Читать книгу Als der Nagel eingeschlagen wurde - Helmut Lauschke - Страница 7

Harte Faustschläge gegen die verschlossene Tür

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Eine aufregende Geschichte ereignete sich am Freitag der zweiten Woche sowjetischer Besatzungszeit: Eine Männerfaust schlug hart gegen die verschlossene Tür. “Aufmachen oder schieß!”, rief eine kratzige Stimme im tiefen Bariton. Anna Friederike und ihre Freundin erschraken, fürchteten sie sich doch vor dem Schlimmsten. “Mach du auf, ich habe Angst”, sagte Angelika. Mit einem Tuch um den Kopf und einem alten Kleid, das die Jugend verdecken und die sexuelle Begierde der Soldaten zerstreuen sollte, öffnete Anna Friederike die Tür, erst auf einen Spalt, dann ganz. Vor ihr standen ein hochgewachsener Offizier und sein kurzer Adjutant, der das Gewehr auf sie richtete. “Du arbeiten hier?”, fragte der Offizier. Anna Friederike verstand nicht, was er meinte. “Du Dokter?”, fragte er. Nun verstand sie seine Frage. “Ich bin kein Arzt”, antwortete sie. “Du arbeiten mit kranken Menschen?”, fragte der Offizier. Anna Friederike sagte, dass sie als Schwester hier gearbeitet habe, als die Klinik in Betrieb war.

“Du doch Dokter”, sagte nun mit einem Lächeln der Offizier. Dann sagte er: “Mitkommen! Mann mit viel Blut.” Sie folgte ihm beim Treppenabgang vom Dach- zum Erdgeschoss. Das Schloss an der hohen Flurtür zur Klinik war aufgebrochen. Eine Blutspur lief vom Hauseingang über den Außen- und Innenflur bis in den OP-Raum. Auf dem OP-Tisch lag ein junger Soldat mit blutigem Hemd und blutverschmierter Uniformhose. Ein anderer Soldat hielt ihm den rechten Arm gestreckt nach oben, der mit einem Handtuch umwickelt war. Das Tuch war blutdurchtränkt, von dem das Blut auf den Boden tropfte. Drei weitere Soldaten standen im OP herum und schauten die Geräte an und besonders intensiv in den Instrumentenschrank, der nicht verschlossen war. “Du helfen Soldat!”, sagte der Offizier.

Anna Friederike behielt die Ruhe und begann, mit dem ihr gestellten Problem über sich hinauszuwachsen: “Lass sehen!” Der Offizier übersetzte es ins Russisch, und der Soldat wickelte das blutige Tuch vom Arm, das als Staubinde um den Oberarm fest angezogen war. Anna Friederike sah die Wunde an der Beugeseite des Unterarms, aus der es blutete, aber nicht im Pulsschlag spritzte. Sie hielt die Blutung für eine venöse und nicht für eine arterielle. Der Erfolg trat augenblicklich ein: die Wunde am Unterarm hörte auf zu bluten. Offizier und Soldaten machten große Augen. Der Offizier klopfte ihr auf die Schulter und sagte: “Nemjétskij [deutscher] Dokter, gut Dokter.” Sie legte eine trockene Kompresse auf und zeigte dem armhaltenden Soldaten, wie er mit der freien Hand die Kompresse auf die Wunde zu drücken hatte. Der tat es wie befohlen. Anna Friederike holte aus dem Instrumentenschrank Pinzette, Schere, Nadel, Nadelhalter und Nahtmaterial, legte sie in die Nierenschale und schob die Schale in den Sterilisator. Mit Wodka, den der Offizier aus der mitgebrachten Flasche in eine kleine Metallschale goss, säuberte sie die Wunde. Dann betäubte sie mit Spritze und Nadel das Wundgebiet, deckte den Arm mit einem sterilen Tuch ab, das noch abgepackt war, und wartete auf dem Hocker sitzend die Zeit ab, die die Instrumente zum Sterilisieren brauchten. Um sie herum standen Offizier und Soldaten, die von ihrer Kenntnis und dem Können angetan und verstummt waren. “Du machen viel Operation?”, fragte der Offizier in einem Deutsch, das sie dem an Österreich angrenzenden Balkan zuordnete. “Ich bin Krankenschwester und kein Arzt”, sagte sie. “Du Nemjétskij Dokter, gut Dokter”, beharrte der Offizier. Sie holte die Nierenschale mit den Instrumenten aus dem Sterilisator, stellte die Schale auf den abgedeckten Instumententisch, zog sich die Handschuhe über, klemmte in der Wunde die blutende Vene ab, unterband sie und vernähte die Haut. Sie legte den Verband an und wickelte eine Binde um den Unterarm. “Ótschen karoschó!” [sehr gut!], kommentierte der Offizier die Leistung des “Doktors”.

“Der Mann braucht noch die Tetanusspritze”, ordnete sie an. “Du von mir hören”, sagte der Offizier und verschwand mit dem Patienten, der ein “Ótschen spassíbo!” [vielen Dank!] sagte, und den anderen Soldaten und fuhr im offenen Jeep davon. Anna Friederike wusch die Instrumente, die Nierenschale und die kleine Schale, aus der sie den restlichen Wodka ins Becken goss, trocknete Instrumente und Schalen mit einem kleinen, weißen Tuch und räumte sie in den Glasschrank zurück. Dann warf sie die verschmierten Tücher ins wassergefüllte Becken, säuberte den OP-Tisch und den Boden, wischte die Blutspur von den Fluren und Stufen der Außentreppe, schloss die Tür des OP-Raumes und den Flügel der hohen Flurtür zur Klinik, an dem das Schloss aufgebrochen war. Sie ging in ihr Zimmer zurück, in dem Angelika auf sie wartete, und erzählte ihr die Geschichte der getätigten Wundchirurgie von Anfang bis Ende.

“Ich hatte einen Bammel”, sagte Anna Friederike, “denn das habe ich noch nie gemacht.” “Aber zugesehen hast du doch, wenn der Arzt eine Wunde vernähte”, meinte Angelika. Anna Friederike: “Ja, das habe ich; aber selber machen, das ist etwas ganz anderes. Doch dann, als ich erkannte, dass es keine spritzende, sondern eine venöse Blutung war, die zum Stehen kam, als der Soldat das zur Staubinde zusammengerollte Tuch entfernte, das um den Oberarm fest angezogen war, da war ich sogar stolz auf mich. Der Notfall weckt eine Intelligenz, von der man vorher nichts weiß. Der Offizier klopfte mir auf die Schulter und sagte: ‘Nemjétskij Dokter, gut Dokter’. Weißt Du, was ‘Nemjétskij’ heißt?”, fragte Angelika. “Nein, das weiß ich nicht. Das Russisch müssen wir noch lernen. Da stehen wir vor dem Anfang”, sagte sie. Anna Friederike meinte nach dem unerwarteten Erfolg, dass der Beruf des Chirurgen ein schöner Beruf sei, weil man dem Patienten wirklich helfen kann, wenn man als Arzt das Wissen hat und das Problem erkennt. “Natürlich sind geschickte Hände vonnöten, um dann das Problem auch zu lösen”, ergänzte Angelika. Sie vertünde nun, warum Paul Gerhard, ihr verschollener Bruder, Chirurg werden wollte. Er hatte das Herz für den leidenden Menschen und hatte die Intelligenz und manuelle Geschicklichkeit für diesen Beruf gehabt, sagte Anna Friederike.

Am nächsten Morgen klopfte es gegen elf an die Tür. Die Klopfschläge waren nicht so hart wie am Tag davor. Auch diesmal bat Angelika die Freundin, die Tür zu öffnen. Anna Friederike drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Vor ihr stand der hochgewachsene Offizier: “Nemjétskij Dokter, gute Tag!” Sie grüßte zurück, und er lachte sie an. “Wie geht es dem Soldaten?” “Arbeit von Dokter gut, Soldat gut.” Der Offizier überreichte eine Hartwurst von ansehnlicher Länge und eine Flasche Wodka. “Kommandant dich sehen heute abend!”, sagte er bestimmt. Anna Friederike verstand nicht, was er meinte: “Ist Kommandant krank?”, fragte sie, um den Sinn herauszufinden. “Kommandant nicht krank; Kommandant gesund und stark. Kommandant nicht kommen. Du kommen nach Kommandant.” Anna Friederike sagte dem Offizier, dass sie Angelika nicht allein lassen wolle, nachdem sie beide vergewaltigt worden waren. Der Offizier verstand es nicht. Anna Friederike erklärte es mit Geduld und Zeichensprache: “Vier Soldaten kamen ins Zimmer, ließen die Hosen runter und bumsten wie wilde Reiter; zwei Soldaten hintereinander auf mir, zwei Soldaten auf Angelika. Der Offizier schien es verstanden zu haben und machte ein ernstes Gesicht: “Nasílowatch. Wir Soldaten finden und bestrafen.” Sie zeigte auf Angelika und auf den Boden des schmalen Flurs, auf dem sie vergewaltigt wurden. “Ich Kommandant sagen und wiederkommen.” Der Offizier ging die Treppe herunter, auf der sein Adjutant wartete. Er sprach in energischem Ton bis zum Ausgang, von dem Anna Friederike und Angelika kein Wort verstanden, und legte die Haustür nicht laut, aber auch nicht leise ins Schloss und fuhr mit dem Jeep, den Adjutanten auf dem Nebensitz, zur Kommandantur zurück. Anna Friederike und Angelika machten sich über das Brot und die Hartwurst her. Sie aßen mit Heißhunger, der sie mit Beginn der neuen, der russischen Zeit befallen hatte, weil da Tage waren, an denen es nichts zu essen gab.

Sie waren noch mit dem Essen beschäftigt, Anna Friederike hatte die Blechkanne mit dem aufgebrühten Brennnesseltee in der Hand, als sie aus der kleinen Küche am anderen Flurende kam und der Offizier ihr vor ihrer Zimmertür gegenübertrat. “Ich sprechen mit Kommandant. Kommandant sagen, Dokter mit Angelika kommen. Ich dich und Angelika fahren mit Auto von Kommandant. Ich kommen um..”, der Offizier zeigte auf seine Armbanduhr, ein deutsches Fabrikat, und bewegte den Zeigefinger zwischen sieben und acht Uhr hin und her. Als er schon die ersten Stufen treppabwärts genommen hatte, sagte er: “Nemjétskij Dokter, schöne Frau. Ich dich bringen nach Kommandant.” Der Adjutant hatte auf dem Nebensitz des Jeeps gewartet. Der Offizier schwang sich auf seinen Sitz, so sah es Anna Friederike vom Dachfenster aus, drehte mit Vollgas das Vehikel auf der Straße, dass die Reifen quietschten, und brauste zur Kommandantur zurück.

“Was sollen wir anziehen?”, fragte Angelika. “Was wir haben. Eine große Auswahl haben wir nicht”, antwortete Anna Friederike. Sie sahen ihre paar Kleider gemeinsam durch, wählten sie gemeinsam aus, vernähten eingerissene Säume und bügelten sie auf der Wolldecke, die sie halb geöffnet auf dem Boden ausgelegt hatten. Ein großer Staat war mit diesen handgeschneiderten Kleidern nicht zu machen. Doch es war Krieg, der für Kleidung keine große Auswahl ließ. Da galt das Motto: aus zwei mach eins, aus zwei alten Kleidern, meist aus Mutters Schrank, ein neues Kleid. Mit den Schuhen war es nicht besser. Man war froh, wenn es noch ein Paar Lederschuhe waren. Sie wurden geflickt, besohlt, mit Absätzen versehen und gewienert. Lederschuhe wurden wie große Kostbarkeiten getragen. Die Fingernägel reichten nicht mehr über die Fingerkuppen hinaus; sie hatten sich den Händen angeglichen, die sich durch die Kriegsjahre “gewühlt” hatten. Da gab es nicht mehr viel herumzuschneiden. Nach einem Handbad im lauwarmen Wasser wurden die Nägel mit einem Wolltuch poliert, so gut da noch etwas zu polieren war. Zum Lackieren fehlte der Lack. Der Lippenstiftstummel wurde geteilt und dünn über die vier Lippen gezogen. Aus dem Fläschchen ‘Kölnisch Wasser’ wurden die letzten Tropfen “rausgequetscht” und tröpchenweise auf zwei Gesichter verteilt. Es war eine Prozedur, sich herauszuputzen, wo es nicht viel zum Putzen gab. Die Kleider- und Make-up-Probe vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken im engen Bad unter dem schrägen Dach fiel daher nicht aufregend, auch nicht ungewöhnlich aus, weil man sich durch die Jahre an das Viele, was es nicht gab, so sehr gewöhnt hatte, dass es seine Ordnung hatte, wenn zum hellbunten, knielangen Frühlingskleid dunkelbraune oder gar schwarze Schuhe mit breiten Absätzen getragen wurden, wie sie schon die Großmütter zu ihren offiziellen Anlässen getragen hatten, und wenn es zu deren Schulabschlüssen von Anno Tobak war.

Sie hatten die Handtücher noch wie riesige Turbane um ihre Köpfe gewickelt, als eine dunkelblaue Limousine vorfuhr. Die Eingangstür schlug ins Schloss, und Füße stiegen im resoluten Männerschritt die Treppenstufen nach oben. “Moment!”, rief Anna Friederike aus dem kleinen Zimmer durch die angelehnte Tür, an die der Offizier in manierlicher Weise geklopft hatte. In Eile frottierten sich Anna Friederike und Angelika gegenseitig das Nass aus den Haaren. Es dauerte und dauerte. “Ich warten unten”, sagte der Offizier; “Ist in Ordnung”, sagte Anna Friederike. Er ging die Treppe herunter. Das Klackgeräusch beim Schließen der hohen Haustür war nicht zu hören. Die beiden Frauen waren mit ihren Haaren vollauf beschäftigt. Doch der Offizier ließ ihnen Zeit. Er war ein Mann von Bildung, der wusste, wie lange Frauen brauchen, wenn es um ihre Haare geht. Anna Friederike hatte die Zimmertür abgeschlossen, als beide die Treppe herunter kamen. Der Offizier hatte im Flur des erhöhten Erdgeschosses gewartet. Er sah den zwei Frauen entgegen, wie sie die letzten Stufen nach unten nahmen. “Dóbrü wétscher!”, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen. “Guten Abend!”, sagten die beiden, ohne zu wissen, dass sie dasselbe in ihrer Sprache sagten wie der Offizier in seiner.

Gemeinsam gingen sie zur dunkelblauen Limousine, wo der Fahrer die Türen geöffnet hatte. Anna Friederike und Angelika nahmen hinten ihre Plätze ein, der Offizier vorne auf dem Beifahrersitz. Es war ein bequemes Sitzen in einem luxuriösen Fahrzeug. Nur Anna Friederike konnte sich an das bequeme Sitzen in der nicht weniger luxuriösen Horchlimousine erinnern, die der Obersturmführer Dorfbrunner zum Bahnhof geschickt hatte, um sie mit ihren Eltern und den drei Koffern, die sie aus Breslau mitgebracht hatten, zur Standortkommandantur Ost in der Steinstraße zu fahren. Das war gegen Ende des Krieges, während das Fahren in dieser Luxuslimousine zum Anfang der russischen Zeit im Nachkriegsdeutschland gehörte. Beide Limousinen waren deutsch und waren den deutschen Besitzern weggenommen worden, die sie ohnehin nicht hätten fahren können, weil ihnen der Sprit zum Fahren fehlte beziehungsweise nicht zugeteilt wurde. (Für die Spritzuteilung war die Genehmigung erforderlich, die von der Kommandantur mit Angabe der beschränkten Literzahl nur in Ausnahmefällen und durch besondere Beziehung zu bekommen war.) Angelika wusste, dass sie noch nie so komfortabel gefahren wurde.


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