Читать книгу Als der Nagel eingeschlagen wurde - Helmut Lauschke - Страница 10

Eckhard Hieronymus Dorfbrunner auf der Suche nach Arbeit

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Er klingelte, doch wie schon bei seinem ersten Besuch regte sich hinter der Tür nichts. Er klingelte ein zweites, dann ein drittes Mal. Nun öffnete die Frau die Tür auf einen Spalt, die schon damals die Tür auf einen Spalt geöffnet hatte und sich beim Ganzaufmachen der Tür als die Frau des Superintendenten zu erkennen gab. Die Frau ließ es dieses Mal beim Türspalt bewenden, durch den Eckhard Hieronymus das Grauwerden ihres Kopfhaars nicht entging. “Kann ich ihnen helfen”, sagte sie wie damals mit der Routine des schnellen Abweisenwollens durch den Türspalt. “Ich möchte ihren Mann sprechen”, sagte Eckhard Hieronymus, nachdem er sich mit vollem Namen vorgestellt hatte. “Der Superintendent liegt mit einer Grippe im Bett und ist nicht zu sprechen”, sagte die Frau, ohne die Verriegelungskette zu lösen und die Tür weiter zu öffnen. “Dann richten Sie ihm bitte meine besten Wünsche zur baldigen Genesung aus. Ich wäre dankbar, wenn mich ihr Mann anrufen würde, sobald er wieder auf den Beinen ist.” “Ich werde es meinem Mann ausrichten. Hat er ihre Telefonnummer?” “Ja, die Telefonnummer hat er.”

Die Frau hatte die Tür geschlossen, ohne “auf Wiedersehen” zu sagen. So war es ein kurzes Spaltgespräch, wobei die gute Kinderstube noch kürzer ausfiel als beim ersten Mal und der Grundstock der Höflichkeit wie vom Axthieb gespalten beziehungsweise weggeschlagen war. Enttäuscht über das Maß der Ungebührlichkeit drehte Eckhard Hieronymus dieser Tür den Rücken zu und machte sich auf den Weg zum ehemaligen Stein’schen Gymnasium, das im Zeitalter des roten Sternes mit den vielen Großplakaten der vier großen kommunistischen Wegweiser (links die beiden Erzväter der kommunistischen Internationale mit den wallenden Rauschebärten, weiter rechts der glatzköpfige Wladimir Iljitsch mit dem kurzen Kinnbart und rechts außen der Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili mit Schnäuzer) in Stein-Oberschule umbenannt wurde. Die Umbenennung war zeitorientiert und ging schnell vor sich, um nicht weniger schnell die Überreste des “reaktionär” verstandenen Humanismus mit all seinen griechischen Begrifflichkeiten der Athener Aristokratie aus der Schule “mit Strunk und Stiel” heraus zu fegen, indem das griechische Wort für Schule entfernt, dadurch am wirksamsten entmythologisiert und durch das deutsche Wort aus der Sprache der Arbeit ersetzt wurde, das verständlicher im Denken und leichter im Aussprechen für die neue obere Klasse war. Das Wort ‘Schule’ liegt der Hand und dem handbezogenen Denken näher als das Gymnasium. Das eine ist eben handfester und zeitbezogener als das andere.

Eckhard Hieronymus stand vor dem Schulportal, über dem ein weißes Tuch aufgespannt war, das fast die ganze Gebäudefront einnahm und bis zu den Fenstern im ersten Stockwerk reichte. Darauf stand mit fetten schwarzen Lettern: “Wir danken dem Genossen Stalin, dem großen weisen Führer.” Eckhard Hieronymus stieg die Stufen der breiten Treppe zum Portal, unterquerte den aufgespannten ‘Weisheits’-Spruch, ging das ‘L’ im linken Flur bis zum Ende und klopfte an die Vorzimmertür. Da sich nichts tat und hinter der Tür nichts zu hören war, klopfte er noch einmal, diesmal kräftiger. Nun schwirrte ein leises “Herein!” gegen die Innenseite der Sekretariatstür, dessen Quelle weit weg zu sein schien, in einen Nebenraum etwa, der auch der Hauptraum, die Schaltzentrale der Schule sein konnte, wo der Direktor hinter dem großen Schreibtisch sitzt, vorausdenkt und vorausschreibt, der die Macht im Hause hat, den ihm unterstellten Lehrkörper aus antifaschistischen Lehrkräften der neuen Generation und den wenigen konservativen, wieder eingestellten Studienräten der alten Generation nach Belieben zu bewegen und, wenn’s ihm dünkt, um seinen Schreibtisch tanzen zu lassen. Darüber hinaus ist er der unangefochtene Herrscher über Zucht und Ordnung der Schüler im Allgemeinen und über ihre Pünktlichkeit im Besonderen. Die Tür öffnete ein hochgewachsener Endvierziger im grauen Anzug mit offenem Kragen, fliehender Stirn, braunen Augen, großer Nase, großen Ohren, Glatze und ergrautem Kinnbart à la Iljitsch.

“Feigel, kommen Sie doch rein!” Sie gingen durchs Sekretariat mit der fehlenden Sekretärin, dann durch die Tür zur ‘Schaltzentrale’. “Nehmen Sie Platz!”, sagte der Direktor, als er sich schon auf seinen Stuhl mit der hohen Rückenlehne und den beiden Armlehnen hinter den Schreibtisch gesetzt hatte. “Kann ich etwas für Sie tun?”, fragte der Direktor. Eckhard Hieronymus fiel bei der Fragestellung das Abzeichen der wehenden roten Fahne am rechten Jackenaufschlag auf, wie es die neuen und alten Kommunisten mit dem Stolz der größeren Zukunftserwartung trugen. (Das Tragen des Abzeichens räumte besonders bei den Jungkommunisten den Zweifel nicht aus, ob sie es aus Überzeugung oder aus opportunistischem Mitläufertum heraus taten.) Eckhard Hieronymus kam mit seinen Gedanken auf die an ihn gestellte Frage zurück und sagte auf einfache, dafür überzeugende Weise das, was er zu sagen sich vorgenommen hatte: “Herr Feigel, meine Stärke sind die Sprach- und Literaturkenntnisse in Deutsch und Latein sowie das solide Geschichtswissen; meine Schwäche ist, dass ich ohne Arbeit bin.” “Wie war doch ihr Name?”, fragte mit einem Lächeln der Direktor, als hätte er das Anliegen verstanden. Eckhard Hieronymus nannte seinen Namen das zweite Mal. “Wenn Sie ein eingetragenes KP-Mitglied wären, sofort. Da Sie es offensichtlich nicht sind, denn ich sehe Sie heute das erste Mal, sieht die Prognose düster aus. Verstehen Sie mich richtig: Sie tragen den Namen eines Heiligen, doch für uns Kommunisten ist die Zeit der Heiligen vorbei. Bei Leuten wie ihnen versteckt sich reaktionäres Gedankengut auch dann noch, wenn sie es nicht mehr wollen und sich bemühen, das alte Zeug über Bord zu werfen, sich der Zeit und ihrer herrschenden Klasse anzupassen, um ihre Füße wieder auf den Boden, damit eine Arbeit und mit der Arbeit wieder einen geachteten Platz nun in der neuen Gesellschaft zu bekommen.

Das darf ich ihnen aus Erfahrung sagen: überkommenes, reaktionäres Denken lässt sich weder rauswaschen noch rausbürsten noch wie beim Hemdswechsel in das neue Denken umwechseln. Ich meine das sozialistische Denken nach dem Vorbild unseres großen Führers Josef Wassarionowitsch Stalin.” Bei Eckhard Hieronymus schwollen die Adern: “Verstehen Sie mich bitte richtig”, erwiderte er, “Sie gehen an der wissenschaftlich dialektischen Denkweise vorbei, wenn Sie von meinem Namen auf mein Wissen, meine Intention und mein Denken schließen. Meine Intention ist, Deutsch und Latein, und wenn möglich, Geschichte zu unterrichten.” “Geschichte auf keinen Fall!”, sagte Herr Feigel, “oder haben Sie die Bücher der führenden sowjetischen Historiker studiert?” “Nein, das habe ich nicht.” “Sehen Sie, da würden Sie wieder mit den alten, kapitalistischen Kamellen kommen, die doch nicht stimmen, wie die neueste Geschichtsforschung herausgefunden hat.” Eckhard Hieronymus schwieg, weil er eine Arbeit suchte und nicht die Auslösung eines Eklats. Der Direktor fuhr fort: “An ihren Sprachkenntnissen will ich weniger zweifeln, da politisch an der Rechtschreibung nichts auszusetzen, wenn auch beim Interpunktieren von Haupt- und Nebensätzen, vor allem beim Setzen der Kommas politisch doch genauer hinzusehen ist, wenn der Schreiber seine Absicht und die Gedanken aus der reaktionären, konterrevolutionären Bourgeoisie hervorkramt. Da sind dann schon aus der Sicht der neuen Gesellschaft Anmerkungen und Korrekturen nötig, damit das Postulat der nun herrschenden Klasse der Arbeiter und Bauern nicht verfälscht wird. Auf die Problematik mit der Interpunktion und dem Rummanipulieren mit den Kommas hat schon der Altgenosse Wladimir Iljitsch Lenin kritisch hingewiesen.

So wird sich der Lehrplan für deutsche Literatur auf die Moderne von Brecht und Zweig an konzentrieren und auf deutsche Übersetzungen zeitgenössischer, sowjetischer Schriftsteller zurückgreifen. Die deutschen Klassiker, wie Herder, Goethe und Schiller, wollen wir nur am Rande erwähnen, dass es sie gegeben hat, weil sie für die neue Gesellschaft kaum noch von Bedeutung sind. Was ich für das Lehrfach Deutsch ausführte, gilt in noch stärkerem Maße fürs Latein, weil die lateinische Literatur die Literatur der römischen Aristokratie und des römischen Imperialismus ist. Beides hat sich überlebt; beides ist am Widerstand der ausgebeuteten Arbeiter und der kontinental aufkommenden Zünfte von Handwerk und Handel gescheitert und zugrunde gegangen. Sicher wird man letztlich am Lateinischen nicht vorbeikommen, da es eine Sprache von logischer Dichte ist. Auch können und wollen wir uns im Lehrplan aus der Mitte Europas nicht verdrücken, in die die römische Geschichte so tief eingegriffen hat. Es wird wohl so kommen, dass als Wahlfach für die zweite Fremdsprache in den letzten beiden Schuljahren zwischen Latein und Englisch entschieden werden kann.”

Herr Feigel schaute ins gegenübersitzende Gesicht, auf dem sich keine Miene verzog. Der Direktor fuhr mit seiner Rede fort: “Das ist die neue Situation, und der Lehrplan der Schule hat sich der neuen Gesellschaft anzupassen. Verstehen Sie mich richtig: Russisch ist die Sprache, die in unsere Schulen gehört, da Russisch die Sprache ist, mit der die unterdrückten Arbeiter und Bauern die große Revolution vom Zaun gebrochen und erfolgreich bis zu Ende geführt haben. Die Geschichte der großen Revolution, die in Europa und in Asien die Gesellschaft zum Besseren verändert hat, ist in Russisch geschrieben. Deshalb soll Russisch gelernt werden, um die Geschichte der Revolution im Originaltext zu lesen. Doch davon sind wir noch weit entfernt. Würden Sie kommen und sagen, Sie wollten das Fach Russisch unterrichten, dann würde ich Sie sofort einstellen. Aber Sie kommen mit den Altfächern Deutsch, Latein und Geschichte. Dafür besteht an dieser Schule kein Bedarf, die Geschichte in deutsch oder lateinisch aus vergangener kapitalistisch-imperialistischer Sicht wiederzukauen.

Eckhard Hieronymus hat es die Sprache verschlagen. Er wusste nicht, was er zu den Ausführungen des Herrn Feigel sagen sollte, und ob er sie richtig verstand, bei denen die gesellschaftlichen Gesichtspunkte entschieden, was in den Lehrplan zu gehören hatte und was nicht. “Das Erscheinungsbild der Schule hat sich drastisch verändert. Nun sollen die Kinder der Arbeiter und Bauern gefördert werden, deren Väter der Schulbesuch aus Gründen der Armut nicht möglich war, wenn er ihnen nicht ihrer Herkunft wegen verweigert wurde. Sehen Sie, Herr Dorfbrunner, da kommen Sie mit Deutsch, Latein und Geschichte, die Sie in einer Weise zu unterrichten gedachten, wie Sie es an ihrer Schule im Gesellschaftssystem des Feudalismus und Kapitalismus gelernt hatten. Das geht heute nicht mehr.”

Es trat eine kurze Pause ein. Herr Feigel machte sich einige Notizen zur Person auf einem Schreibblock. “Ich will ihnen trotz der neuen Kriterien, wie ich sie ihnen vorgetragen habe, insoweit entgegenkommen, als ich mir ihren Namen, den erlernten Beruf, die Anschrift und Telefonnummer notiere und Sie im Auge behalten werde.” Der Direktor fragte und notierte die Antwort, wie sie ihm Eckhard Hieronymus gab:

Name: Eckhard Hieronymus Dorfbrunner

Erlernter Beruf: Pfarrer (Herr Feigel verzog das Gesicht)

Anschrift: Hof Dorfbrunner in Pommern (Herr Feigel hob die rechte Augenbraue)

Telefon: 376

“Ich möchte Sie noch auf folgendes hinweisen. Erstens: Sollte ihre Person als Hilfs- oder Ersatzkraft in Betracht gezogen werden, eine permanente Einstellung ist bei ihnen ausgeschlossen, dann werden Sie vor eine Einstellungskommission gerufen, die Sie eingehend befragen und ihnen über ihre fachlichen Qualitäten hinaus auf den Zahn fühlen wird. Zweitens: Sollten Sie Mitglied der NS-Partei gewesen sein, dann fällt die ganze Sache gleich ins Wasser.” Das sagte Herr Feigel zum Abschluss und brachte Eckhard Hieronymus zur selben Tür, an die er anfangs von außen geklopft hatte, um das Gespräch bezüglich einer Arbeit als Lehrkraft an der Stein-Oberschule zu führen.

Eckhard Hieronymus ging den ‘L’-Flur zurück, unterquerte nun in entgegengesetzter Richtung von innen nach außen das große Transparent mit dem ‘Weisheits’-Spruch, ging die Treppe hinunter und machte sich desillusioniert über das Gespräch mit Herrn Feigel auf den Weg zur Verteilungsstelle für die Lebensmittelkarten. Er stellte sich der Schlange hinten an und nutzte die Wartezeit, indem er über den Wert des geführten Gespräches nachdachte. Die Enttäuschung darüber war groß. Sie mündete, wenn auch aus kritischer Sicht noch weitgehend ungefiltert, in das Ergebnis, dass Gespräche kaum einen Sinn haben, wenn er aus der alten Schule des Denkens und Lernens (die Herr Feigel das reaktionäre Denken in kapitalistisch-imperialistisch überlieferten Formen und Normen nannte) um Arbeit in der neuen Schule nachsuchte, wo im Kern der Umbau der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus liegt. Dieser Kern bestimmt die neue Schule, nach dem sich die Lernfächer und Lehrmethoden auszurichten haben, sei es in den Naturwissenschaften, den Sprachen, im Geschichtsunterricht oder Sport. Dialektischer Materialismus statt Religion, Russisch statt Latein, Ostrowski und Gorki statt Goethe und Schiller.

Der Sozialismus mit dem Gleichen für Gleiche hatte auch bei der Verteilung der Lebensmittelkarten Fuß gefasst. Eckhard Hieronymus wurden die zwei Karten für ihn und seine Frau ausgehändigt. Beim Blick auf die Karten war ihm die Dürftigkeit der zu erwartenden Zuteilungen aufgefallen. Er fragte die Frau, eine Mittvierzigerin, an der Kartenausgabe, ob das alles sei, was einem mit den Marken zugestanden wurde. Die Frau antwortete: “Wollen Sie eine Extrawurst gebraten haben; wer sind Sie denn?” Eckhard Hieronymus nannte seinen Namen. Die Frau: “Ich meine, was arbeiten Sie?” E.H.: “Ich suche noch nach einer Arbeit.” Die Frau: “Sie arbeiten also nicht! Und dann wollen Sie mehr zugeteilt bekommen?! Mein Herr, Sie sollten sich schämen, so ein Ansinnen zu stellen. Sie kriegen dasselbe, was die anderen kriegen, und damit basta! Verstehen Sie mich?” E.H.: “Ich habe Sie verstanden”, faltete die Lebensmittelkarten und steckte sie in die Jackentasche.

Es war kurz vor eins. Eckhard Hieronymus ging zum Albertplatz zurück, wo Anna Friederike mit dem Mittagessen auf ihn wartete. Auf dem Wege dorthin dachte er an den Namensvetter, den Obersturmführer Reinhard Dorfbrunner, der ihm und der Familie zu Kriegszeiten bessere Lebensmittelkarten beschafft hatte, die zwar auch nicht zum Sattwerden reichten, aber markenweise um einiges voller waren als die sozialistischen. Ob er noch lebt?, fragte sich Eckhard Hieronymus mit einem Dank, möglicherweise dem posthumen. Wenn er auch die gefürchtete, schwarze Uniform eines SS-Offiziers trug, so waren doch gute Seiten an ihm. Das sagte Anna Friederike, wenn er nicht die gefürchtete Uniform trüge, könnte der Onkel Reinhard Dorfbrunner ein guter Freund sein. Vom Herzen her war er ein Schaf im schwarzen Wolfspelz. Auch gab es interessante Tischgespräche, wo er ein breites humanistisches Wissen präsentierte, das man von einem Offizier nicht ohne weiteres erwartet hätte. Eckhard Hieronymus erreichte das Haus am Albertplatz 14. Der Wachsoldat, der auf dem oberen Treppenabsatz saß und seine Zigarette rauchte, kannte ihn und ließ ihn passieren.

“Wie war es?”, fragte Anna Friederike, als Eckhard Hieronymus oben ankam, wo ein Tisch und drei Stühle für das Mittagessen auf dem schmalen Flur aufgestellt waren. Er setzte sich auf einen der Stühle und schaute seiner Tochter zu, wie sie die Suppenteller auf den Tisch stellte, den Tellern die Suppenlöffel anlegte, auf dem Holzbrett die Brotscheiben vom Pommerner Landbrot brachte, das der Vater am Morgen mitgebracht hatte. “Die Hoffnung, die ich am Morgen geäußert habe, hat sich nicht erfüllt”, sagte er. Anna Friederike sah die Enttäuschung in seinem Gesicht: “Erzähl!” Eckhard Hieronymus erzählte von seinen Gängen: dem kurzen Türgespräch mit der Frau des Superintendenten, das er ein Spaltgespräch des schlechten Benehmens nannte, weil an dem engen Spalt die Höflichkeit wie ein Scheit nach dem Axthieb gespalten war. “Da war von guter Kinderstube nichts zu merken, und der Superintendent lag mit einer Grippe im Bett”, sagte er verärgert.

“Von dem kannst du dann keine Hilfe erwarten”, sagte Anna Friederike, die sich dem Vater gegenüber an den Tisch gesetzt hatte. “Den kann ich vergessen! Der gehört zu den Menschen, die selbst nicht zu sprechen sind, sich dafür in ungehöriger Weise zu Spaltgesprächen an der kettenverriegelten Tür vertreten lassen, wo dem Draußenstehenden, der mit so einem Benehmen nicht rechnet, sofort das Lass-mich-doch-in-Ruhe durch den Spalt ins Gesicht schlägt. Von diesen Menschen kann ich keine Hilfe erwarten.” “Schade. Das ist wirklich ungehörig. Und weiter?” “Dann ging ich zum Stein’schen Gymnasium, das in Stein-Oberschule umbenannt ist, stieg mit der Hoffnung, hier als Lehrer eine Arbeit zu finden, die Stufen zum Portal hoch, unterquerte ein riesiges Transparent, dass die Frontseite der Schule überspannte, auf dem stand: “Wir danken dem Genossen Stalin, dem großen weisen Führer.” Von der Eingangshalle ging ich in den linken Flur, nahm den rechtwinkligen Knick und ging den Flur bis zum Ende und klopfte an die Tür des Sekretariats. Nach dem zweiten Klopfen öffnete ein hochgewachsener Endvierziger im grauen Anzug und offenem Kragen, mit fliehender Stirn, braunen Augen, großer Nase, großen Ohren, Glatze und ergrautem Kinnbart à la Iljitsch die Tür. “Feigel” sagte er bei der Begrüßung und führte mich durch das Sekretariat ohne Sekretärin in seine ‘Schaltzentrale’, wo er mir den Stuhl vor dem Schreibtisch anbot.

Bei seiner Frage, ob er etwas für mich tun kann, fiel mir das neue Parteiabzeichen mit der wehenden roten Fahne an seinem rechten Jackenaufschlag auf. Auf seine Frage nannte ich ihm als meine Stärke die Sprach- und Literaturkenntnisse in Deutsch und Latein sowie mein solides Geschichtswissen; als meine Schwäche nannte ich die fehlende Arbeit.” “Und wie hat er darauf reagiert?”, fragte Anna Friederike. “Völlig anders, als ich erwartet habe”, antwortete Eckhard Hieronymus. “Hör zu! Bei Geschichte winkte er gleich ab. Herr Feigel fragte mich, ob ich die führenden, sowjetischen Historiker studiert hätte. Als ich das verneinte, sagte er: “Sehen Sie, da würden Sie wieder mit den alten kapitalistischen Kamellen kommen, die doch nicht stimmen, wie die neueste Geschichtsforschung herausgefunden hat.” Beim Fach Deutsch meinte er, dass die Grammatik politisch unbedenklich, die Interpunktion vor allem beim Einschieben von Nebensätzen dagegen politisch bedenklich sei, wenn mit den Kommas herummanipuliert werde, dass der Inhalt des Satzes entstellt, ein ganz anderer wird. Er erwähnte den Altgenossen Wladimir Iljitsch Lenin, der auf die Problematik mit dem Herummanipulieren der Kommas bereits kritisch hingewiesen hätte. Zur deutschen Literatur sagte Herr Feigel, dass die deutschen Klassiker, wie Herder, Goethe und Schiller nur noch am Rande und so weit zu erwähnen sind, dass es sie gegeben hat, weil ihre Werke für die gegenwärtige Gesellschaft und Zeitkritik keine Bedeutung mehr hätten.

Die Literatur im Fach Deutsch werde bei Brecht und Zweig beginnen und auf die Übersetzungen sowjetischer Schriftsteller zurückgreifen, die den Umbruch mit der großen Revolution zum Inhalt haben. Weil eben das kapitalistisch-imperialistische Gedankengut aus der Schule entfernt werden müsse, spiele auch das Fach Latein nur noch eine untergeordnete Rolle, weil die lateinische Literatur die Literatur der römischen Aristokratie und des römischen Imperialismus ist. Herr Feigel räumte zum Bau der lateinischen Sprache ein, dass sie von logischer Dichte sei, weswegen der Lehrplan nicht ganz auf das Latein verzichten könne, das es in den beiden letzten Schuljahren als Fach der zweiten Fremdsprache geben wird, wenn zwischen Englisch und Latein zu wählen ist. Dann gab er einen längeren Abriss über die Stellung und den Sinn der Schule in der neuen Gesellschaft und die Bedeutung des neuen Denkens und Gedankengutes. Das neue Denken ist das sozialistische nach dem Vorbild des Genossen Stalin.

Herr Feigel sagte, er würde mich sofort einstellen, wenn ich Russisch unterrichten würde, weil das die Sprache der großen Revolution ist, die für die neue Gesellschaft unverzichtbar sei. Der Mensch des neuen Denkens müsse die gesellschaftskritische Literatur der Jetztzeit studieren und die Literatur der großen Revolution im Originaltext lesen lernen. Ich muss zugeben, dass mir sein Abriss, der sich durch Gesellschaft und Schule zog, die Sprache verschlug, weil das sozialistische Denken bestimmt, welche Lernfächer in die Schule gehören und welche nicht. Leute wie mich, das hörte ich heraus, sind als Lehrer nicht gefragt, weil sie das alte, feudalistisch-kapitalistische Denken in den Köpfen haben, das da weder herauszuwaschen noch herauszubürsten noch wie beim Hemdswechsel in das neue Denken umzuwechseln ist. So hatte sich Herr Feigel ausgedrückt. Es war mir klar, dass der Rektor der Stein-Oberschule mich zu den unverbesserlichen, reaktionären Alten zählte, die seiner vorgetragenen Ansicht nach zum Abfall kapitalistischer Gedankenträger mit der kapitalistischen Erziehung und Schulausbildung gehören.”

“Armer Papa, dann hast du einen schweren Morgen gehabt. Du tust mir leid”, bedauerte Anna Friederike den Vater, nachdem sie den Topf mit der Erbsensuppe aus der Küche geholt hat und dabei war, mit einer Soßenkelle die Suppe in die Teller zu tun. “Insofern schwer”, fügte Eckhard Hieronymus hinzu, “als ich jetzt auch nicht mehr weiß , was ich noch tun soll, um Arbeit zu finden.” Angelika kam aus dem Mansardenzimmer und setzte sich mit an den Tisch im Flur. Er sprach das Tischgebet, in dem er dem Herrn für seine Geduld und Güte dankte, ihn bat, die Menschen aus der Not und Verzweiflung herauszuführen und ihnen das Licht der Hoffnung zu geben. Sie löffelten die Suppe, als Eckhard Hieronymus den Nachtrag gab: “Ach so, das hatte Herr Feigel noch gesagt, dass er mir trotz der vorgetragenen, neuen Kriterien insoweit helfen möchte, dass er sich meinen Namen, meinen Beruf, meine Anschrift und Telefonnummer notieren wolle, was er auch tat, und mich im Auge behalten werde.

Sollte ich als Hilfs- oder Ersatzkraft in Betracht gezogen werden, eine permanente Anstellung schloss er bei mir aus, dann werde ich vor eine Einstellungskommission geladen, die mich eingehend befragen und mir über die fachlichen Qualitäten hinaus auf den Zahn fühlen werde. Dabei machte Herr Feigel den entscheidenden Zusatz, dass die ganze Sache gleich ins Wasser fällt, falls ich Mitglied der NS-Partei gewesen war.” Nun schwiegen alle drei, als sie mit dem Löffeln der Erbsensuppe beschäftigt waren, die eintönig und fad schmeckte, weil der geschmacksbelebende Essigzusatz fehlte. Das brachte der jungen Köchin jedoch keine Kritik ein. Im Gegenteil, Eckhard Hieronymus und Angelika lobten die gute Küche, dass die Suppe hervorragend geschmeckt habe.


Als der Nagel eingeschlagen wurde

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