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Erstes Wiedersehen unter den Dorfbrunners

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Eckhard Hieronymus kam vom Kutscherbock herunter und ging mit Brief und voller Tasche auf das Haus der Klinik zu. Auf der Außentreppe vor dem Eingang saß der Soldat, der zur Wache abkommandiert war. Er zog an seiner gedrehten Zigarette und verwehrte dem Ankommenden den Zutritt ins Haus. “Was du wollen?”, fragte er, als Eckhard Hieronymus mit Brief und Tasche in der Hand vor der untersten Stufe stand und der Soldat auf der obersten Stufe saß und lässig an seiner Zigarette rauchte. “Ich suche Anna Friederike”, sagte er. Der Soldat schaute ihn erstaunt an, was in Eckhard Hieronymus erste Befürchtungen weckte. “Was ist Anna?”, fragte der Soldat. Eckhard Hieronymus konnte das “Was” nicht verstehen, wenn es etwas anderes bedeuten sollte, als dass Anna Friederike eine junge Frau war. “Anna Friederike ist meine Tochter. Ich möchte sie besuchen. Sie wohnt in diesem Haus”, sagte er. Der Soldat: “Hier wohnen Nemjétskaja doktóra und Freund.” Das irritierte Eckhard Hieronymus. Er verstand zwar das Wort “doktóra”, dass er einer Ärztin zuordnete, was Anna Friederike jedoch nicht war. Das Wort davor mit dem “Nem..”, das verstand er überhaupt nicht. Auch hatte ihr Anna Friederike von einem Freund nichts gesagt. Er dachte nach, wie das Rätsel zu lösen sei. Der Soldat saß, rauchte und wunderte sich über das störrische Verhalten des Mannes vor der Treppe. “Was du wollen?”, fragte er nun ungeduldig. Eckhard Hieronymus, der das Problem der fehlenden Verständigung so nicht lösen konnte, dem aber der Gedankenblitz einschlug, dass mit “doktóra” vielleicht auch eine Krankenschwester gemeint sein könnte, ließ es auf den Versuch ankommen: “Geh zu Doktora und sag, dass Vater hier ist.” Der Soldat drückte die abgerauchte Zigarette auf der Stufe aus und warf den Stummel von der Treppe, dass er vor die Füße von Eckhard Hieronymus fiel. Dann erhob er sich, fragte: “Wie du heißen?” und ging, nachdem er den Namen genannt bekam, durch die Haustür und die Treppe nach oben.

Eckhard Hieronymus blieb mit Brief und Tasche in der Hand vor der Treppe stehen. Er drehte sich zu Eckart um, um sich zu vergewissern, dass er auf ihn wartet. Der verfolgte vom Kutscherbock aus das Problem der Verständigung. Es dauerte einige Minuten, als Anna Friederike herunter und durch die Haustür gelaufen kam, die Außentreppe fast hinunter sprang und den Vater umarmte, der seine geliebte Tochter mit Brief und Tasche in der Hand in die Arme nahm. Der Soldat, der ihr gefolgt war, sah der Vater-Tochter-Begrüßung vom oberen Treppenabsatz zu und lächelte zufrieden. “Bist du die “doktóra”, das Wort davor habe ich nicht vertsanden?”, fragte der Vater die Tochter. “Das ist eine Geschichte, die ich dir oben erzählen will”, sagte sie. “Komm mit!” Sie gingen am lächelnden Wachsoldaten vorbei und die Flurtreppe nach oben. Im Mansardenzimmer unter dem schräg abfallenden Dach waren die Wände eng gesetzt. Es war als Schlafraum für eine Person gedacht. In diesem Zimmer stellte Anna Friederike ihren Vater der Freundin vor. “Haben Sie hier mit meiner Tochter das Ende des Krieges erlebt?”, fragte Eckhard Hieronymus, von der Enge des Zimmers bedrückt, Freundin Angelika. “Ja, hier haben wir den Ausgang des Krieges gemeinsam durchgezittert. Der Kampf um die Stadt hat uns große Schrecken eingejagt. Sie haben es gesehen, dass das Haus einen Treffer abbekommen hat. Da waren wir in unserem Zimmer nicht weit weg. Wir dürfen von Glück sagen, dass wir diese Prozedur lebend überstanden haben”, sagte Angelika.

Eckhard Hieronymus hatte sich auf einen Stuhl zwischen die zwei Betten gesetzt, während Anna Friederike und ihre Freundin zusammen auf Angelikas Bett saßen. Er überreichte der Tochter den Brief der Mutter und die Tasche, die Bäuerin Dorfbrunner mit Esswaren vollgepackt hatte. “Bevor du den Brief öffnest und die Tasche auspackst, sag doch bitte Eckart Bescheid, dass er nicht auf mich warten soll, aber gegen fünf mich von hier abholen möchte.” Anna Friederike rannte die Treppe herab, richtete Eckart die Botschaft aus und war so schnell wieder im Zimmer, als wäre sie bloß in den Nebenraum gegangen. Sie umarmte ihren Vater und küsste ihn. “Ich bin so froh, dich wiederzusehen, und unendlich dankbar, dass ihr den Krieg mit dem Leben überstanden habt.” Der Vater hielt ihre Hand: “Auch wir haben Grund zu großer Dankbarkeit, dass wir unsere Tochter lebend bei uns haben. Nun gibt es noch die Entfernung zwischen dem Hof und der Stadt. Daran werden wir arbeiten, dass dieser Abstand kleiner wird, damit die Familie wieder ganz zusammenkommt.” Anna Friederike hatte Tränen in den Augen. Sie setzte sich dicht an den Vater, der das Taschentuch aus der linken Jackentasche zog und ihr liebevoll die Tränen vom Gesicht tupfte.

Eckhard Hieronymus fragte die Freundin seiner Tochter, wie sie sich gefunden hätten. Angelika erzählte ihre Geschichte, die die Geschichte einer schweren Kindheit war, weil ihr Vater starb, als sie drei Jahre alt war, und die Mutter zwei Jahre später einen Mann geheiratet hatte, der einige Jahre jünger als sie und ein selbstsüchtiger Pedant war, zu dem sie nie eine herzliche Beziehung hatte. Die Mutter war ihm hörig. So wurde sie von den Großeltern in Dresden aufgezogen, die beim Bombenangriff ums Leben kamen. “Zu dieser Zeit arbeitete ich in einer Spedition in der Stadt und lebte mit meinem Freund in einer kleinen Wohnung zusammen, der in den letzten Kriegsmonaten eingezogen wurde und im Kampf um Frankfurt an der Oder gefallen war. Anna Friederike habe ich das erste Mal im Kino und dann beim Einkaufen von Brot und den anderen Rationen für die Woche getroffen. Es gab herrliche Tomaten, die es seit Wochen nicht gegeben hatte. Ja, über den Tomaten, die zu kleinen Portionen abgewogen und in Tüten verpackt wurden, sind wir ins Gespräch gekommen. Seitdem haben wir uns regelmäßig getroffen. Daraus entstand eine Freundschaft, dass wir beschlossen hatten, das Ende des Krieges in ihrer Mansarde zu verbringen. Meine kleine Wohnung wurde bei der Schlacht um die Stadt zerschossen. Von meinen Sachen ist nichts geblieben. So bin ich dankbar, dass ich hier ein Bett habe, in dem ich schlafen kann. Hinzu kommt, dass ich mich nach einer neuen Arbeit umsehen muss, weil es die alte Arbeit in der Spedition nicht mehr gibt, der sämtliche Fahrzeuge weggenommen worden sind.”

Anna Friederike hatte Tee aufgebrüht, setzte einen zweiten Stuhl zwischen die Betten, stellte drei Tassen und das Schälchen mit Süßstoff auf den Stuhl und goss die Tassen ein. Sie öffnete den Umschlag und las den Brief, den ihr die Mutter geschrieben hatte. Darin schrieb sie, dass Klaus und Heinz den Hof verlassen hatten und herzliche Grüße an die Tochter ausrichteten. Klaus meinte, dass er den Hof besuchen werde, wenn mit der Zeit auch das Reisen besser möglich sei, und dass er ganz zurückkommen wolle, wenn er in Potsdam keinen Angehörigen mehr findet.

Die Mutter drückte ihre Sehnsucht aus, die Tochter bald in ihre Arme zu nehmen. “Haltet ihr es in der Scheune mit dem Schlafen noch aus?”, fragte Anna Friederike den Vater. “Aber sicher, mein Kind. Mutter und ich sind dankbar, dass wir einen Platz zum Schlafen und ein Dach über unseren Köpfen haben. Es hätte doch viel schlimmer kommen können.” Eckhard Hieronymus sagte, dass er noch einmal mit dem Superintendenten sprechen und ihn fragen wolle, ob sich inzwischen eine Änderung ergeben habe, wo er als Pfarrer einspringen könne. “Ich muss doch mal wieder arbeiten. Ohne Arbeit sein, kann doch kein Dauerzustand werden”, sagte er. Anna Friederike spürte seine Nervosität, wenn es um die Suche nach Arbeit ging. “Weißt du denn, wie es mit der Klinik weitergehen soll?”, fragte Eckhard Hieronymus die Tochter. “Nein, das weiß ich nicht. Dr. Lange ist vom Volkssturm nicht zurückgekehrt. Niemand weiß, wo er ist, ob er noch lebt. Frau Lange leitet bei Pirna ein Entbindungsheim, wo auch Schwester Käte als Hebamme tätig sein soll”, erklärte Anna Friederike. Die Reaktion des Vaters war: “Da muss ich doch endlich einmal eine Arbeit finden, um meinen Beitrag zu leisten. Ich kann doch der guten Bäuerin nicht ewig am Brotkorb hängen.” Anna Friederike tat der Vater leid, den der Kummer, ohne Arbeit zu sein, hart drückte. Sie versuchte ihn abzulenken und erzählte ihm die Geschichte vom verletzten Soldaten, die ihr den Namen “Nemjétskaja doktóra” eingebracht hat. Eckhard Hieronymus hatte seine Freude und sagte, dass sie sicherlich eine gute Ärztin geworden wäre, weil sie schon als junges Mädchen die Neigung hatte, Menschen zu helfen, zu der mit zunehmenden Jahren auch die Begabung stärker hervortrat, es zu können. Dass ihr die Immatrikulation an der Breslauer Universität aufgrund des arisch-jüdischen Mischblutes verwehrt worden war, schmerzte den Vater sehr.

Sie hatten die Tassen geleert, als Eckhard Hieronymus auf seine Taschenuhr schaute, die halbelf zeigte. Er erhob sich und drückte die Hoffnung aus, dass er diesmal Arbeit finden werde. Anna Friederike brachte den Vater zur Torausfahrt. Dabei passierten sie den Wachsoldaten, der auf dem oberen Treppenabsatz saß und auf einer kleinen Mundharmonika eine russische Volksweise spielte, die zu einem Wolgalied gehörte, in dem die Mutter besungen wird, die ihren Sohn hergibt, den sie getragen und gestillt, mit der größten Liebe aufgezogen und durch vieles Leid gebracht hatte, weil er in einen anderen Winkel der Welt zieht, um dort zu arbeiten und mit seiner Geliebten zu leben. “Vater, sei gegen eins hier. Ich koche uns ein kleines Mittagessen”, sagte Anna Friederike. Sie umarmten sich. Der Vater küsste die Tochter auf die Stirn, die es sich gern gefallen ließ. Dann machte er sich auf den Weg zum Superintendenten, dessen Haus schräg gegenüber am Albertplatz stand.


Als der Nagel eingeschlagen wurde

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