Читать книгу Als der Nagel eingeschlagen wurde - Helmut Lauschke - Страница 8

Der russische Stadtkommandant Ilja Igorowitsch Tscherebilski

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Die Limousine hielt vor dem Haus mit der rot und blau gestrichenen Holzfassade und dem großen, roten Sowjetstern über dem Halbbogen vor dem Eingang. Die Vorderfront war hell erleuchtet. So weckte die Holzfassade mit den knalligen Farben die Assoziation des Einganges in ein Zirkuszelt. Der Fahrer öffnete die Türen und hielt sie geöffnet, als erst der Offizier, dann Anna Friederike und Angelika ausstiegen. Der Offizier ging voran und führte die jungen Frauen durch den Hauseingang in einen blendend erleuchteten Flur. Zum Ablegen am Garderobenständer hatten sie nichts, denn sie hatten weder einen Hut auf noch einen Mantel an. Er trat mit ihnen in einen großen, nicht weniger hell erleuchteten Raum, in dem der Herr des Hauses, der auch der Herr über die Stadt war, mit jüngeren, schlanken Offizieren in Uniform in Raummitte auf dem Perserteppich stand und sich mit ihnen unterhielt und mit ihnen lachte. Über der Männergruppe hing der breit ausladende Kronleuchter, in den der Kommandant die Rauchwolken aufsteigen ließ, die er aus seiner dicken Zigarre mit dem angenehmen Tabakgeruch produzierte. Die Schwaden schwammen zwischen den Kerzenlichtern hin und her, verteilten sich im Raum, als der Offizier auf ihn zuging und ihm die jungen Damen vorstellte: “Towárischtsch Komendánt, onó estj nemjéstskaja doktóra í podrúga Angelika.” (Genosse Kommandant, das sind die deutsche Ärztin und die Freundin Angelika.) Der Kommandant nahm die Zigarre in die linke Hand und begrüßte die jungen Damen mit einem breiten Lächeln: “Guten Abend, Fräulein Doktor, guten Abend, Fräulein Angelika. Seien sie heute abend meine Gäste!”, sagte er im fehlerfreien Deutsch mit slawischem Akzent, der seiner Sprache eine musikalische Note gab.

Der Kommandant war ein hochgewachsener, gutaussehender Mann, den Anna Friederike auf Mitte vierzig schätzte. Welchen Offiziersgrad er hatte, das konnte sie trotz der blendenden, hellbraunen Galauniform mit den roten Randstreifen am Kragen, den roten Längsstreifen auf den breiten Epauletten mit dem großen, fünfzackigen Goldstern und die um die Ärmel, etwa zehn Zentimeter oberhalb der Enden aufgesetzten Streifen und den roten Litzen an den Außenseiten der Hosenbeine nicht ausmachen. Doch an der äußeren Erscheinung und wie er die deutsche Sprache beherrschte, gewann sie schnell den Eindruck, dass es sich bei dem Kommandanten um einen hohen Offizier mit Bildung handelt. Sie fand ihn interessant und hatte aufgrund seiner Gesichtszüge mit dem betonten, leicht abgeknickten Nasensteg und dem schwarzen Haar mit den angegrauten, leicht gekräuselten Koteletten den Verdacht, dass er ein Jude war. Wie sonst konnte er ein so gutes Deutsch sprechen? Das musste er entweder aus Deutschland mitgenommen oder von seinen Eltern in Russland gelernt haben. Die dritte Möglichkeit war die, dass er ein Professor der Germanistik an der Moskauer oder Leningrader Universität war. Sie sollte es herausfinden. Der Kommandant hatte sich Anna Friederike zugewandt: “Sie haben einen Soldaten von mir erfolgreich behandelt, wie mir Major Woroschilow berichtete. Dafür möchte ich Ihnen im Namen der Roten Armee danken.”

So erfuhr Anna Friederike den Namen des Offiziers, der ihr tags zuvor auf die Schulter geklopft hatte, als sie die Blutung am rechten Unterarm des Soldaten zum Stehen brachte, indem sie das als Staubinde umwickelte Handtuch vom Oberarm entfernen ließ. “Kommen Sie, ich habe das Abendessen für Sie gerichtet.” Der Kommandant nahm die jungen Damen zu seiner Seite, Anna Friederike rechts und Angelika links, und führte sie durch den breiten Durchgang in den nächsten Raum, in dem der Tisch mit einem weißen Tischtuch gedeckt war, auf der Kristallgläser, Teller und Schüsseln des Meißener Porzellans standen, denen teure Silberbestecke zu beiden Seiten und dreieckig gefaltete Tuchservietten mit dem ‘AH’ als aufgenähtes Monogramm den linken Tellerseiten angelegt waren. Der Tisch war mit Delikatessen beladen. Da standen Platten mit geräuchertem und gekochtem Schinken, mit Salami-, groben und feinen Leberwürsten, Käse mit und ohne Löcher, gefüllte Obstschalen und manches mehr. So etwas hatten die jungen Damen noch nicht gesehen. Anna Friederike dachte an die opulenten Mittagessen mit dem Namensonkel, dem Obersturmführer Reinhard Dorfbrunner im Speiseraum des Hotels in der Steinstraße, in dem die SS-Standortkommandantur untergebracht war. Doch der Vergleich hinkte, weil die Dreigängemenüs der beiden Essen zur ‘deutschen Zeit’, genauer vier Monate vor Kriegsende, nicht die Fülle hatten, mit der nun zur ‘russischen Zeit’ dieser Tisch überladen war, was ohne Beispiel war.

“Nehmen Sie Platz!”, sagte der Kommandant erst zu den Damen, dann auf russisch zu den Offizieren. Zwei junge, hochgewachsene Offiziere von blendender Erscheinung halfen Anna Friederike und Angelika an der Längsseite des Tisches auf ihre Stühle. Der Kommandant setzte sich an der anderen Tischseite den Damen gegenüber. Fünf Offiziere setzten sich an den Tisch, zu jeder Seite des Kommandanten einer, von den anderen Offizieren einer links von Anna Friederike und an die Schmalseiten des Tisches je einer. Zwei Russinnen in Zivil, die eine sehr jung, die andere in den Dreißigern, brachten auf Meißener Porzellantellern die Gänseleberpastete, die jedem auf den großen Flachteller gesetzt wurden. Zwei Körbe mit Weißbrotscheiben standen auf dem Tisch. Jeder konnte sich die Brotscheiben mit frischer Butter bestreichen. Die junge Russin füllte roten Krimsekt in die Kritallgläser.

Als sie das letzte Glas gefüllt hatte, erhob der Kommandant sein Glas: “Trinken wir auf das Wohl des Genossen Jossif Wissarionowitsch und das Wohl unserer Völker. Trinken wir auf ihr Wohl!” Dabei schaute er den jungen Damen in die Augen. “Sa sdorówje!” (Prosit) riefen die Offiziere und hoben ihre Gläser dem Kommandanten zu. Nach der Pastete wurden zwei gebratene Gänse auf den Tisch gebracht. Die Gänsebrüste waren mit Speckwürfeln gespickt. Dazu gab es Kartoffelklöße und geschnitzelte Bohnen. Der Kommandant zeigte beim Essen gute Manieren. Er fragte Anna Friederike, ob sie von hier sei. Sie antwortete, dass sie mit ihren Eltern aus Breslau geflohen sei. Als er den Namen Breslau hörte, strahlte er auf und sagte, dass seine Großmutter aus Breslau komme, die ihm die deutsche Sprache beigebracht habe. Anna Friederike gratulierte ihm zu seiner deutschen Sprache, worauf der Kommandant sagte, dass er von seiner Großmutter auch die Begabung zum schnellen Erlernen fremder Sprachen mitbekommen hätte. “Sie sprach sechs Sprachen fließend, ich nur fünf”, sagte er mit einem Lächeln. “Ich liebe die deutsche Sprache und die deutsche Literatur.

Wie spricht ein Geist zum andern Geist. Umsonst, dass trocknes Sinnen hier die heil’gen Zeichen dir erklärt. Ihr schwebt, ihr Geister, neben mir; antwortet mir, wenn ihr mich hört!” Sind das nicht großartige Verse. Sie wissen, wo sie stehen?” Anna Friederike dachte nach: “Im Faust.” “Und wer spricht sie?”, fragte der Kommandant. Sie dachte nach, fand die Verse “faustisch” und sagte “Faust”. “Und wo?”, fragte er weiter. Nun wurde es schwierig: “War es nicht in der ersten Szene der ‘Nacht’?” “So ist es!”, lachte der Kommandant zufrieden und fügte die Verse an: “Ha! welche Wonne fließt in diesem Blick auf einmal mir durch alle meine Sinnen! Ich fühle junges, heil’ges Lebensglück neuglühend mir durch Nerv’ und Adern rinnen.” “Kennen Sie den ‘Faust’ vielleicht auswendig?”, fragte Anna Friederike erstaunt über seine Kenntnis der deutschen Literatur. “Nein, nicht ganz”, antwortete der Kommandant, “aber einige Passagen am Anfang.” Nun fragte er: “Und Sie? Kennen Sie den ‘Faust’ vielleicht auswendig?” Anna Friederike verneinte die Frage und fühlte sich beschämt, dass der Kommandant den ‘Faust’ besser kannte als sie. Sie dachte, wenn er dann noch fünf Sprachen spricht, dann kennt er sich in Literaturen aus, von denen sie keine Ahnung hat. “Armes Deutschland, wie weit bist du gesunken?” Das dachte Anna Friederike, als ihr der Kommandant die Verse aus dem ‘Faust’ vortrug und ihr am Ende seiner Rezitation mit rotem Krimsekt zuprostete. “Darf ich fragen, woher Sie die deutsche Literatur so gut kennen?” “Sie ist Teil meines Kampfgepäcks. Da ist der ‘Faust’ neben russischer, französischer und rumänischer Lyrik dabei. Das große Dichterwerk hat mir oft geholfen, die Deutschen während des Krieges von ihrer guten Seite her zu verstehen. Sie haben Weltliteratur geschaffen, die soviel Gutes der Menschheit gab. Nicht anders sind sie in der Musik, wenn ich an Bach und Beethoven oder Mendelssohn Bartholdy und Brahms denke. Da können einem die Tränen kommen, so stark berühren sie das Herz.”

Anna Friederike war gerührt: “Ist es bei ihrer Sensibilität für Sprache und Musik nicht schwer, den militärischen Beruf auszuführen, wo doch Menschen getötet, Städte und Dörfer vernichtet werden.” “Es ist ein harter Beruf, der nicht frei von Grausamkeit ist. Hier muss gekämpft und nicht gedichtet werden. Die Ballade vom Schimmelreiter oder die ‘Lieder ohne Worte’ werden da nicht gehört, wenn aus den Kanonen geschossen wird. Ich habe mich oft nach dem Sinn des Krieges gefragt und konnte die Frage nicht in der Weise beantworten, dass er völlig sinnlos ist. Sehen Sie, Hitler hat den Weltkrieg angezettelt; er ist in unser Land eingefallen und hat fürchterlich gemordet, hat bei seinen Morden wehrlose Menschen und Kinder nicht verschont. Der wusste nicht in der deutschen Literatur und Musik Bescheid. Ihm ging es um die Macht, Europa zu beherrschen, und er übte die Macht als ein Tyrann aus, in den der Teufel der Vernichtung gefahren war.

Dagegen war der römische Kaiser Nero ein Waisenknabe. Als dann die Deutschen in der Berliner Kongresshalle dem plärrenden Hinkefuß und kurzgeratenen Jesuitennazi und Propagandaminister den totalen Krieg zujubelten, da zweifelte ich am Verstand der Deutschen. Es war mir klar geworden, dass den Menschen im Guten nicht mehr zu helfen war. So bekam der Krieg wieder seinen Sinn, der aus dem verwerflichen Unsinn der Diktatur und seiner propagandistischen Hetze und Verführung wie das Orakel von Delphi emporflammte. Wir mussten unser Land verteidigen und den Aggressor mit dem ruchlosen Despoten an der Spitze zur Hölle jagen.” Anna Friederike, der die jüngste deutsche Geschichte und die Antwort auf die deutschen Vergehen aus russischer Sicht vorgetragen wurden, saß dem Kommandanten mit gerötetem Gesicht gegenüber. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Auch überlegte sie, ob sie diesem gebildeten Mann, der ein tiefes Gespür für die deutsche Sprache hatte und seine Zuneigung zur deutschen Musik bekundete, den Vorfall mit der Scheune als einen barbarischen Vorgang, der nun von russischer Seite begangen wurde, entgegenhalten sollte, die mit deutschen Männern von 18 bis 50 Jahren vollgestopft und niedergebrannt wurde. Sie ließ es, wollte sich die Erwähnung dieses Vorfalls für später aufheben, wenn sich dazu die bessere Gelegenheit bot.

“Das ist ja eine große Geschichte!”, sagte Heinz Töpfer. “Und diese Geschichte wird noch größer”, erwiderte ich:

“Haben Sie in Breslau Medizin studiert”, fragte der Kommandant während des Hauptganges mit der gespickten Gänsebrust. Anna Friederike erklärte ihm, dass sie überhaupt nicht studiert habe, obwohl sie gerne Medizin studiert hätte. “Die Universität Breslau hatte mich nicht immatrikuliert, weil ich nicht reinarisch bin. Es wurde mir gesagt, dass 25% jüdisches Blut ausreicht, um nicht immatrikuliert zu werden.” “Dann konnten Sie nicht studieren.” “So ist es.” “Es ist schlimm, wenn man bedenkt, wieviel deutsche Intelligenz verlorenging, weil sie sich nicht entfalten konnte, denn Sie waren dann nicht die einzige, der die Universität vorenthalten wurde. Auswüchse des Faschismus. Er hat die Deutschen und die Völker Europas hart getroffen. Er hat den Krieg angezettelt, der ein Wahnsinn war, weil er eine Generation vernichtet hat und die mühsame Arbeit der vorherigen Generation dazu.” Anna Friederike schwieg. “Lebt denn ihre Großmutter noch?”, fragte der Kommandant. Sie erzählte die Geschichte ihrer Großmutter, dass sie am Leben geblieben sei, weil sie 1936 für tot erklärt wurde und ein verständnisvoller Standesbeamter, der die Not erkannte, die Todesbescheinigung gegen alle Regeln der Nazi-Bürokratie ausgestellt, abgestempelt und unterschrieben hatte. “Wenn ich Sie recht verstehe, hat dieser Beamte das Leben ihrer Großmutter gerettet. Er hat den Mut zum Widerstand gegen das Terrorsystem der Nazis bewiesen. Großartig, dass es solche Menschen gab. Man sollte ihnen ein Denkmal für die Zukunft setzen! Denn zu schnell werden diese Menschen vergessen.

Ich habe die Häftlinge von Auschwitz gesehen, als wir sie befreiten. Sie waren nicht viel mehr als Rippengestelle, die völlig geschwächt hinter den fünf Meter hohen Stacheldrahtzäunen standen, hockten und lagen. Die, die es noch konnten, jubelten uns zu. Wir sprengten die Einfahrt unter dem Kontrollhaus vor der Rampe, Panzer fuhren die Zäune nieder. Häftlinge, die es schafften, gingen und liefen uns entgegen und fielen uns in die Arme. Es war ein Bild des Schreckens. Nur ein Wahnsinniger kann sich so etwas ausdenken. Aber deutsche Männer und Frauen waren als Aufseher und Mörder mit dabei. Waren die denn nicht mehr bei Sinnen? Ich frage Sie, denn ich kann die Riesendimension dieser Grausamkeit nicht verstehen, in die ein Kulturvolk wie das deutsche seine Hände so tief reingesteckt und schmutzig gemacht hat.

Glauben Sie mir, dieser Schmutz geht von den Händen so schnell nicht ab. Und wenn nun die Menschen, die sich mit der Schuld an den Unschuldigen befleckt haben, drangeben, den Schmutz von ihren Händen abzuwaschen und abzubürsten, dann kommt die Erinnerung, die sich über viele Generationen legen wird. Die Erinnerung lässt sich weder abwaschen noch abbürsten.” Anna Friederike schwieg. Was sollte sie noch sagen? Der Kommandant sagte es in nachdenklicher Weise: er hoffe, dass ein Goethe und Schiller, ein Beethoven und Mendelssohn Bartholdy den Deutschen nach all den Schrecklichkeiten nicht abgesprochen und im deutschen Volk wieder gefunden werden.

Die großen Teller wurden vom Tisch geräumt und auf kleinen Tellern wurden die Rollmöpse serviert. Die junge Russin stellte zwei eisgekühlte Wodkaflaschen auf den Tisch und stellte das kleine Tablett mit den Wodkagläsern dazu. Angelika war in Gesprächen mit zwei jungen Offizieren verwickelt, wo die Verständigung teils in russisch mit einigen deutschen Wortbrocken, teils in der zusammengesetzten Sprache von Mimik und Händen durchgeführt wurde, was einige Male ein Gelächter auslöste. Die Offiziere füllten ihre Gläser, der Kommandant tat es für die beiden Damen und reichte die Gläser, die bis zum Rand gefüllt waren, über den Tisch. Dann ließ er folgenden Trinkspruch vom Stapel, den er erst in russisch und dann in deutsch aufsagte: “Freunde und Genossen, wir haben Grund zum Feiern: Erstens, dass der Vaterländische Krieg, der uns viele Opfer abverlangt hat, siegreich beendet und der Faschismus dahin gebracht wurde, wo er hingehört, nämlich in die Versenkung der Geschichte, dann zweitens, dass nun die Zeit der Versöhnung der Völker gekommen ist, drittens, dass wir so kurz nach Kriegsende bereits einen charmanten Damenbesuch haben (hier wurde schallend gelacht), und viertens, dass wir uns in gegenseitiger Achtung an die Beseitigung der Trümmer und in gegenseitiger Toleranz an den Wiederaufbau der Städte und Kulturen machen sollten, die auf russischer wie auf deutscher Seite der Menschheit soviel Großes gegeben haben. Heben wir die Gläser auf den Neuanfang, auf die Damen und die sozialistischen Werte einer neuen Gesellschaft. Hoch lebe der Genosse Jossif Wissarionowitsch! Hoch lebe die Rote Armee! Hoch lebe der Sozialismus und der Friedenswille der Völker. Sa sdorówje!”

Die Offiziere applaudierten und hoben die Gläser. Die jungen Damen hatten rote Köpfe und hielten ihre Gläser auf dem Tisch umfasst. “Meine Damen, sehr zum Wohl!”, ermunterte sie der Kommandant zum Trinken. Sie tranken und stellten die halbvollen Gläser wieder zurück, während Kommandant und seine Offiziere, ohne zu schlucken, die Gläser geleert hatten. Die erste Flasche neigte sich dem Ende zu, entsprechend stieg die Stimmung. “Wer singt den Damen etwas vor?”. Der Kommandant kam in Fahrt, ging in den nächsten Raum, setzte sich an den Flügel und spielte die Revolutionsetüde von Frédéric Chopin. Anna Friederike, Angelika und die Offiziere stellten sich um den Flügel und lauschten der Musik. Es gab Applaus. “Nun seid ihr dran!”, forderte der Kommandant seine Leute zum Singen auf. Sie sangen russische Volkslieder mit vollen Stimmen aus gewärmten Kehlen und sangen das Lied von der Abendglocke (Wetschérnü swon).

Anna Friederike und Angelika wurden in die russischen Weiten und Gefühlstiefen über Land und Leute eingeführt. Sie fingen die Stimmungen und Bilder vom Lauf der geliebten Wolga auf, was sie in ihrer Breite und Schwermut für die russische Seele bedeutet. Der Kommandant hatte seine Freude an der russischen Folklore, setzte sein Spiel mit “Von fremden Ländern und Menschen”, “Wichtige Begebenheit”, der “Träumerei” und “Der Dichter spricht” aus Schumanns “Kinderszenen” fort. Dann brachte er den ersten, den langsamen Satz aus Beethovens “Pathétique”-Sonate. Für Anna Friederike war es ein großes, ein unglaubliches Erlebnis, dass ein Offizier der Roten Armee soviel Literatur und dann noch Musik als Repertoire mit sich führte. Als er den Sonatensatz beendet hatte, schaute der Kommandant die beiden jungen Damen an: “Jetzt sind Sie dran! Singen Sie uns ein schönes deutsches Lied.” Angelika schaute Anna Friederike an: “Können wir überhaupt singen?”, fragte sie. Anna Friederike dachte nach: “Wir kommen ums Singen nicht herum. Lass uns singen “Der Mond ist aufgegangen”.

Sie sangen das alte deutsche Lied zweistimmig und legten beim Singen ihre Hemmungen, etwas Deutsches vorzutragen, ab. Das Lied gefiel dem Kommandanten, der ab der zweiten Strophe aus dem Gehör am Flügel begleitete. Sie bekamen den Applaus der jungen Offiziere, die ihren Vorgesetzten baten, den Text zu übersetzen, was er spielend tat. “Singt noch ein Lied. Wir möchten die deutsche Seele spüren”, sagte der Kommandant am Flügel sitzend. “Kennt ihr nicht das ‘Guten Abend, gute Nacht’-Lied von Johannes Brahms”?, fragte er und spielte die Melodie mit der rechten Hand vor. “Wir kennen das Lied”, sagten die Damen, und Anna Friederike sang es mit schöner Stimme und dem Wehgefühl einer verlorenen Kindheit, als ihr die Mutter das Lied vor dem Einschlafen sang und ihr dann den Gute-Nachtkuss gab.

Das Brahmslied verfehlte die Wirkung nicht. Es wurde sehr musikalisch auf dem Flügel begleitet. Zwischen den Strophen summte der Offizierschor die Melodie nach. Das Lied erfasste die Herzen. Nach der letzten Strophe machte der Kommandant ein Nachspiel, wobei er die Melodie durch verschiedene Tonarten zog und dazu einige Variationen machte. Fasziniert von der Schwermut des Wogens der Brahms’schen Melodie und der Musik verfallen, gab er das weitere Arrangement an: “Ich mache ein kurzes Vorspiel, dann summt ihr unisono die Strophe, dann singt Nemjétskaja doktóra und Angelika den Text der ersten Strophe, und ihr begleitet sie zweistimmig summend eine Oktave tiefer. Die zweite Strophe beginnt eine Quart höher und die dritte mit einem weiteren Quartsprung nach oben, und ihr Jungens bleibt eine Oktave darunter. Bei der dritten Strophe summt ihr dreistimmig. Nach der dritten Strophe geht es in die erste Tonart zurück. Nun wird, wie beim “Wetschérnü swon” im Oktavabstand, die Damen oben und ihr unten, die Melodie leise und unisono gesummt. Das Lied klingt wie die Glocke mit dem letzten Ton aus. Da müsst ihr den Summton lange halten und in Flüstertonstärke ausklingen, in die Weite vergehen lassen.”

Während der Kommandant seine musikalischen Anweisungen gab, stellte die junge Russin das Tablett mit der zweiten Wodkaflasche und den acht Gläsern auf den Flügel. Die Gläser wurden gefüllt und von den jungen Offizieren in einem Zug geleert. Die Probe nach Anweisung begann: Der Kommandant saß auf dem Stuhl mit dem Rücken zum Flügel und dirigierte mit der rechten Hand, das halbvolle Wodkaglas in der linken Hand und der erhöhten Konzentration der Einstudierung den gemischten Chor. “Ïwanowitsch”, rief er, “du hast doch eine starke Stimme, lass sie im Bass auch stärker hören!” Schließlich wurde es ein ganzer Erfolg, und alle hatten ihre Freude an der Musik. Der Kommandant leerte sein Glas mit dem Grunzen der Zufriedenheit, stellte es auf den Flügel und brachte ein Nachspiel, das ein kompositorisches Meisterwerk in Bezug auf Variation und kontrapunktische Dichte war, als wäre er selbst der Tonschöpfer des Liedes. In der Mitte des Nachspiels gab es hymnische Sequenzen in fugaler Versetzung. Da vibrierten die Wodkagläser auf dem Tablett und erzeugten beim Gegeneinanderschlagen glashelle, zimbalistische Klänge, die das Spektrum anregend und originell in Richtung Kammermusik erweiterten. Gegen Ende kehrte die Schwermut zurück, die slawisch gebracht doch schwerer war, als sie deutsch gebracht werden konnte. Da kam der breite Wolgastrom und das Leid und die Leidenschaft der Menschen ins Ohr zurück und tönte weit in die Tiefen des Empfindens hinein.

Der Abend klang aus, der ein lukullischer Genuss und eine ungewöhnliche Herausforderung war, weil da gegessen wurde, was es für deutsche Mägen seit vielen Jahren nicht zu essen gab. Anna Friederike und Angelika hofften, dass die Mägen das Gegessene vertrugen und der Verdauungstrakt keine Komplikationen machen würde, der durch die mangelnde Nahrungszufuhr im Defizit lag und Ursache für die allgemeine Magerkeit war. Hinzu kam, dass sie mit Heißhunger gegessen und sich die Mägen gefüllt hatten, weil es köstlich schmeckte. So hofften sie auf den in Maßen genossenen Wodka, dass er außer der Ankurbelung des Kreislaufs mit den geröteten Gesichtern durch die vermehrte Kapillardurchblutung mit Anhebung der seelischen Verfassung bis hin zum leichten Schwebezustand nun auch als Medizin zur Wirkung kam, um die Emulsion des gespeisten Fetts im Darm und den Abbau der Fettsäuren in der Leber drastisch zu erhöhen.

Darüber hinaus war der Abend ein unerwartetes, literarisches und musikalisches Erlebnis, das von der Qualität großartig und in der Natürlichkeit des Vortrags wie ein Wunder empfunden wurde. Das Erlebnis passte gar nicht zum deutschen Alltag der tristen Nachkriegswochen mit den Nöten und Entbehrungen. Beide, Anna Friederike und Angelika, standen vor dem Rätsel, wie es kommt, dass ein Offizier der Roten Armee mit solch vielseitigen Begabungen gerüstet war, die mit dem Krieg nicht im Geringsten etwas gemeinsam und mit militärischer Strategie nicht im Entferntesten etwas zu tun hatten. Der Kommandant verabschiedete die Damen mit Wangenkuss, als wären sie lange befreundet, was bei den Damen zum sprunghaften Anstieg des Blutdrucks mit den puterroten Köpfen führte. Als er sie zum Ausgang brachte, sprach er von einem Besuch, den er in den nächsten Tagen der “Nemjétskaja doktóra” in der Klinik abstatten werde, um sich von ihr das Hühnerauge am rechten Fuß entfernen zu lassen, das ihn beim Gehen störe. Er blieb am Ausgang des Hauses stehen, zündete sich eine Zigarette an und schaute den Damen nach, die Major Woroschilow zum Wagen begleitete, wo der Fahrer die Türen geöffnet hatte und sie nach Einstieg der Damen wieder schloss.

Bei der Rückfahrt bemerkte der Major, der auf dem Beifahrersitz saß, dass dem Kommandanten der Abend gut gefallen habe. So ausgelassen und musikalisch hätte er den Kommandanten noch nicht erlebt. Er sagte auch, dass er nach Rücksprache mit ihm den Befehl gegeben habe, einen Soldaten zur Bewachung des Hauses abzustellen, damit die Damen nachts ruhig schlafen können und sich der Vorfall der Vergewaltigung nicht wiederhole. In der Tat saß ein Soldat auf der obersten Treppenstufe vor dem Hauseingang, der dabei war, sich eine Zigarette zu drehen, als Anna Friederike und Angelika aus dem Wagen stiegen und von Major Woroschilow durch die Einfahrt zum Haus begleitet wurden. Der Soldat, der ein sehr junger war, bekam gleich einen Rüffel, sprang auf, steckte die Zigarette in die Tasche und hängte sich das Gewehr um. Der Major gab ihm Instruktionen in russischer Sprache, die die beiden Deutschen nicht verstanden. Bei der Verabschiedung fragte ihn Anna Friederike, ob er mit dem Kommandanten bezüglich ihrer Großmutter sprechen könne, um sie in Halle an der Saale zu finden und nach Bautzen zu bringen. Sie sagte dem Major, dass der Kommandant die Geschichte der Großmutter kenne, die neun Jahre vor den Nazis versteckt gehalten wurde, weil sie eine Jüdin ist.

Ihre Eltern und sie wünschten sich sehr, die an Jahren betagte Großmutter wiederzusehen. Doch wusste niemand, ob die Großmutter den langen Fluchtweg überlebt hat. Sie sei von dem freundlichen Bauernehepaar auf deren Fluchtwagen mitgenommen worden, das sie über all die Jahre auf ihrem Hof versteckt gehalten hatte. Major Woroschilow versprach, den Kommandanten bezüglich der Großmutter anzusprechen. Er ging zum Wagen zurück, und der Wachsoldat vor der Tür holte die gedrehte Zigarette aus der Tasche und zündete sie dann an, als der Wagen mit dem Major abfuhr. Die Turmuhr der durch Granateinschläge beschädigten Maria Martha-Kirche schlug die dritte Stunde, als Anna Friederike und Angelika ihre Zimmertür auf- und von innen wieder zuschlossen.


Als der Nagel eingeschlagen wurde

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