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Motorisierter Individualverkehr – bequem, schnell und frei

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Der Motorisierte Individualverkehr wird im Fachjargon kurz MIV und in der Öffentlichkeit meist Autoverkehr genannt. Seine Realisierung erfolgt mit Kraftfahrzeugen, die i. d. R. mit Verbrennungsmotoren angetrieben werden, wobei es derzeit den erklärten politischen Willen gibt, verstärkt elektrische Antriebe einzusetzen. Je nach Abgrenzung zählen auch Krafträder wie Mopeds oder Motorräder zum MIV. Genau genommen fallen auch andere Verkehrsarten unter den MIV, so z.B. der Besitz und die Selbstfahrt mit Luftfahrzeugen (z.B. Flug mit dem eigenen Fluggerät) oder Wasserfahrzeugen (z.B. die Fahrt mit dem Boot in gewässerreichen Gegenden). Diese Erscheinungsformen des MIV können regional sogar recht bedeutsam sein, so z.B. der Verkehr zwischen dem Festland und vorgelagerten Inseln oder in Städten und Regionen mit einem gut ausgeprägten Kanalsystem. Jedoch stellen solche möglichen alternativen Realisierungsformen des MIV in der Gesamtschau auf das Verkehrssystem eher eine Randerscheinung dar. Charakteristisch für den MIV ist, dass die Rollen von Fahrzeugführer, Verkehrsteilnehmer, Fahrzeugbesitzer bzw. -halter sowie die Rolle des Nutzers mit Verkehrsbedürfnis oft in einer Person vereint sind. Der Nutzer fährt selbst, für sich selbst, zum eigenen Zweck und auf eigene Rechnung – was auch den persönlichen Chauffeur einschließt. Die Begriffe Motorisierter Individualverkehr (MIV) und Straßenverkehr sind übrigens nicht synonym: Während der MIV eine Kategorisierung nach Antrieb und Realisierung darstellt, fasst der Begriff Straßenverkehr alle Fahrten zusammen, die auf dem Verkehrsmedium „Straße“ stattfinden – ob motorisiert oder nicht motorisiert, ob individuell oder kollektiv organisiert.


1.3.2 Immer mehr Menschen nutzen das eigene Auto.


1.3.3 Anteil der Fahrzeugsegmente dargestellt an Neuzulassungen in Deutschland 2012.

Individueller Zweck und Nutzen des MIV ist sowohl der private konsumtive Verkehr als auch der professionelle und gewerbliche Verkehr – wobei jeder Nutzer Zeitlage, Route, Fahrgeschwindigkeit, Fahrweise und Verkehrsmittel weitgehend selbst bestimmen kann. Die Nutzer empfinden diesen Vorteil meist als besonderen Ausdruck von Freiheit. Dazu kommt, dass der eigene Besitz auch die alleinige Verfügungsgewalt über das Fahrzeug bedeutet – es wartet jederzeit und überall treu und bereitwillig auf seinen Nutzer. Dieser Nutzen scheint sehr wichtig für die MIV-Nutzer zu sein, denn erwiesenermaßen stehen private Kraftfahrzeuge während ihrer Nutzungsdauer bzw. ihres Fahrzeuglebens längere Zeit herum und warten darauf bewegt zu werden, als dass sie tatsächlich fahren. Die heute üblichen Fahrzeuge des MIV bieten die Möglichkeit der Mitnahme von Gütern und Gepäck sowie die Möglichkeit der Mitnahme von Bei- und Mitfahrern bei marginalem Zusatzaufwand, was auch ein nicht zu unterschätzender Systemvorteil ist.

Dank der Bereitstellung zahlreicher – wenn auch meist nicht ausreichend vieler – Parkplätze durch das Gemeinwesen muss das eigene Fahrzeug auch nicht mit in die eigene Wohnstatt genommen werden: Auch ohne eigene Remise oder eigenes Land für das Abstellen können die Fahrzeuge meist in unmittelbarer Nähe ihrer Besitzer abgestellt werden. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn Parkraum ist eigentlich eine knappe und wertvolle Ressource, erst recht in großen und prosperierenden Städten. Die Bereitstellung von Parkfläche – und zwar kostenlos – wird meist als Selbstverständlichkeit wahrgenommen, obwohl sie das eigentlich nicht ist. Und sie ist in der heute üblichen Form einer der wesentlichen Vorteile des privaten MIV gegenüber öffentlichen Verkehrsangeboten. Während Nutzern öffentlicher Verkehrssysteme einige hundert Meter Fußweg zur nächsten Haltestelle zugemutet werden (müssen – damit das System überhaupt funktioniert), sorgen öffentliche Bauordnungen dafür, dass der Parkraum praktisch vor jeder Haustür, auf jedem Flurstück und oft sogar in vielen Gebäuden geschaffen wird. Freilich: Der Leidensdruck ist trotzdem groß, denn Parkraum ist besonders in großen Städten knapp. Für alle Menschen und alle ihre Autos ist in keiner Stadt ausreichender Platz. Allerdings hört man viel zu selten – oder nie – von flächendeckenden innerstädtischen Fahrzeugabstellanlagen, die im mittleren Haltestellenabstand einzelne Wohnquartiere erschließen und jedem Menschen seinen eigenen Parkplatz garantieren – verbunden mit einem Parkverbot entlang öffentlicher Straßen (oder extrem hohen Parkgebühren) und einer Umnutzung der freiwerdenden Flächen.

Solange Kraftstoffe bzw. Antriebsenergie für den Nutzer günstig sind – und die Straßenbenutzung ebenfalls – gibt es kaum eine bequemere und einfachere Art um mobil zu sein. Niemand braucht Beförderungsbedingungen oder Fahrpläne kennen, man braucht sich nicht den Kopf zerbrechen über eine optimale Route durch ein Straßennetz, man muss sich keine Sorgen machen, wenn man jeden Tag mehrere Dutzend Kilometer zwischen Wohnung, Arbeitsstätte, Supermarkt oder sonstigen lebensnotwendigen Orten unterwegs ist. Man setzt sich einfach in „sein“ Fahrzeug und fährt los. Alles ist bekannt. Man kann Gepäck und Personen mitnehmen so viel das Fahrzeug tragen kann. Es besteht praktisch kein Optimierungszwang. Der entsteht – wenn überhaupt – nur einmal, wenn man sich ein neues Fahrzeug kauft, dabei viel Geld ausgibt und man sich für die kommenden Jahre wieder binden muss. Viele Anzeichen sprechen dafür, dass wir künftig nicht mehr mit diesen Vorzügen rechnen können. Bisher aber ist der günstige Einsatz von Kraftfahrzeugen einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren des MIV.


1.3.4 a) Verteilung öffentlicher Parkplätze in einer deutschen Innenstadt. b) Parkende Autos auf einem Großparkplatz.

Ihre Stärken für die Allgemeinheit zeigt diese Verkehrsart vor allem bei der flächenhaften Erschließung großer Räume sowie bei der effizienten Verkehrsabwicklung bei schwachem Verkehrsaufkommen. Vereinfachend kann man sagen, dass überall dort, wo das Verkehrsaufkommen zu schwach ist, um ein Geschäft daraus zu machen oder der Einsatz öffentlicher Finanzmittel für die Bereitstellung öffentlicher Verkehrsdienstleistungen aufgrund des geringen Verkehrsaufkommens und eines geringen öffentlichen Interesses nicht zu rechtfertigen ist – jedoch genügend eigene Ressourcen vorhanden sind, um ein eigenes Fahrzeug zu beschaffen und zu betreiben –, der MIV seinen größten Nutzen für die Allgemeinheit entfaltet. Zudem kümmert sich der Nutzer selbst um das Vorwärtskommen. Heute können gerade diejenigen Menschen mobil sein – und oft wird von ihnen die MIV-gestützte Mobilität sogar erwartet –, die sich um 1900 keinen eigenen Fahrer hätten leisten können. Während in jener Zeit der Besitz eines Automobils und eines eigenen Chauffeurs als Zeichen von Status und Wohlstand galt, ist es heute nur das Auto. Nur noch sehr wenige empfinden es als echten Luxus, ein Auto nicht selbst fahren zu müssen. Was für viele die Freude am Fahren ist, kann durch andere als aufgezwungene Nebentätigkeit als Chauffeur in eigener Sache empfunden werden.

Historisch gesehen hat sich der MIV aus den einfachen regionalen Nahverkehrsmitteln heraus entwickelt. Kulturelle und technische Vorfahren des Automobils sind Kutsche, Fahrrad und Fuhrwerk – vielleicht sogar Stiefel und Wanderstock. Noch heute sind die typischen Nutzungsgebiete eher im Nahverkehr zu suchen – dort stehen sich der MIV und die öffentlichen Verkehrssysteme in heftiger Systemkonkurrenz gegenüber. Beide Mobilitätsangebote verfügen über ein typisches Spektrum aus Eigenschaften, die für jeden Nutzer in einer individuellen Situation vorteilhaft und nachteilig sein können. Daher sind verallgemeinernde Aussagen zur Güte und Qualität von MIV und öffentlichen Verkehrssystemen mit Vorsicht zu treffen. Einiges lässt sich allerdings verallgemeinern: Vorteil der Verkehrsart MIV ist ihre universelle Nutzbarkeit für zahlreiche Lebenssituationen, und zwar sowohl im unmittelbaren Wohnumfeld als auch darüber hinaus. Entsprechend den strukturellen Gegebenheiten und Voraussetzungen – Eignung des Fahrzeugs, Vorhandensein eines internationalen Straßennetzes – ist der MIV sogar ein Phänomen des Fernverkehrs! Allerdings verbirgt sich hinter dieser Nutzungsmöglichkeit auch ein Problem: Entweder macht man sich auf den Weg mit einem für den regionalen Kurzstreckenverkehr optimierten Fahrzeug. Dann sollte man vielleicht über komfortablere Alternativen nachdenken. Oder – und das ist im Privatsektor häufig die Regel – man beschafft sich ein Fahrzeug nach den Anforderungen eines zweiwöchigen Urlaubs – und fährt die anderen 50 Wochen des Jahres mit einem überdimensionierten Gefährt herum. An dieser Stelle wird die schwierige Entscheidung jedes einzelnen Nutzers deutlich – einerseits über die persönliche Bereitschaft und Entscheidungsgewalt des Nutzers, ein solches Sub-Optimum bereitwillig zu tragen, und andererseits die Toleranz oder Nicht-Toleranz der Öffentlichkeit, wenn Tausende dieser Sub-Optima die Gesamteffizienz des Verkehrssystems beeinträchtigen. Auch an anderen Stellen tritt im Zusammenhang mit dem MIV dieses Problem zutage – die Wechselwirkungen zwischen dem autonomen Autokäufer und Autofahrer einerseits und den Tausenden dieser Autokäufer und Autofahrer, deren Freiheit – wenn in dieser Form überhaupt vorhanden – spätestens an der Grundstücksgrenze oder am Garagentor endet – und im kollektiven Kontinuum aus Wegen, Straßen, Autobahnen, Kreuzungen und Parkhäusern mit dem Freiheitsdrang anderer Autofahrer zusammentrifft – ganz zu schweigen von Fußgängern und spielenden Kindern auf den Wegen abseits der Straßen.

Wie oben dargestellt, sind die Akteure und typischen Marktteilnehmer des MIV sowohl gewerbliche als auch private Fahrzeughalter und -besitzer, Unternehmen oder andere Körperschaften. Zudem können auch Fahrzeugindustrie und -händler (Konsumgut „Auto“), Straßenbaulastträger, Anbieter von unterstützenden Produkten und Dienstleistungen, wie Kraftstoffhersteller und -händler, Werkstätten, Fahrschulen, Prüf- und Aufsichtsstellen und Fahrzeugvermieter, zu den typischen Akteuren des MIV gezählt werden. Auf den Straßen wird die Menge der einzelnen individuellen Verkehrsteilnehmer zu einer kollektiven Größe – mit entsprechenden Konflikten und Widersprüchen, die sich in der Gesamteffizienz des Systems negativ auswirken können.

Der mit dem MIV in Verbindung stehende Markt für Fahrzeuge und sonstige Produkte und Dienstleistungen hat zwei wesentliche Dimensionen: einerseits den Endkunden- und Konsumentenmarkt, andererseits den professionellen Markt der gewerblichen Kunden. Die Marktanbieter orientieren sich in ihrer Preis- und Produktpolitik an diesen wesentlichen Nutzertypen bzw. Zielgruppen.

Unternehmen scheinen ihr Verhalten als MIV-Nutzer tendenziell durch rationale Entscheidungen zu bestimmen. Beschaffung und Betrieb von eigenen Fahrzeugen auf eigene Rechnung haben Auswirkungen auf die Ausgaben und die Produktivität des Unternehmens und müssen sorgfältig gegeneinander aufgewogen werden. Nicht umsonst ist der Transport einer der „Klassiker“ des Outsourcings, was bedeutet, dass es günstiger für das Unternehmen ist, auf eigene Fahrzeuge und Bindung eigener Personalkapazität für Transportzwecke zu verzichten und stattdessen immer dann fremde Fuhrunternehmen als Dienstleister zu beauftragen, wenn man Transportdienstleistungen benötigt. Für ein Unternehmen steht der MIV – in diesem Zusammenhang auch mit dem Begriff Werksverkehr zu bezeichnen – in Konkurrenz zu anderen logistischen Alternativen für die Realisierung von Transporten zur Verfügung. Je größer der Wettbewerbsdruck auf einem beliebigen Markt ist, umso bedeutsamer werden für die an diesem Markt tätigen Unternehmen die erforderlichen Standortfaktoren und Transportkosten – erst recht, wenn die Transportkosten keine zu vernachlässigende Größe für die Unternehmen sind.

Privatpersonen im Sinne konsumorientierter Endnutzer treffen im Unterschied dazu sowohl rationale als auch emotionale Entscheidungen in Bezug auf ihre Mobilität. Je höher die Systemkosten des MIV für Beschaffung und Betrieb, umso mehr steigt auch für Privatpersonen die Bedeutung der rationalen Entscheidungskriterien wie Kraftstoffverbrauch, Kapazität, Beschaffungspreis und Wartungskosten einschließlich Möglichkeit der Eigenreparatur. Gerade im Bereich dieser Nutzergruppe vollzieht sich gegenwärtig anscheinend ein Wandel. Während in den vergangenen Jahren die Beschaffung und die Bewirtschaftung eines Kraftfahrzeugs für private Nutzer praktisch keine materielle Herausforderung darstellte, sorgte der Anstieg der Kraftstoffpreise wie auch der zunehmende Preisanstieg für Beschaffung und Betrieb von Pkw dafür, dass immer mehr MIV-Nutzer ein geändertes Nachfrageverhalten zeigen. Daneben gibt es jedoch auch eine sehr große emotionale und irrationale Komponente bei der Entscheidungsfindung – die man sich aber erst einmal leisten können muss, wenn sie weit abseits vom individuellen Aufwand-Nutzen-Optimum zu finden ist.

Im MIV kommen alle möglichen motorisierten Straßenfahrzeuge zum Einsatz: zwei-, drei- oder vierrädrige Kraftfahrzeuge (Kfz) als Personenkraftwagen (Pkw) oder Lastkraftwagen (Lkw), Straßenfahrzeuge oder „Offroad“-Fahrzeuge mit großen oder kleinen Kapazitäten und zahlreichen Varianten für Antrieb oder Steuerung. Die Ausstattung der Straßenfahrzeuge ist in den vergangenen Jahren immer komfortabler geworden – aber auch störungsanfälliger, wartungsintensiver und damit sowohl in Beschaffung als auch im Betrieb teurer – zweifelsohne mit gesteigertem Nutzen durch Einrichtungen wie Klimaanlage, elektrische Fensterheber oder Assistenzsysteme. Fraglich ist nur, ob bei stagnierenden oder gar sinkenden Realeinkommen die privaten Nutzer dauerhaft in der Lage sein werden, die komfortableren, aber eben auch teuren Fahrzeuge so zu konsumieren, wie es noch bis vor kurzem der Fall war.

Sofern die Fahrzeuge im öffentlichen Straßenraum zum Einsatz kommen, müssen gewisse technische und organisatorische Mindeststandards eingehalten werden, die z.B. in der Wiener Straßenverkehrskonvention von 1968 niedergelegt sind. Dieser völkerrechtliche Vertrag ist eines der Fundamente des weltweiten Erfolgs des Straßenverkehrs und des MIV. Es sichert allen Straßenverkehrsteilnehmern ein Mindestmaß an Interoperabilität und internationaler Kompatibilität. Das heißt, dass Nutzer des MIV, die mit ihren Fahrzeugen im Bereich der Staaten des Wiener Abkommens unterwegs sind, vergleichbare Bedingungen vorfinden, denn es regelt praktische Dinge wie z.B. Verkehrsregeln, das Aussehen von Verkehrszeichen, die Grundmerkmale von Straßenfahrzeugen (damit entsprechend passende Straßen gebaut werden können) oder die Mindestausstattung von Kraftfahrzeugen wie z.B. Hupe, Rücklicht, Bremslicht oder Tachometer.

Damit sorgt das Wiener Abkommen dafür, dass der MIV nicht nur eine Realisierungsform des Regional- und Nahverkehrs, sondern auch des Fernverkehrs ist.

Wichtige Voraussetzung für den Erfolg des MIV ist, dass die Nutzer ihre Fahrzeuge selbst beschaffen und betreiben können. Das bedeutet vor allem, dass die Fahrzeuge einfach zu bedienen sein müssen, aber auch die Wartung und Instandsetzung zumutbar sein müssen. Es ist für uns selbstverständlich, dass jeder Führerscheinbesitzer – also jeder qualifizierte Nutzer – praktisch jedes marktübliche Fahrzeugmodell fast intuitiv bedienen kann – wenigstens im Bereich der Pkw und Kleintransporter. Das umfasst Selbstverständlichkeiten wie das Fahren, Tanken, Reifen- oder Ölwechseln. Die Möglichkeit der eigenen Reparatur der Kraftfahrzeuge wird allerdings zunehmend schwieriger. Oft werden die Fahrzeuge hinsichtlich ihrer Fertigung optimiert, jedoch nicht unbedingt hinsichtlich ihrer einfachen Wartung oder Reparatur.


1.3.5 Infrastruktur für funktionierenden Verkehr: Neben befestigten Straßen gehören dazu auch flächendeckende Kraftstoffversorgung und Werkstätten. Verkehrsschilder verbessern den Verkehrsfluss und helfen, sich in der Fremde zurechtzufinden.

Der MIV findet auf dem öffentlich zugänglichen Straßennetz statt. Die Straßen können sowohl in der Baulast privater Personen oder Unternehmen stehen, als auch in der Baulast öffentlicher Körperschaften. In Deutschland ist der letztere Fall typisch. Das Straßennetz existiert in unterschiedlichen Abstufungen hinsichtlich Qualität und Leistungsfähigkeit. Das Spektrum wird auf der einen Seite begrenzt durch einfache geebnete Erdpfade, die von geeigneten Kraftfahrzeugen mit geeigneter Fahrweise befahren werden können. Das Spektrum wird auf der anderen Seite von hoch leistungsfähigen und bestens befestigten und ausgestatteten Straßen begrenzt. Diese Bandbreite möglicher Weg- und Straßenformen wird in einem hierarchischen Straßennetz angeordnet und ermöglicht einerseits die vollständige Flächenerschließung ganzer Staaten und Kontinente, andererseits die Bewältigung großer Verkehrsmengen. Mit dem MIV ist es jedem entsprechend ausgestatteten Individuum möglich, nahezu jede denkbare Punkt-Punkt-Verbindung in weiten Teilen der Erde weitgehend autonom zu realisieren.

Neben dem Straßennetz sind zahlreiche weitere Infrastrukturen erforderlich, damit der MIV überhaupt funktioniert: Die flächendeckende Kraftstoffversorgung sowie Werkstätten oder Ersatzteilversorgung klingen profan und selbstverständlich – sind es aber nicht überall und nicht in jeder Situation. Schließlich sorgen Einrichtungen und Anlagen wie Beschilderung oder Straßenkarten bzw. moderne Navigationssysteme dafür, dass der Nutzer sich auch in der Fremde zurechtfindet. Die Beschilderung verbessert den Verkehrsablauf und Fahrzeugabstellanlagen (Parkplätze) sorgen dafür, dass Fahrzeuge nach Ende der Nutzung angemessen aufbewahrt werden können, auch wenn der Nutzer keine Remise oder Garage zur Verfügung hat.

Jedoch ist ihre Bereitstellung und Pflege mit einem erheblichen Aufwand verbunden – und man stelle sich einmal eine Welt wie die unsere ohne Tankstellen, innerstädtische Parkplätze oder Verkehrszeichen vor. Es ist stark anzunehmen, dass der Straßenverkehr sofort einen Großteil seiner Leistungsfähigkeit einbüßen würde und schon nach wenigen Tagen komplett zum Erliegen käme. Diejenigen, die schon in dünn besiedelten Gegenden dieser Welt mit wenig mehr als ein paar Tropfen im Tank unterwegs waren oder mitten im Nichts eine Autopanne hatten, haben hinterher sicherlich die Vorzüge dieses unscheinbaren Verkehrssystems zu schätzen gelernt, als im letzten Moment Tankstelle oder Werkstatt erreicht wurden.

Charakteristisches Merkmal des MIV ist, dass die Nutzer in der Regel ihr Fahrzeug selbst beschaffen und betreiben. Das setzt sowohl den Besitz und die Unterhaltung des Fahrzeugs voraus, als auch die Qualifikation zur Bedienung eines verkehrsüblichen Kraftfahrzeugs und die Kenntnis der Normen und Vorschriften des Verkehrsablaufs. Kern des MIV ist die selbständige Planung und Durchführung von Fahrten mit einem eigenen Fahrzeug. Damit kann der MIV situationsgerecht sehr gut an die jeweiligen Bedürfnisse und Anforderungen des Nutzers angepasst werden. Kollektive Formen der gemeinsamen Nutzung von Fahrzeugen oder der temporären Ausleihe von Fahrzeugen von gewerblichen Vermietern sind im Vergleich zum Besitz eines Kraftfahrzeugs sowohl unter den privaten als auch den gewerblichen Nutzern im Vergleich zum Fahrzeugbesitz relativ selten.

Die private Beschaffung und der selbständige Einsatz durch den Nutzer erfordern eine hoch entwickelte Schnittstelle zwischen Nutzern und System. Das erstreckt sich über die Bedienung der Technik bis zur Organisation des Verkehrsablaufs. Weil der MIV einer breiten Menge Nutzern offensteht, müssen die eingesetzte Technik so einfach bzw. bedienerfreundlich wie möglich, die Regeln leicht verständlich und ihre Einhaltung leicht kontrollierbar sein. Dieser Aspekt ist eine wichtige Randbedingung für die Entwicklungsperspektive des MIV in der Zukunft: Die Komplexität des Systems aus Fahrzeugen, Straßennetzen und Verkehrslagen muss sich immer an den Fähigkeiten der Durchschnittsbürger und Durchschnittsnutzer orientieren. Während die Verkehrsmittel anderer Verkehrsträger, die Expresszüge, Düsenjets oder Ozeanriesen nur von ausgebildeten Spezialisten bedient werden dürfen, sollte das Kraftfahrzeug immer durch jedermann bedienbar bleiben, um nicht den Hauptnutzen zu verlieren. Ein Blick auf die Fahrzeuge, Straßennetze und Verkehrslagen der früheren Dekaden und damit auf die Entwicklung der Fähigkeiten der aktiven Straßenverkehrsteilnehmer zeigt, dass auch hier eine Entwicklung möglich ist. Nicht nur die Organisation und Technologie des MIV unterliegt einem Wandel und einer Weiterentwicklung, sondern auch die Fähigkeiten der Fahrzeugbediener im Straßenverkehr sowie der Straßenanrainer neben den Straßen.

Die systemimmanenten Freiheiten in der Abwicklung des Verkehrsablaufs gekoppelt mit der flächendeckenden Netzerschließung und die große Menge Nutzer generieren ein relativ hohes Risiko für die Sicherheit innerhalb und außerhalb des MIV. Das ist die andere Seite der Medaille. Die Freiheiten des Systems setzen ein großes Verantwortungsbewusstsein bei jedem einzelnen Systemakteur voraus, um Risiken zu minimieren, Ineffizienzen sowie Lebens- oder Sachschäden zu vermeiden. Das System des MIV ist jedoch das am schlechtesten zu kontrollierende Verkehrssystem. Jedes Lebewesen, das sich in der Nähe eines durch den MIV genutzten Verkehrswegs aufhält, ist dem erhöhten Risiko ausgesetzt, durch das Verkehrssystem zu Schaden zu kommen – selbst wenn es nicht aktiv in das System einbezogen ist. Wohl tausende Bäume oder wilde Tiere kommen jedes Jahr zu Schaden, weil Fahrzeuge unkontrolliert von der Fahrbahn abkommen – oder die Tiere beim Überqueren der Straße in ein System eindringen, dessen Sicherheitsmechanismen auf Menschen innerhalb und außerhalb ausgerichtet sind –, aber fast gar nicht auf Kröten, Igel, Wildschweine oder Rehe.


1.3.6 Wie kommt es zum Wildunfall?


1.3.7 a) Rettungsdienst im Einsatz nach einem Autounfall. b) Anzahl der Menschen, die bei Verkehrsunfällen oder den Folgen ums Leben kamen (nach Benutzung des Verkehrsmittels 2006–2007).

Der enorme Erfolg des MIV generiert weitere negative Folgeerscheinungen für Mensch, Natur und Raum. Die Beseitigung dieser negativen Wirkungen wird seit Jahrzehnten angestrebt. Bei allen Erfolgen lässt sich eine Gesetzmäßigkeit jedoch kaum überwinden: Wenn die Aufwände der Schutz- und Vermeidungsmaßnahmen den Systemnutzen gefährden, wird im Regelfall für das Verkehrssystem entschieden. Lärmschutz, Tierschutz oder Luftqualität müssen in aller Regel dem Systemnutzen untergeordnet werden. Um Verkehrslärm zu vermeiden, kann man Wände bauen oder durch Fahrverbote und Einschränkungen die Verkehrsbelastung eines Verkehrswegs reduzieren. Hunderte Kilometer Lärmschutzwände zeugen davon, welcher Alternative der Vorzug gegeben wird. So bleibt festzustellen, dass alle – Nutzer und Außenstehende, Natur und Raum – einen Preis für die Vorzüge des MIV zu zahlen haben. Die Höhe des Preises legen die Nutzer durch ihr Verhalten fest – und sorgen leider oft unbewusst und unbeabsichtigt dafür, dass der Preis höher ist, als er eigentlich sein müsste. Kein Verbot, kein Dogma und keine Technik kann die Gebrauchsgewohnheiten und das Fahrverhalten der MIV-Nutzer bis in den letzten Winkel des Straßennetzes, rund um die Uhr und für jeden Fahrer vorschreiben und kontrollieren. Es bleibt zu hoffen, dass die MIV-Nutzer in Zukunft nicht nur lernen, mit immer komplexeren Fahrzeugen umzugehen, sondern auch die direkten und indirekten Folgen ihrer MIV-gestützten Mobilität für sich und andere zu erkennen und freiwillig zu berücksichtigen.

Das Buch vom Verkehr

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