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Gesundheitssysteme

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Manchmal reichen im Leben ein paar Zehntelsekunden, um sich plötzlich mit einer völlig geänderten Situation konfrontiert zu sehen und mittelfristige Planungen ganz neu vornehmen zu müssen.

Mir ist es vor gut zwei Wochen so gegangen, als ich am letzten Arbeitstag vor dem ge­planten Urlaub mit dem Fahrrad von der Uni nach Hause fuhr. Im Kopf war ich schon weg von der Arbeit, und ich machte gerade Pläne für das Kochen. Da kam mein Rad in die Straßenbahnschienen und ich landete mit voller Wucht auf der Straße. Meine Arbeitsunterlagen lagen verstreut um mich, das Rad war kaputt und mein Körper hatte einiges abbekommen. Vorerst sah ich nur die blutigen Hände, schließlich stellten sich doch Brüche im Handgelenk und an den Rippen heraus. An Urlaub war natürlich nicht mehr zu denken, aber das ist wohl verschmerzbar.

Ich erzähle diese unerfreuliche Geschichte, die von meinem Ungeschick und meiner Unvernunft handelt, aber vor allem deshalb, weil ich an diesem Tag wieder einmal Gelegenheit hatte, unser Gesundheitssystem zu erfahren. Mein Hausarzt schickte mich nach einer Erstversorgung weiter ins Unfallkrankenhaus.

Natürlich war mir diese Institution nicht fremd. Wer Kinder großgezogen hat und in Graz lebt, für den gab es manche Gelegenheit, den einen oder anderen Notfall versorgen zu lassen. Aber nunmehr war ich der Patient.

Im UKH werden pro Tag bis zu 200 Patientinnen und Patienten versorgt, also gut zehn pro Stunde, wohl sehr ungleich über den Tag verteilt. Ich musste mich also in die Schlange der Wartenden eingliedern. Da gab es Schicksale, viel dramatischer als mein kleines Missgeschick. Kinder, Verletzte nach Unfällen, Schlägereien und vieles mehr. Schließlich saß ich einer Ärztin und einer Krankenschwester gegenüber. Obwohl deren Tag schon lang war und obwohl alle zehn Minuten schlimme Dinge und verzweifelte Menschen zu sehen sind, war das Team freundlich, geduldig, ruhig und kompetent. Auch das Röntgen, die Computertomographie und schließlich das Eingipsen wurden mit Routine durchgeführt und mit tröstenden Worten begleitet. Ich verstehe die medizinische Fachsprache nicht, aber sie wurde angemessen übersetzt. Selbst die Ausländerfamilie, die nach mir dran war und deren Kenntnis der deutschen Sprache als eingeschränkt bezeichnet werden kann, wurde mit diesen Informationen gelassener, die Spannung fiel ganz sichtbar von ihnen ab. Dabei stammte die Verletzung des Mannes aus einer gröberen körperlichen Auseinandersetzung.

Es war ein beruhigendes Gefühl, in den Händen des österreichischen medizinischen Systems zu sein. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten unter schweren Bedingungen großartige Arbeit. Wohl dauerte der ganze Ablauf über zwei Stunden, aber alle Wartezeiten wurden erklärt und alle Maßnahmen begründet. Und im UKH sind alle Patientinnen und Patienten gleich. Niemand wird vorgezogen, niemand wegen seiner Herkunft oder seiner sozialen Situation schlechter behandelt. Das war für mich in diesen Stunden ein sehr schönes Beispiel, dass dieses Gesundheitssystem einen großen Wert darstellt, der nicht zum Spielball der Politik werden sollte. Hier ist kein politisches Kleingeld zu wechseln, sondern das System ist mit allen Anstrengungen zu sichern.

Ich kenne durch meine Lebensphasen im Ausland auch andere Gesundheitssysteme. In den USA richtet sich die Anzahl der Stiche, mit denen eine Wunde vernäht wird, nach den finanziellen Möglichkeiten der Patienten. Ein Stich kostete damals 10 Dollar. Ob eine entstellende Narbe bleibt, ist also eine Frage der Einkommenssituation. Viele Eltern, die wir bei den Elternabenden im Kindergarten oder in der Volksschule trafen, waren trotz ihrer jungen Jahre schon fast zahnlos, da die einzige kostenlose Zahnbehandlung das Reißen des schmerzhaften Zahnes war. Soziale Differenz schreibt sich so über die Klassenmedizin in die Gesichter der Menschen ein und stigmatisiert die Schwachen ganz nachhaltig.

Kanada war dann etwas besser, das Gesundheitssystem steht in einer europäischen Tradition. Aber insgesamt geht die weltweite Entwicklung in die US-amerikanische Richtung.

Natürlich wird die Medizin immer technisierter und damit teurer. Noch vor zwei Jahrzehnten wäre ich sicher nicht durch einen Computertomographen geschickt worden, um die Frage, ob im Handgelenk ein operativer Eingriff notwendig ist oder ob ein Gipsverband reicht, schlüssig abzuklären. Und die gestiegene Lebenserwartung macht insgesamt den medizinischen Aufwand pro Person im Lebenszyklus sehr viel größer. Viele Krankheiten werden erst jetzt überhaupt diagnostiziert, und der medizinische Fortschritt ist ja selbst eine wesentliche Ursache für die Verlängerung des Lebens.

Dass dadurch die Kosten explodieren, ist außer Frage, Ursache und Wirkung stehen hier in einem direkten Zusammenhang. Und immer größere Anteile der staatlichen Ausgaben fließen in das Gesundheitssystem.

Fast jede Maßnahme, die diese Kosten senken soll, wirkt aber sozial selektiv. Ab welchem Lebensalter oder ab welcher Steuerleistung hat man keinen Anspruch mehr auf eine künstliche Hilfe oder auf eine Spenderniere? Zwingen hohe Selbstbehalte nicht zur Absage von teuren Eingriffen, wenn die ökonomischen Möglichkeiten überstiegen werden? Ab wann kommt man in den Genuss von Leistungen, wenn man Arbeitsmigrant ist?

Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft misst man am Umgang mit den sozial Schwächsten und den Ausgegrenzten. Gerade deshalb hat mich der Nachmittag im Unfallkrankenhaus so positiv berührt. Es ist bei uns noch eine medizinische Versorgung möglich, die nicht nach dem sozialen Status differenziert. Wenn also etwa eine Steuerentlastung, die ich mir wie wohl fast alle Menschen wünsche, dazu führt, die Leistungen der medizinischen Versorgung in der Grundversorgung zurückzufahren, dann sollten die Verantwortlichen noch einmal gründlich nachdenken. Die öffentliche Hand muss funktionsfähig bleiben, nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Altersversorgung, der Bildung oder der Infrastruktur. Ich bin jedenfalls lieber in Österreich krank als in den USA.

Mein kleiner Unfall hat dazu geführt, dass ich zu Hause Urlaub gemacht habe. Die jungen Katzen und viele gute Bücher haben mir einen großen Erholungswert gebracht, stressfrei, wenn auch nicht schmerzfrei. Die gebrochene Rippe lässt kaum ein Lachen oder Husten zu, und eine angenehme Schlafposition zu finden, ist durchaus mühsam. Aber ich habe einen kleinen Einblick in andere Lebenssituationen erhalten und konnte erfahren, dass bei uns die Ärzte, Krankenschwestern und die medizinisch-technischen Angestellten nicht nur fachlich, sondern auch menschlich gut ausgebildet sind. Da weiß man dann, dass Österreich ein gutes Land ist, um hier zu leben.

Sendung vom 24. August 2008

Meine Gedanken zur Zeit

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