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Der Besuch des Stadtkommandanten im Dachgeschoss – Das Gespräch mit Eckhard Hieronymus Dorfbrunner

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Es war gegen zwei, als sie die Teller geleert hatten und Anna Friederike mit dem Abräumen beschäftigt war. Unten an der Haustür waren Männerstimmen zu hören, die lauter wurden, je höher die Schritte die Treppe herauf kamen. Plötzlich standen fünf Russen vor dem kleinen Esstisch im schmalen Zimmerflur des Dachgeschosses. Unter ihnen waren der Stadtkommandant und Major Woroschilow. “Bleib sitzen, Vater, du brauchst dich nicht zu fürchten”, sagte Anna Friederike, die aus der engen Küche mit einem feuchten Lappen kam, um die Tischplatte sauber zu wischen. Sie legte den Lappen verknüllt auf den Tisch, ging auf den Kommandanten zu, der sie herzlich mit Handschlag begrüßte. Sie gab auch dem Major die Hand und stellte dem Kommandanten ihren Vater vor, der sich von seinem Stuhl erhoben hatte: “Das ist mein Vater, Eckhard Hieronymus Dorfbrunner.” Zum Vater sagte sie: “Das ist der Kommandant”. Vater und Kommandant gaben sich die Hand, wobei der Kommandant seinen Offiziersrang und den Namen nannte: Generalmajor Tscherebilski. Dann stellte Anna Friederike dem Vater den Major Woroschilow vor. Auch sie gaben sich die Hand. “Setzen Sie sich, Herr Kommandant!”, sagte Eckhard Hieronymus zu Generalmajor Tscherebilski, der mit einem Lächeln das Angebot annahm und sich mit an den kleinen Tisch setzte. Major Woroschilow nahm einen Platz an der Schmalseite des Tisches ein. Den anderen Offizieren befahl der Kommandant, unten vor dem Eingang zu warten.

Dann sprach er in seinem hervorragenden Deutsch zum Vater: “Wissen Sie, Herr Eckhard, dass Sie eine hübsche und begabte Tochter haben? Sie hat einem Soldaten das Leben gerettet.” E.H.: “Sie hat mir von ihrem Soldaten berichtet.” Kommandant: “Sie hat ihr Werk ganz fabelhaft gemacht. Seitdem ist ihre Tochter für mich und meine Offiziere die Nemjétskaja doktóra, die deutsche Ärztin. Ich kann ihnen zu einer solch begabten Tochter nur gratulieren.” Er holte das Zigarettenetui aus der linken Rocktasche, bot, wenn auch vergeblich, Eckhard Hieronymus eine Zigarette an, steckte sich eine zwischen die Lippen und ließ sich von Major Woroschilow das Feuer aus dem Feuerzeug geben, aus dem eine drei zentimeterhohe Flamme wie aus einem Flammenwerfer schoss. Anna Friederike holte aus der Küche eine Untertasse, die den Aschenbecher ersetzte, was der Kommandant wortlos akzeptierte und sein “Danke!” hinzufügte. Er sagte, dass er froh sei, so eine begabte Medizinerin hier zu wissen, die mit der natürlichen Begabung und der Intelligenz etwas zustande bringt, woran es den Studierten oft mangelt. “Können Sie sich vorstellen”, fragte er den Vater, “welch außerordentliche Ärztin aus ihrer Tochter würde, wenn sie mit ihrer großen Naturbegabung noch studierte?” E.H.: “Ich kann mir das in etwa vorstellen. Nur hatte meine Tochter nicht das Glück, an der Universität in Breslau immatrikuliert zu werden, weil in ihr zuviel jüdisches Blut ist.” Kommandant: “Ach, Sie sagen, dass das der Grund war, sie nicht zum Studium zuzulassen.” E.H.: “Ja, das war der alleinige Grund.” Kommandant: “Es ist nicht zu glauben, wie sich das Nazi-System an der deutschen Intelligenz vergangen hat. Diesen Verlust kann Deutschland nicht so schnell, wenn überhaupt, aufholen.” E.H.: “Da stimme ich ihnen voll und ganz zu, Herr Kommandant.”

Kommandant: “Und was machen Sie?” E.H.: “Sie beschämen mich mit dieser Frage, weil ich seit fünf Monaten vergeblich nach einer Arbeit suche.” Kommandant: “Das tut mir leid. Was war ihr Beruf?” E.H.: “Ich war zuletzt Superintendent in Breslau.” Kommandant: “Dann sind Sie ein Kirchenmann, der durchs Gebet versucht, die Welt zu verbessern.” E.H.: “Nicht die Welt, aber die Menschen in meiner Gemeinde. Herr Kommandant, Sie mögen es vielleicht nicht glauben, die Menschen brauchen das Gebet, wenn sie verzweifelt und in Not sind, weil ihnen die Hilfe von den Menschen nicht gebracht wird, die sie so dringend brauchen.” Kommandant: “Man muss nicht unbedingt ein Christ sein, um zu verstehen, dass man Menschen in der Not zu helfen und nicht dann wegzusehen hat.” E.H.: “Danke, Herr Kommandant, Sie haben die Verantwortung, die jeder Mensch für seinen Mitmenschen mit der Tat zu bringen hat, auf eine gute Formel gebracht. Weil das aber nicht alle Menschen tun und die meisten Menschen zögern, wenn es um die Tat der Hilfe am Nächsten geht, muss ihnen mit dem Gebet nachgeholfen werden. Da wird Gott gerufen, den Menschen die Augen und Herzen zu öffnen, damit endlich das getan wird, worüber soviel gesprochen und gepredigt wird.” Kommandant: “Ich bewundere Sie zu ihrem Optimismus, dass Sie den Glauben an den Menschen nicht verloren haben nach all den schrecklichen Dingen, die im Krieg und hinter der Front abgelaufen sind.” E.H.: “Dafür brauche ich die Kraft, die mir durch das Gebet gegeben wird, weil auch ich nur ein Mensch mit meinen Fehlern und Schwächen bin.” Kommandant: “Sind Sie stark genug, mir einen Fehler zu nennen, den Sie für den markantesten halten?”

E.H.: “Da entblöße ich mich vor ihnen ganz, Herr Kommandant. Ich will es tun, weil ich dabei kein schlechtes Gewissen habe. Ich bin Mitglied der NS-Partei geworden, um die Leben meiner Frau und Tochter aus der akuten Gefahrenzone zu bringen. Meine Frau ist Halbjüdin, meine Tochter Vierteljüdin, was reichte, um sie von der Immatrikulation auszuschließen. Vor Gott habe ich gesündigt, weil ich eine Verbindung mit der Partei der Besessenen, der Grausamen und Mörder eingegangen bin. Das ist mein größter Fehler, mit dem ich zu leben und zu sterben habe.” Kommandant: “Wenn es so ist, wie Sie sagen, dann sind Sie doch ganz offensichtlich zu diesem Schritt gezwungen worden. Stimmt das?” E.H.: “Das stimmt. Ich wurde über sechs Stunden von der Gestapo in Breslau verhört, und es stand nicht gut um mich.

Noch in derselben Nacht kam es zu einem Treffen mit einem Doppelagenten, demselben Mann, der den Vorsitz beim Verhör am Nachmittag führte, dem zur rechten ein fanatischer Nazi, ein ehemaliger Studienrat mit dem goldenen Parteiabzeichen saß. Bei dem Nachttreff sagte der Doppelagent, dass der Beisitzer mit dem großen Abzeichen erpicht darauf war, mir die Volksverhetzung und Staatszersetzung anzuhängen, um mich in ein Konzentrationslager abzuschieben. Das wäre für meine Frau und Tochter der Vernichtungsschlag gewesen, wenn ich von den persönlichen Dingen absehe, die mich im KZ erwartet hätten. Ich hoffe, Sie können die besonderen Umstände ermessen.” Kommandant: “Ja, ich kann die Umstände ermessen, die sie zur Mitgliedschaft in der Partei des Verbrechens genötigt haben. Die Entscheidung wurde ihnen aufgezwungen. Sie steckten in der Sackgasse zwischen Leben und Tod. Stimmt das?” E.H.: “Ja, so war es gewesen.”

Der Kommandant holte sich eine Zigarette aus dem Etui, und der Major gab ihm das Feuer. Anna Friederike stellte Tassen auf den Tisch und brachte aus der Küche die Blechkanne mit dem dampfenden Brennnesseltee. Sie schenkte die Tassen ein und stellte die Schale mit dem Süssstoff neben die Kanne. Der Kommandant sagte auf russisch etwas zum Major, worauf dieser den Tisch verließ und die Treppe herunter ging. “Haben Sie außer ihrer begabten Tochter noch andere Kinder?”, fragte der Kommandant. E.H.: “Ja, wir hatten noch einen Sohn, der an der Front verschollen ist.” Kommandant: “Dann hat Sie das Millionenschicksal des Krieges ebenfalls getroffen. Es tut mir für Sie und ihre Frau leid.” E.H.: “Danke. Ich möchte sagen, dass mich der Verlust der russischen Männer und Söhne ebenso schmerzt wie der Verlust der deutschen Söhne. Meine Gefühle der Trauer gehen ebenso zu den russischen Familien, besonders den Frauen und Müttern.” Kommandant: “Für diese Anteilnahme danke ich ihnen. Kommen wir auf ihr Problem zurück. Was haben Sie unternommen, um Arbeit zu finden?” Eckhard Hieronymus berichtete von den Gesprächen, dem Türspaltgespräch mit der Frau des Superintendenten und dem Gespräch mit Herrn Feigel, dem Rektor der Stein-Oberschule. Kommandant: “Es wird für Sie schwer sein, eine Arbeit zu finden, weil die Zugehörigkeit zur NS-Partei sich als Haken erweisen wird, an dem ihre Bemühungen erfolglos hängenbleiben werden, wie Sie das dem Gespräch mit dem Schulleiter schon entnehmen konnten.”

“Haben Sie eine Idee, was mein Vater noch machen kann?”, fragte Anna Friederike den Kommandanten. Kommandant: “Liebes Fräulein Dorfbrunner, das ist gar nicht so einfach. Die Umstände haben sich verändert und werden sich weiter verändern. Was die Kirche betrifft, werden Sie auch in Zukunft nicht mit einer wirkungsvollen Unterstützung rechnen können. Die Männer, die dort die Verantwortung zu tragen haben, sind meist schwache und wenig zuverlässige Kandidaten, wenn man sie braucht. (Hier erinnerten sich Eckhard Hieronymus und Anna Friederike an den Ausspruch des SS-ObersturmFührers Reinhard Dorfbrunner vor Kriegsende, der sagte, dass auf Kirchenleute kein Verlass ist, wenn man ihre Hilfe braucht.) Der Rektor der Oberschule zeigte dagegen mehr Profil. Er sagte klar und für jedermann verständlich, dass sich die Schulsituation drastisch verändert hat, was stimmt, denn mit den Ansichten aus der kapitalistischen Denkweise muss endlich Schluss gemacht werden. Das haben die Kriege unsere Völker schmerzhaft spüren lassen, dass mit dem Kapitalismus kein Staat für den Frieden zu machen ist. Wenn Sie es für nützlich halten, Herr Dorfbrunner, kann ich bei dem Schulleiter nachhaken und ihm meinen persönlichen Eindruck über ihre Person und zu ihrer Persönlichkeit vortragen. Denn an ihrer Aufrichtigkeit zweifle ich nicht.” E.H.: “Wenn Sie das für mich tun würden, wäre ich ihnen sehr dankbar, Herr Kommandant, denn ich weiß nicht, was ich noch tun kann.”

Der Kommandant warf eine Saccharintablette in den kalt gewordenen Brennnesseltee, betrachtete das Aufschäumen des Zuckerersatzes und nahm einen Schluck. Er verzog das Gesicht, wie sich Gesichter verziehen, wenn etwas bitter schmeckt. “Ist das der Tee, den Sie jeden Tag trinken? Der schmeckt wie bittere Medizin, die mir meine Mutter gab, um die Erkältung zu kurieren”, sagte er mit verständnisvollem Lächeln zu Anna Friederike. “Anderen Tee kann ich ihnen leider nicht anbieten”, erklärte sie. “Nehmen Sie meine Frage nicht so ernst”, sagte der Kommandant, setzte die Tasse zurück und zündete sich eine Zigarette an. Major Woroschilow kam mit zwei Flaschen und einer Schachtel Pralinen zurück und stellte sie auf den Tisch. Von den Flaschen war Wodka die eine und Rotwein von der Krim die andere. “Das ist etwas, um dem Geschmack wieder auf die Sprünge zu helfen”, sagte der Kommandant, der die Klarsichthülle von der Pralinenschachtel zog, sie öffnete und die Pralinen zum Nehmen anbot. Der Major öffnete die Rotweinflasche. “Holen Sie die Gläser”, sagte der Kommandant zu Anna Friederike. Sie kam aus der Küche mit Wassergläsern zurück, die dazu noch verschieden waren. “Ich habe keine passenden Gläser”, sagte sie und stellte jedem das Wasserglas vor. “Das macht überhaupt nichts. Wir trinken ja Wein und keine Gläser”, lachte der Kommandant.

Pralinen und Wein, wann gab es das in Breslau? Eckhard Hieronymus und Anna Friederike tauschten ihre Blicke aus und dachten es zur selben Zeit. Doch keiner wusste es. Nachdem jeder eine Praline im Mund hatte und den Inhalt mit dem köstlichen Likör auf der Zunge zergehen ließ, hob der Kommandant das über die Hälfte mit Rotwein gefüllte Wasserglas: “Trinken wir auf die Zukunft, auf die Versöhnung unserer Völker, auf ihre Leistungen in den Wissenschaften und in der Kunst. Sehr zum Wohl!” Sie hatten die Gläser abgesetzt, als Eckhard Hieronymus hinzufügte, dass sich das deutsche und das russische Volk in den Kulturen viel zu sagen hätten.

“Apropos Großmutter”, sagte der Kommandant, “Major Woroschilow hat mir berichtet, dass ihre Schwiegermutter auf einem Fluchtwagen nach Halle mitgenommen wurde. Er sagte auch, dass Sie nach ihr suchten, aber nicht wüssten, wo Sie in Halle ist. Ich habe Generalmajor Perschinski, er ist der Stadtkommandant von Halle, den Namen durchgegeben und ihn von ihrem Anliegen unterrichtet. Er hat mir seine volle Unterstützung zugesagt.” E.H.: “Für ihre Bemühung möchte ich ihnen ganz herzlich danken.” Anna Friederike schloss sich dem Dank an und lächelte den Kommandanten an. Kommandant: “Ich habe durch Major Woroschilow erfahren, dass Frau Elisabeth Hartmann die Jüdin ihrer Familie ist, die für gestorben erklärt und über viele Jahre auf einem Bauernhof vor den Nazis versteckt gehalten wurde.” E.H.: “Dass meine Schwiegermutter das System der Ausrottung überlebt hat, das verdanke ich einem Standesbeamten in Breslau, der die Einsicht und den unglaublichen Mut hatte, eine offizielle Todesbescheinigung auszustellen. Wenn er die Ausstellung der Bescheinigung verweigert hätte, was die meisten Beamten taten, wenn es sich um die Rettung jüdischer Menschen handelte, dann wäre auch diese herzensgute Frau längst umgebracht worden.”

Kommandant: “Ich muss gestehen, dass ich den Mut zutiefst bewundere, den einige Deutsche gegen das Terror- und Vernichtungssystem bewiesen haben. Es ist nicht so, dass alle Deutschen dem tyrannischen Wüterich und seinen verblendeten Vasallen blindlings nachgelaufen sind. Es ehrt die wenigen Deutschen, während die Mehrzahl in Unehrenhaftigkeit und Opportunismus verharrte. Wenn ich von Generalmajor Perschinski genaue Angaben erhalte, wo sich Frau Hartmann aufhält, dann lasse ich Sie nach Halle fahren, um ihre Schwiegermutter abzuholen.” E.H.: “Vielen Dank, Herr Kommandant.” Major Woroschilow füllte die Gläser mit Rotwein auf. Der Kommandant hob das Glas und gab den folgenden Trinkspruch: “Was war, es ist vergangen. Das Verlangen für die Zukunft bleibt, dass Menschen nun in Frieden leben wollen. Sehr zum Wohl!” Dem fügte Eckhard Hieronymus die Zeilen an:

Ihr Völker, wenn das Blut vergossen ist, verstummt sind eure Söhne. Dann liegt zerschlagen auch das Glück.

Am Boden bleiben Träume liegen, wo einst Jugend sprang und klopfte, da ist’s nun still, ganz totenstill. Wer möchte da noch bleiben?

Räume, die im Lichte sind, vertragen Totenkälte nicht. Es bläst der Wind, um Himmelskind, was ist das für eine Schelte!

Drum vergesst der Mütter Liebe nicht, vergeudet nicht die Kinderherzen. Gebt sie zum Schießen nicht mehr her, zu groß sind dann die Schmerzen.

Denn weinen könnt ihr, wie ihr wollt, das Leben kommt nicht wieder, wenn der Sohn gefallen ist. Völker, nehmt es euch zu Herzen!

Allen gingen die Verse zu Herzen. Der Kommandant stand auf und umarmte den Dichter. Es hatte ihn tief berührt, so tief, dass er sich die Tränen aus den Augen wischte. “Großartig, großartig!”, rief er so laut durch den schmalen Flur, dass die unten wartenden Offiziere hoch kamen und nach ihrem Kommandanten sahen, dessen Blick auf dem blassen Gesicht von Eckhard Hieronymus ruhte. “Sie haben nicht nur eine begabte Tochter, nun habe ich einen Menschen von noch größerer Begabung, einen Dichter der deutschen Sprache sprechen gehört. Großartig, wie einsam großartig!” Die Offiziere blickten erstaunt, weil sie diese Sprache nicht verstanden. Der Kommandant hob das Glas und trank auf das Wohl des Dichters. Dann übersetzte er die Verse in die russische Sprache, und die Offiziere behielten ihre großen Augen.

“Wir werden uns wiedersehen!” Der Kommandant stand auf, verabschiedete sich und verließ mit seinen Offizieren den schmalen Flur des Dachgeschosses. Auf der Treppe drehte er sich noch einmal um: “Es war ein wunderbares Erlebnis. So wäre es unseren Völkern besser ergangen.” Auf seinem Gesicht lag das besondere Lächeln der Nachdenklichkeit, das aus einer tiefen Empfindung kam. Dann lachte er und sagte mit Blick auf Anna Friederike: “Nemjétskaja doktóra, Sie wollten mir das Auge, das nicht sehen kann, aber drückt, herausschneiden. Nach der großartigen Begegnung mit ihrem Vater will ich Sie heute nicht darum bitten. Ich werde ein anderes Mal wiederkommen.” Dann ging der Kommandant die Treppe herunter, gefolgt von seinen Offizieren, und verließ das Haus.

Eckhard Hieronymus saß am Tisch. Mit ihm saßen Anna Friederike und Angelika. “Ich muss mein Urteil revidieren”, sagte er, “mit so einem Kommandanten habe ich nicht gerechnet. Der ist ein Mensch geblieben.” “Ein gebildeter und hochmusikalischer dazu”, ergänzte Anna Friederike. “Auch das will ich dir glauben”, sagte der Vater. Sie steckten sich noch eine Praline in den Mund und ließen den Likör auf der Zunge zergehen. E.H.: “So war für mich der Tag doch nicht verloren, denn so ein Gespräch gibt es nicht alle Tage. Da können wir von den Russen manches lernen, wenn es um die Bildung des Herzens geht.” Anna Friederike sagte, dass von den Menschen, die nicht beten und sich Atheisten nennen, die Christen, die doch beten, lernen können, was Verlässlichkeit und tätige Hilfe ist, wenn Menschen in Not darum bitten. Eckhard Hieronymus meinte, dass er sich bei dem Kommandanten nicht sicher sei, ob er nicht doch Gott in seinem Herzen trage. Denn hohe Bildung und Musikalität gehen oft mit tiefer Gläubigkeit einher. “Lass uns hoffen, dass wir bald Großmutter in unsere Arme schließen können”, sagte Anna Friederike. “Ja, das wollen wir alle und ganz stark hoffen”, schloss sich Eckhard Hieronymus diesem Wunsch an.

Eckart kam die Treppe herauf, um den Superintendenten a.D. für die Rückfahrt zum Hof Pommern abzuholen. Anna Friederike bot Eckart eine Praline an und goss ihm eine Tasse kalten Brennnesseltee ein, in die er zwei Saccharintabletten warf. Er fragte, ob der Tag erfolgreich war. Eckhard Hieronymus gab die Formel aus: Arbeit ‘0’, Hoffnung ‘schwach positiv’, Gespräch am Morgen ‘mangelhaft’, am Nachmittag ‘sehr gut’. Vater und Tochter umarmten sich. Dabei sagte der Vater: “Gott möge dich beschützen, deinen Leib und deine Seele vor dem Bösen bewahren.” Anna Friederike hörte genau hin, als hätte der Vater die Ahnung, dass ihr das Böse bereits zugestoßen war. Sie wollte es ihm nicht sagen, dass sie und Angelika schon in der ersten Woche von einer Gruppe russischer Soldaten vergewaltigt worden waren. Das würde ihn zusätzlich beunruhigen, wenn er doch genug Probleme bei der Arbeitssuche hat. So sagte die Tochter zum Vater: “Bleib du nur gesund, und verlier die Hoffnung nicht. Es wird schon klappen. Grüß Mutti und die Bäuerin herzlich von mir. Sag ihnen meinen Dank für den lieben Brief und die Köstlichkeiten für den Magen. Sag ihnen, dass wir auf der Suche nach der Oma sind.” Sie brachte den Vater und Eckart zum Pritschenwagen. Der Wachsoldat vor dem Eingang ging höflich zur Seite. Eckart half Eckhard Hieronymus beim Aufsteigen. Er selbst bestieg mit Schwung den Kutscherbock, nahm die Zügelleine in die linke Hand und gab dem Hengst das “Hü!”- Kommando. Anna Friederike winkte ihnen noch eine Weile hinterher.


Die Dämmerung hatte eingesetzt. Auf dem Weg zurück sagte Heinz Töpfer, dass der Krieg und die Zeit nach dem Krieg große menschliche Erschütterungen ausgelöst haben, und dass die Erzählungen und Lebensgeschichten von und über Menschen aus jener Zeit nicht weniger erschütternd sein können. Dann erzählte ich ihm von dem negativen Ergebnis der Suchaktion nach der Großmutter Hartmann und die weitere Geschichte des Breslauer Superintendenten Dorfbrunner auf seiner Suche nach Arbeit und seine Tätigkeit als Hilfslehrer an der Ernst Thälmann-Grundschule.

Einige Wochen waren vergangen, als an einem Mittwochnachmittag Major Woroschilow in die Klinik kam und Anna Friederike die Nachricht vom Kommandanten brachte, dass die Suchaktion nach der Großmutter erfolglos verlaufen war. Der Stadtkommandant von Halle, Generalmajor Perschinski, hatte dies mitgeteilt, nachdem er alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um sie zu finden. Es gäbe zwar Einwohner mit dem Namen Hartmann, die aber auf Befragung eine verwandtschaftliche Beziehung zu Frau Elisabeth Hartmann aus Breslau verneinten. Auch konnte eine Spur zu den Bauersleuten Ludwig und Martha Lorch nicht gefunden werden, die Frau Hartmann auf ihrem Wagen mitgenommen hatten.

Kommandant Tscherebilski bedauerte aufs Tiefste, diese Nachricht geben zu müssen. Es war eine traurige Nachricht für die Familie, dass Luise Agnes, die Frau von Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, ihre Mutter und für Anna Friederike die Großmutter nicht mehr wiedersahen und in ihre Arme schließen konnten, nachdem sie, Frau Elisabeth Hartmann, mit Mädchenname Sara Elisa Kornblum, das NS-Terrorsystem mit der Vergasung überlebt hatte, weil sie von 1936 bis 1945 auf dem Bauernhof der Lorchs versteckt gehalten wurde, nachdem für sie eine offizielle Todesbescheinigung beschafft worden war. Die Suche nach ihr wurde eingestellt, als auch von Heinz, dem jungen Mann, der einer Strafanstalt für politische Häftlinge entkommen war und mit dem wehrmachtsflüchtigen Klaus auf einem gestohlenen Krad der Wehrmacht an einem verschneiten Winterabend zum Bauernhof im Dorf Pommern gefahren kam, dort versteckt und versorgt wurde, sich nach Kriegsende auf den Weg nach Halle machte, die Nachricht kam, dass er von der Großmutter und den Bauersleuten Lorch keine Spur entdecken konnte. Er drückte die Vermutung aus, dass der Treckwagen die Stadt Halle gar nicht erreicht hatte.

Eckhard Hieronymus Dorfbrunner wartete auf den Anruf des Superintendenten Bosch, der aber nicht kam. Auch von Herrn Feigel, dem Rektor der Stein-Oberschule, kam keine Nachricht, obwohl er ihn im Auge behalten wollte, wie er am Ende des langen Gesprächs versicherte, in dem es darum ging, ob an der Oberschule eine Lehrerstelle zu bekommen war. Nach einer Wartezeit von über sechs Monaten war es dann soweit, dass ein Lehrer, nicht an der Stein-Oberschule, sondern an der Ernst Thälmann-Grundschule gesucht wurde. Kommandant Tscherebilski hatte davon erfahren und schickte seinen Fahrer mit einem Schreiben zum Hof nach Pommern, in dem er den Sachverhalt schilderte und Eckhard Hieronymus bat, auf der Rückseite des Schreibens seine Entscheidung mit ‘Ja’ oder ‘Nein’ anzugeben. Beim ‘Ja’ wolle er mit dem Rektor der Schule Kontakt aufnehmen und sich für ihn verwenden. Eckhard Hieronymus, den die lange arbeitslose Wartezeit hart drückte, vermerkte sein ‘Ja’ auf der Rückseite des Schreibens, und der Fahrer fuhr mit Schreiben und rückseitig notierter Entscheidung zur Kommandantur zurück. Es vergingen nur wenige Tage, als Eckhard Hieronymus einen Anruf erhielt, in dem der Rektor ihm mitteilte, dass er am folgenden Tag um neun Uhr vor der Einstellungskommission zu erscheinen habe. Er solle sich pünktlich bei ihm melden.


Als der Nagel eingeschlagen wurde

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