
Sicher, es wird unter den Menschen, die jetzt zu uns strömen, einige geben, die keinen echten Asylgrund haben. Aber die meisten sind wohl real physisch bedroht, wenn man sie zurückschickt. Wenn man sich, wie bei der von uns betreuten Flüchtlingsfamilie vorstellt, dass der Mann aus der syrischen Armee desertiert ist, weil er nicht auf Landsleute schießen konnte und wollte, wenn man sich seine Frau und sein neugeborenes Kind mitten in der Schlacht um Homs vorstellt, dann ist klar: diese Menschen können derzeit keinesfalls zurück, es wäre ihr sicherer Tod.
Alle jene Österreicherinnen und Österreicher, die Angst vor den Flüchtlingen haben, sollten sich eines Einzelschicksals annehmen, dem Massenleid ein ganz persönliches Gesicht geben. Sie sollten sich von der Flucht erzählen lassen, von den Schockerlebnissen, von dem Zurechtfinden in einer ganz anderen Umwelt. Dann würde man sich plötzlich einem Schicksal gegenübersehen, könnte Empathie entwickeln und helfen. Klar, zur Integration ist es noch ein weiter Weg. Unsere Familie sitzt seit einer Woche in einem Deutschkurs, und das kleine Mädchen, das ja noch gar keine Sprache spricht, wird wohl rasch mit anderen Kindern spielerisch zur Verständigung kommen. Arbeits- und Berufschancen sind noch weit weg, aber es ist wichtig, erste Schritte zu setzen. Daher bitte ich Sie um Mitgefühl und um die Bereitschaft, helfend tätig zu werden.
Sendung vom 8. November 2015