Читать книгу Das Friedrich-Lied - 1. Buch - Henning Isenberg - Страница 9

3. Kapitel

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Es war still. Kein Mensch war auf der Burg zu sehen. Nur die Wachtposten auf den Wehren ließen regungslos ihre Blicke das Tal der Ruhr schweifen. Stille lag über der Weite jenseits des Flusses. Ein Bauer hatte seinen Ochsen vor den Pflug gespannt und versuchte den noch winterharten Boden für die neue Saat aufzubrechen.

Im Dorf am Fuße der Burg empfingen die unsicheren Blicke der Bewohner die Ankömmlinge, als sie auf dem Nierenhoferweg vorbei an der Vogelschlacht in den kleinen Ort einritten.

Oheim Dietrich grüßte die scheuen Gestalten, um ihnen die Furcht zu nehmen.

„Geht Eurem Tagewerk nach. Wir kommen in guter Absicht“, rief er ihnen zu.

Der Ort bestand aus einer Straße, die entlang der Ruhr verlief und einem Weg aus Richtung des Nierenhofes, über den sie gekommen waren, der auf eben diese größere Straße traf. Der Verbindungspunkt der beiden Straßen bildete so etwas wie den Dorfplatz, denn in dem Dreieck stand eine Eiche, die den Dorfkern markierte. Der Weg entlang der Ruhr war die Durchgangsstraße, die zum Fährhof über die Ruhr führte. Sie ritten um den Fuß der Burgberges in Richtung des Fährhofes. Auf dieser Seite befand sich der gewundene Aufstieg zur Burg. Im Vorbeireiten heftete Friedrich seine Augen an den vernachlässigten Übergang über den breiten Strom. Die Fähre war nicht mehr als ein ärmliches Floß und der Fährhofe eine morsche Hütte. Warum sind die Fähre und der Hof derart kümmerlich? wunderte sich Friedrich.

Gräfin Mathilde kniete in der kleinen Burgkapelle und blickte in Richtung des Lichtes, welches durch den ochsenblutrot getünchten romanischen Fensterbogen eine gewisse Wärme erhielt. Noch zeichnete das spärliche Astwerk des Buchenwaldes, der den Burgberg hinauf wuchs, ein filigranes dem Himmel zustrebendes Liniengewirr auf den fahlen Pergamenthimmel. Sie wusste nicht, was mehr schmerzte, ihr Nacken und die Schultern oder ihr von Gedanken gequältes Haupt. Während sie ihren Blick zum Deckengewölbe hob, fasste sie sich an die Schulter und begann sie zu kneten. Sie war der Beileidsbekundungen der Ministerialen müde. Sie schütteten ihre eigene Trauer zu. Dem gemeinen Volk hatte sie den Zugang zur Burg bereits untersagen lassen. Die Untertanen kamen doch nur um einen ledernen Gürtel oder einen samtenen Umhang zu ergattern. In dieser Welt gab es keine echte Anteilnahme. Jeder war auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Ihr Kopf war leer und doch schmerzten ihre Schläfen, nach all den Tagen der Trauer und Verunsicherung.

Ihre Augen folgten den zierlichen tiefgrünen Linien, um die sich Blattwerk im Wechselspiel mit kleinen Blüten rankte. Ja, auch draußen erwacht die Welt, dachte sie. Aber wie soll ich dieses Jahr nur überstehen?

Der Tote, der den Altarraum der Kapelle füllte, war ihr fremd geworden. Die Haut in seinem Gesicht war grau und vom Salz gedörrt, wie ein Stockfisch. Dabei lag dort der Mann mit dem sie fünf Kinder hatte. Doch Arnold hatte sie verlassen!

„Herrin“, einer der Eichenflügel der Kapellenpforte hatte sich einen Spalt weit geöffnet und Isabella die Kammerfrau der Gräfin wisperte vorsichtig durch den Spalt, „Reiter kommen. Es könnte Euer Bruder mit den Jungen sein.“

Von draußen drangen Rufe an ihr Ohr. Mathilde straffte sich. Friedrich, endlich. Du wirst mir beistehen, mir die Bürde von den Schultern nehmen.

„Einen Augenblick noch, Isabella. Ich komme.“

Nimm dich zusammen, Mathilde. Nimm dich zusammen, wie du es immer gemacht hast. Eilig wechselte sie die Position und kniete vor dem Aufgebarten nieder. Flüchtig bete sie das Vaterunser herunter. Dann stand sie auf. Zum Abschied lies sie einen Blick über die sterblichen Überreste ihres Mannes schweifen. Dann verließ sie das Gotteshaus. Die Wachen hatten auf den Wehrgängen Aufstellung genommen und beobachteten die Reiter. Unruhe kam auf dem Wehrgang auf. Offensichtlich hatten die Wachen die Ankömmlinge erkannt. Als sie durch das hölzerne Torhaus in die Unterburg einritten, hatten sich die Wachsoldaten in einer Mischung aus Neugierde und grüßendem Anstand zu einem Spalier aufgebaut. Wild aussehende Kriegsknechte, schmutzige Laufburschen und füllige Mägde mischten sich dahinter zu einem bunten Gewirr. Zur linken Hand sah Friedrich die Zehntscheuer. Durch die geöffneten Türen und Fenster zwängten sich Menschen und riefen und winkten. Freuten sie sich etwa oder war es die schiere Schaulust nach einem öden Winter? Friedrich blickte nach rechts und sah Dietrich. Dieser schien ebenso ungläubig wie er selbst umher zu blicken. Über Dietrichs Profil hinweg sah er den Wachturm mit den Unterkünften der Mannschaften. Von den hölzernen Wehrgängen winkten, riefen und glotzen die, die keinen Blick aus dem Hof zu erheischen glaubten. Gestiefelte, kettenbewährte, barfüssige oder mit Holzpantinen gesegnete Füße zertraten den Boden im halb gefrorenen Schlamm der Unterburg. Lederne Hauben oder solche aus einfachem Leinen wippten auf und ab, wohl, dass ihre Träger einen Blick auf die jungen Herren von Altena zu Isenberghe erhaschten. Schließlich war irgendeiner der Reiter ihr neuer Herr. Keines der Gesichter, in das Friedrich blickte, kam ihm bekannt vor. Er fühlte sich verloren im Angesicht der gaffenden Menge. Furcht stieg in ihm auf. Oheim Dietrich hingegen schien das Gesinde völlig ungerührt zu lassen. Unsicher, als wünschte er sich dort hin, richtete Friedrich seinen Blick dem weißen Palas, unter dem ein Torbogen die Verbindung zwischen Unter- und Oberburg bildete, entgegen. Endlich hatten sie das Spalier verlassen und den Torbogen erreicht. Friedrich und auch Dietrich atmeten auf. Sie schauten sich an und lächelten einander erleichtert an. Im Hof der Oberburg waren ebenfalls Menschen, wenn auch wenige, versammelt. Endlich erkannte er die Gesichter. Da waren Aelred, der Knappe seines Vaters, Gundalf und Gerulf, die Zwillinge, Wilbold und Ortliv, der Augen wie ein Falke besaß. Daran erinnerte er sich, seit ihn der Vater, kurz bevor er nach Sankt Gereon gekommen war, mit auf die Jagd genommen hatte. Das einzige Mal und doch eine feste Größe in der Erinnerung an die Zeit mit seinem Vater. „Friedrich,… Dietrich“, hörten sie Kinderstimmen rufen, und schon hängten sich Kinderhände an die Steigbügel und Stiefel. Es waren Wilhelm und Gottfried, ihre kleinen Brüder, die versuchten, sie vom Pferde zu zerren. Dietrich sprang vom Pferd. „Ihr beiden!“ Vor Freude umarmten sich die fünf Brüder. Wo ist die Mutter?, dachte Friedrich. Warum ist sie nicht da? Gerade als er sich umschauen wollte, öffnete sich die Pforte zu Freitreppe des Palas. Er erkannte Isabella die Zofe seiner Mutter. Den Moment, den ein Pfau benötigte sein Rad zu schlagen, später, trat seine Mutter ins Freie und verweilte eine kurze Weile auf dem kleinen Plateau, um den Hof mit prüfendem Blick abzusuchen. Seine Mutter war eine große, stämmige Frau mit einem hübschen Gesicht. Als sie die Jungen erblickte, meinte er ein Lächeln über ihren Mund und ihre Augen huschen zu sehen. In würdiger Haltung stieg sie durch das Gehäuse der Freitreppe herab. Sie hatte die Vierzig noch nicht erreicht – doch war sie jetzt älter, als er sie von vor zwei Jahren in seiner Erinnerung hatte. Zwei Jahre war ich nicht mehr hier. Mathilde betrat den Burghof und näherte sich ihrem Sohn. Friedrich erschrak. Ihr blondbraunes, dichtes Haar war matter geworden und von einzelnen grauen Haaren durchzogen. Die Trauer und die Not hatten tiefe Gräben und schwarze Augenringe in ihr Antlitz gezeichnet. Aber das sah nur der, der sie genau anschaute. Doch diesen Blick gewährte sie nur wenigen, die sie ihrerseits nicht durch einen durchdringenden Blick in ihre geziemlichen Schranken wies. Immer schon, so lange sich Friedrich seiner Mutter erinnern konnte, ermahnte sie ihre Familie und sich selbst am meisten, Haltung zu bewahren. So kannte Friedrich sie. So hatte sie diesen zurückhaltenden Zug in ihre Familie eingepflanzt und so war er, Friedrich, nun selbst voll dieser äußeren Beherrschtheit, während er den inneren Sturm kaum im Zaume halten konnte. Dies war es, was er oft genug in sich verspürte, wenn er zurück schreckte, obwohl er voran gehen wollte. Die Kirchenjahre hatten dem mütterlichen Erbe seiner ersten sieben Lebensjahre noch das ihre hinzugefügt. Ahnungsvoll bemerkte Mathilde das Zögern ihres ältesten Sohnes und mutmaßte, dass es wohl den von ihr gesäten Gedankenschatten, geschuldet war. Ihre Strenge hielt sie für angebracht, so wusste sie nicht, dass eine liebende Hand eine Änderung im Wesen Friedrichs hätte hervorbringen können. Dabei war er ihr erster Sohn, ihr erstes Kind mit Arnold überhaupt. Everhard, der älteste Sohn ihres Mannes war nicht ihr Sohn gewesen. Und, wäre Friedrich vor zwei Jahren an seiner Stelle gestorben, sie hätte sich das Leben genommen. In ihn, Friedrich, legte sie all ihre Hoffnung und Wünsche. Ihn hatte sie täglich in ihre Gebete eingeschlossen. Für ihn hatte sie Gott beschworen, dass er es zu hohen kirchlichen Würden bringen sollte. Umso stärker hatte sie ihre Not verbergen müssen, als Friedrich nach Everhards Tod aus der Kirche ausschied und in den Waffendienst ihres Bruders aufgenommen worden war. Sie hatte die männlichen Ränkespiele satt. Sie hasste das Waffengeklirre, das derbe Schuhwerk, den Krieg, den Geruch von Blut und Eisen und die ungelenken Bewegungen der verkrüppelten Heimkehrer, die fortan die Vergänglichkeit ins Tagesbild einpflanzten. Die Männer, Väter und Brüder, die nie heimkehrten, und die im Laufe ihres Lebens wie eine schwere Last die Frauen und Kinder drückten, ohne dass sie es unter den Anstrengungen des Tages merkten. Auch in ihre Familie, in die sie ohne Ahnung eingeheiratet hatte, hatten die Kriege und Kreuzzüge bereits einen traurigen Zug geprägt. Der Tod ihres Mannes konnte sie keines Besseren belehren: War es nicht der Krieg gegen die Ketzer im Süden, der ihr nun den Mann genommen hatte? Ein dunkler Schatten legte sich wieder über ihre Miene. Als erster bemerkte Dietrich das Zögern der beiden und nutzte die Gelegenheit auf seine Mutter zuzustürmen. Wie ein Hungriger sich auf einen Schinken stürzte, umklammerte er den Mutterschoß. Doch anstatt den Jungen willkommen zu heißen, wie es eine Mutter tut, schloss sie kurz die Hände um Dietrichs Kopf, um ihn im nächsten Moment an den Schultern zu fassen und ihn mit den traurig klingenden Worten, „sei gegrüßt, mein kleiner Dietrich“, auf Distanz zu bringen. Wenigstens strich sie ihm über das Haar, als Dietrich sich verstört abwendete. Die Begrüßung hatte er sich anders ausgemalt in den Tagen der Reise. „Seid gegrüßt, Mutter!“ Friedrich, der vom Pferd gestiegen war, sah sich genötigt den peinlichen Moment der Stille zu füllen. Seine Mutter kam auf ihn zu und drückte ihn an sich. Doch er konnte die Umarmung nicht erwidern. Er wollte seinem Vorbehalt gegen die Mutter gerade neue Nahrung geben, doch bemerkte er, dass Mathilde Halt bei ihm suchte. Wie selbstsüchtig ihn die Schatten seiner Mutter doch machten. Der Vater, ihr Mann, war tot. Sie hatte wahrlich einen Grund Halt zu suchen. Der Vorwurf gegen sich selbst, ließ Friedrich dann doch seine Arme heben und seiner Mutter Halt geben.

In den letzen Tagen hatten die Lehensleute der Umgebung dem Toten einen letzten Besuch abgestattet und auch die Handwerksleute aus dem Dorf Hattingen und der Burgsiedlung hatten ihrem Herrn die letzte Ehre erwiesen. In großen Gesten hatten sie alle den Tod beklagt und die Gerechtigkeit des Grafen als Landesherrn gepriesen.

Gräfin Mathilde hatte in den vergangenen zwei Wochen, die Verteilung der materiellen Hinterlassenschaft des Grafen von Altena zu Isenberghe übernommen – eine Aufgabe, die sonst dem Sterbenden vor seinem Tod selbst zukam.

Doch im Falle des Grafen von Isenberghe war der Tod plötzlich und im Fernen Languedoc gekommen. Wie hätte der Graf da den Getreuen und Armen selbst seine Kleider spenden und seinen hinterbliebenen Kindern seine Besitzungen und Gerätschaften zuteilen können?

In all ihrer Trauer gab Mathilde allein der Gedanke Kraft, dass sie ihren Mann im Kreise der Familie besetzen konnte.

Schon bei seinem Kreuzzug ins Heilige Land im Jahr des Herrn zwölfhundertvier hatte sie im Traum gesehen, dass er, wie viele andere Kreuzfahrer, einfach fort blieb – ohne einen Abschied. Nun war der Tag, den sie im Stillen gefürchtet hatte, gekommen.

Sie konnte Abschied nehmen. Das war das Tröstliche an diesem Tod. Unendlich dankbar war sie Aelred, obwohl er ohne Rang war, dass er sich auf das Totenamt derart gut verstand.

Das Salz hatte der Haut jegliche Flüssigkeit entzogen, so dass das Gesicht eingefallen war und die Haut grau-grün und ledern glänzte. Doch Spuren der Verwesung – schließlich musste sein Vater eingedenk des Transportes aus dem Languedoc nun mehr als vier Wochen tot sein – konnte Friedrich nicht ausmachen, als er den Toten in dem freundlich hergerichteten Kirchenraum betrachtete.

Die Sorgfalt, mit der seine Mutter die Kapelle hergerichtet hatte, die Blumen und Kränze, die achtsam um den toten Vater gelegt waren, das Licht, das der kleinen Halle durch die Reflexion der bordeauxfarben getünchten Erker eine weiche Wärme verlieh, versöhnten Friedrich ein Stück weit mit der schroffen Mutter. Denn sie war es, die die Kapelle nach ihren Vorstellungen hatte gestalten lassen. Und diese Tage waren ihre Tage. Waren die Tage, in denen sie von ihrem Mann Abschied nahm. Eine Ahnung für das Leid der Mutter legte sich auf seine Abneigung und Wut. Doch warum sollte er an den Tod denken?

Er war jung. Er lebte, er würde noch lange leben. Er hatte mit dem Tod nichts zu tun. Vor zwei Jahren hatte der Vater einfach verfügt, dass Friedrich in die Obhut Dietrichs von Cleve kam, wo er auf ein weltliches, ritterliches Leben vorbereitet wurde. Zwei Jahre – nie war er gekommen, um nach seinem Thronfolger zu sehen. Nie hatte er ein Wort für ihn. Zwei Jahre. Dieser Vater hatte ihn schon damals verlassen, ohne ein Wort, ohne dass sie sich kannten, ohne dass er ihm weisen Rat mit auf den Weg geben hatte. In Friedrichs Kindheit hatte er sich um seine Geschäfte, um den Bau der neuen Burg gekümmert. Er war auf Feldzügen mit dem großen Barbarossa gegangen. Und wenn er sich um seine Kinder gekümmert hatte, dann nie um ihn, Friedrich, sondern stets um Everhard, der ihm nachfolgen sollte. Dachte er an den Vater, so war da nicht viel mehr als diese Taten. Nein, wäre dieser Vater eine wirklich wichtige, mächtige, gar beherrschende Figur in seinem Leben gewesen, so wäre ihm doch mehr dazu eingefallen. Eine Insignie von Macht und Herrschaft hat er hinterlassen. Einen ehedem sicheren Platz, der nun verwaist war, der gefüllt werden musste. Durch ihn. Auf keinen Fall wollte er das. Nicht jetzt.

Um das Wohl der Familie machte Friedrich sich keine Sorgen, denn die Grafschaft erhielt Einnahmen aus wohlhabenden Reichsstifte Essen, anderen Vogteien und dem Erbland.

Doch die Verantwortung für die Verwaltung und den Schutz der riesigen Ländereien bereitete ihm Kopfzerbrechen. Immerhin handelte es sich um nichts weniger als die Ländereien, Burgen und Höfe im Norden und Westen sowie die Grafschaft Bochum. Dies allein stellte schon eine erhebliche Verantwortung dar. Doch damit nicht genug. Aus dem Besitz seines Vaters im Osten ging die Burg Nienbrügge mit der Stadt, dem Fährhof über die Lippe und den Grafschaften Hœvel und Heesen an ihn über.

Sollte das etwa eine Gnade sein?! Gott bewahre. Nein, eine Last war dieses Erbe!

Vor zwei Jahren den Kirchenmauern entronnen und jetzt die ritterliche Welt in sich aufzusaugend, waren es andere Dinge als das Ausfertigen von Privilegien, das Abhalten von Gerichten oder die Bemessung des Wegezolls für die Straßen und Furten der Grafschaft, die ihn interessierten. Er wusste nicht, was zu tun wäre. Und nun sollte er eine Grafschaft regieren? Unmöglich! Dies hätte Everhard, sein älterer Halbbruder übernehmen sollen. Nicht er! Aber Everhard tot. Nicht sein Problem.

Er wehrte sich gegen die Aussicht, sich von nun an bis an das Ende seiner Tage um die Geschicke seiner Grafschaft zu kümmern. Und es machte ihm Angst, was ihm in den nächsten Tagen bevorstand.

Er wollte auf Ritterfahrt gehen. Wie er ein Schwert zu führen hatte, das wusste er nun. Er würde es tun. Auch gegen den Willen der Mutter.

~

Friedrich konnte dem Tod nicht ausweichen – zumindest nicht in diesen Tagen. Er war allgegenwärtig, der Tod. Die Burg und scheinbar die gesamte Grafschaft waren von ihm in ihren Bann gezogen. Selbst die allmählich eintreffenden Trauergäste schienen, sobald sie ihr Lager, sei es am Fuße der Burg oder in den Mauern derselben, bezogen hatten, in dieselbe Lethargie wie der gesamte anwesende Hof zu verfallen.

Es war die Ironie des Umstandes und wie er zu wissen glaubte, sein Glück, dass er, Friedrich, mit dem Tod im Gepäck dem Kummerort entfliehen konnte.

Von seiner Mutter war ihm aufgetragen worden, die sterblichen Überreste des toten Vogts des Stifts Essen-Werden zu überführen.

Es hatte eine besondere Bedeutung, dass Arnold, wie sein Vater und dessen Vater, in Essen beigesetzt wurden. Die reiche Vogtei war eine leibliche Vogtei. Die Grafen von Altena unterstrichen ihren Anspruch auf die Erbvogtei, indem sie das Stift, seit dem es ihnen vor mehr als hundert Jahren übertragen worden war, als Grablege der Familie gewählt hatten. Damit war die Familie durch ihre Toten untrennbar mit dem Stift verbunden.

Friedrich nahm Wiebold und Aelred, die beiden Knappen seines Vaters, sowie Gerulf und Gundalf, die beiden Zwillinge, mit auf den Zug nach Essen.

Sie setzten am kleinen Fährhof über die Ruhr und reisten über freies Ackerland Richtung Norden. Auf der Reise begegneten ihnen viele Bauersleute, die unverzüglich stehen blieben oder von ihrer Arbeit abließen und sich vor dem Sarg verneigten.

Scheinbar, so dachte Friedrich, haben sie den Vater geachtet. Aber warum muss ich ihn so entwerten, den Vater? Ist es die Angst vor dem eigenen Verderben, die ich fort schieben will? Ist es das Gefühl der Einsamkeit, das sein Tod hinterlassen hat? Oder ist es die Last, die ich seit der Nachricht von seinem Tod auf meinen Schultern spüre?

Ihm wurde bewusst: Nicht den Vater beklagte er. Nein, er selbst war es, den er betrauerte. Er schämte sich seiner selbstsüchtigen Gedanken. Doch es zog ihn hinaus in die Welt. Er konnte und wollte dies nicht vor sich leugnen.

Als sie den Hellweg erreichten, wendeten sie sich nach Westen und reisten auf der komfortablen Heer- und Handelsstraße weiter.

Von Bochum aus schickte Friedrich Gundalf zum Essener Stift, welches aus dem Essener und dem Werdener Kloster bestand, um ihr Kommen anzukündigen.

Gulda von Gerresheim, die Äbtissin, und ihre Mitschwestern, empfingen den Tross, als er gegen Abend in den Klosterhof einzog.

Seid gegrüßt, Herr.“

Seid gegrüßt, Schwester.“

Wir haben die Tumba in der Kirche“, dabei deutete sie die rechte aus der linken Hand lösend in Richtung des Gotteshauses, „hergerichtet. Dort könnt Ihr Euren Vater umbetten.“

Ich danke Euch, Schwester Gulda.“

Ihr könnt das Vogteizimmer Eures Vaters bewohnen, Herr Graf. Wollt Ihr es gleich oder später sehen?“

Nein, danke, später. Wir werden erst den Toten umbetten.“

Gut, dann sehen wir uns später.“ Gulda verbeugte sich und mit ihr die anderen Schwestern.

Ladet ihn ab und bringt ihn in die Kirche“, wieß Friedrich Aelred und die anderen an.

Als das Werk der Umbettung vollbracht war, richteten sie sich wie ihnen geheißen im Kloster ein.

Der Klosterbezirk bot einigen Komfort. Aelred, Wiebold, Gerulf und Gundalf konnten in der Unterkunft der Wachmannschaft nächtigen. Friedrich legte seine Habe in der Vogtei ab. Allerdings würde er hier kaum Zeit verbringen. Ihm allein Friedrich war es vorbehalten, die nächtliche Totenwache am steinernen Sarg in der Stiftskirche von Werden zu halten.

Erstmals, als er allein auf die steinerne Tumba, die seinen Vater barg, blickte, ließ er den Gedanken zu, dass der Tod auch zu ihm kommen konnte. Schneller als erwartet. So, wie er zu Everhard in dessen achtzehnten Jahr gekommen war. Er war jung. Doch, ... würde einst der Tod unweigerlich auch zu ihm kommen. Furcht ergriff ihn, ebenso wie ihn die Kraft verließ, die er stets allein dadurch gespürt hatte, dass der Vater da war. Sein Fall führte ihm die eigene Aussicht vor Augen. Wohin gehen wir, Vater? Wohin?

Kann ich mich des Lebens nicht einfach erfreuen!?“, er ließ beide Hände auf den Sandstein niedersausen, dass es nur so klatschte. Doch der große Sarg schwieg. Das dämmrige Licht, welches durch die Fenster drang, färbte sich silbrig und blau wie kalter Stahl, als der Mond aufging. Er kletterte hinauf und legte sich der Länge nach mit dem ganzen Körper, die Arme ausgebreitet, auf die große Truhe. So, als wolle er den Vater umarmen. Doch Friedrich spürte, dass weder der Sarg noch der gesamte Ort Leben verströmte. Nur unendliche Leere füllte die kalte Halle. Der Vater hatte ihn verlassen. Er, nur er, barg das Leben an diesem Ort.

Er wusste nun nicht mehr, ob er seinen Vater liebte. Natürlich liebte man seinen Vater. Aber Friedrich wusste nicht, ob ihm dieser Mann, über den er nun wachte, – ob ihm dieser Mann wirklich vertraut war.

Wer warst du, Vater, dass ich so traurig bin?“, flüsterte er zu sich. Er schwankte zwischen Hass darüber, dass Arnold ihn ohne einen Rat und Förderung, ohne ein Anliegen an ihn verlassen hatte, und Trauer, deren tieferen Anlass er nicht zu ergründen wusste.

Missmutig und schweigsam erwartete er am nächsten Tag am Tor des Klosters stehend – es war der letzte Sonntag im März des Jahres zwölfhundertneun, der Tag der Heiligen Cornelia – den Zug der Trauergemeinschaft, der ihnen von Isenberghe nachfolgte.

„Jeder Tod macht das Leben feiner und zarter“, begann Friedrichs Oheim, Adolf von Altena, der nun ebenfalls aus Neuss herbeigekommen war, die Totenmesse. Es waren viele erschienen – natürlich Dietrich von Cleve, der Friedrich und Dietrich hergebracht hatte, die Herren von Berghe, Altena, Arnsberghe, Tecklenbourg, zur Lippe und viele andere Grafen des Umlandes. Je nach Rang und Zugehörigkeit zu dem Toten ordneten sich die Reihen bis auf den letzten Platz der Kirche. Friedrich stand nahe bei dem Sarg, auf dem sich das Lichtspiel einer Birke traf. Wie von heiterer Melancholie angetrieben, warf sie durch die bunten Fenster des Querschiffes von draußen ihre eigentümlich munteren Schatten in das Innere. Die Darstellung des christlichen Kreuzes, der Weltesche Yggdrasil sowie das Wappen der Rose, das Zeichen der Gralslinie, verzierten den Ruhrsandstein der übermächtigen Tumba in vollendeter Handwerksarbeit.

Während Adolf die Totenmesse hielt, entrannen Friedrichs Gedanken beim Betrachten der feinen, kunstvoll verwobenen Formen immer wieder der eigentliche Zweck seines Hierseins. Trauer umfing ihn lediglich durch den getragenen Ton, in dem sein Oheim die Worte der Andacht sprach. Er schmiedete Pläne für seine Zukunft.

Als die Messe vorüber war, versammelte sich die Trauergemeinde im Innenhof des Konvents. Ein leichter Wind strich über den kleinen Platz, doch die ersten Sonnenstrahlen des Jahres wärmten die Gemeinschaft. Der Totenschmaus wurde gereicht und die verbliebene Gesellschaft verteilte sich in kleinen Grüppchen im Hofe. Die Menschen vertieften sich ins Gespräch, während August, der Spielmann, mit angemessen trauriger Miene die Harfe anschlug.

Friedrich betrachtete die Szenerie. Die Nähe zu dem Anlass ihres Hierseins fehlt ihnen, dachte er verächtlich, stattdessen wetteiferten sie um die trefflichste Neuigkeit aus der hohen Politik.

Trotzig schlenderte der junge Höfling zwischen den reich und farbig gekleideten Herren umher. In der Haltung, der Kleidung und den Gesichtern wog Friedrich, wen er hoch schätzte und wen nicht. Er bewertete. Von Cölln waren viele Geistliche in das Frauenkloster herüber gekommen. Wenig konnte er den Zurückhaltenden, Verschlossenen, den Verkopften, den scheinbar Unklaren, den Gebückten oder den schlicht Gekleideten, die vornehmlich unter eben diesen Geistlichen oder den Ministerialen zu finden waren, in seiner Rangliste zu Gute halten. Im Geiste schlug er drei Kreuze, dass ihm ein anderes Schicksal vorbehalten war.

Hingegen gefielen ihm die Entschlossenen, die Aufrechten, die Stolzen und die Furchtlosen. Er straffte sich und ahmte die Haltung dieser Männer nach. Eine Ausnahme, allerdings, machte er bei einem älteren, stattlichen Zisterzienserabt, dessen Namen er nicht kannte, der aber in einer Gruppe um Dietrich von Cleve und Adolf von Berghe stand. Friedrich kratzte sich ungelenk am Kopf und schlenderte hinüber.

„Der Welfe zieht nun durch die Lande, nachdem er zu Würzbourgh den Landfrieden beschlossen hat.“

Der Abt meinte den Welfenkönig Otto IV. von Braunschweig, der nun durch das Reich zog, um die Städte und Burgen auf den Landfrieden schwören zu lassen. Soviel hatte er am Clever Hof aufgeschnappt, dass er wusste, dass Otto von Braunschweig im Sommer zwölfhundertacht zu Francfourth zum König der Deutschen Lande gewählt worden war, nachdem sein Widersacher Philipp von Schwaben vom Grafen von Wittelsbach wegen eines Eidbruchs ermordet worden war.

„Er macht seine Sache nicht schlecht. Er lässt wenigstens seinen Versprechungen Taten folgen. Er macht den Menschen Hoffnung auf Schutz und sichere Zeiten. Den Räuberischen unter den Adeligen und dem Gesindel, das die Straßen unsicher macht, macht er den Garaus. So nimmt ein mancher Edelgeborene wieder den Pflug in die Hand. Und viele von denen, die nicht schwören wollen, findet man ohne Hosen vom Winde ausgedörrt am Galgen baumeln“, bestätigte Friedrichs bergischer Großonkel, Graf Adolf, der Bruder von Engelbert. Letzter war inzwischen zum Domprobst zu Köln aufgestiegen.

In der Tat. Der neue König regelte den Wucherzins, schaffte die überhöhten Wirtshauspreise ab und Einiges mehr. Überall setzte rege Bautätigkeit ein. Erzadern wurden gemutet. Städte erblühten im Schutze ihrer neuen, starken Ringmauer. Dem Adel verlieh er das Befestigungsrecht ihrer Burgen – vor allem in Sachsen und Schwaben. Denn Sachsen hatte wenige Städte und stand zudem unter der Regentschaft eines unsicheren Kandidaten – seines eigenen Bruders. Schwaben hingegen war Stammland der Staufer – des Erzrivalen. Hier wollte er den Adel durch Privilegien und den Aufbau der Städte für sich gewinnen. Denn die befestigten Flecken waren leicht zu beherrschen, während das Land kaum zu kontrollieren war und meist unter der Aufsicht eines eigenwilligen Edlen stand.

„Ja”, wandte Ado von Altena, Friedrichs feister Cousin, der noch auf der Stammburg der Familie residierte, ein, „das sieht alles ganz wunderbar aus. Nur frage ich, wo bleibt der Adel, wenn die Städte durch des Königs Unterstützung an Macht und Ansehen gewinnen? Er schmeichelt sich bei den reichen Kaufleuten, von denen er Geld erwartet, und beim Klerus, der ihn zum Kaiser machen soll, ein. Es geht hier nicht um Frieden oder Gerechtigkeit, es geht um den Hochmut des welfischen Anspruchsdenkens.”

Ado probiert sich aus in der Redekunst, musterte Friedrich seinen Vetter. Er will so reden wie die Gestandenen. „Es wird ihm heute nicht um das Geld der Bürger gehen“, wandte Simon von Tecklenbourgh überhart gegen den jungen Ado ein. „Er gründet Städte und privilegiert die Bürgerschaften, weil sie den Frieden garantieren können und wollen. Viele der Adligen sind zu Raufbolden und Tunichtguten verkommen, denken nur an Mehrung ihres eigenen Vorteils und nehmen die ihnen zugedachte Rolle im Reich nicht mehr wahr.“ Ado lief rot an und schluckte. Friedrich war der eigene Cousin, der sich gerade aufplustern wollte, unsympathisch. Schwach erinnerte er sich der ersten gemeinsamen Jahre auf Altena, wo sie beide das Licht dieser Welt erblickt hatten, bevor Arnold, Friedrichs Vater die Burg, die der ganzen Sippe zu eng geworden war, nach Isenberghe verlassen hatte. Er sah Ado, wie er schon damals danach trachtete, Gesinde und Vieh unter seine Knute zu bekommen. Auch Dietrich war nicht entgangen, dass der Pfeil Simons den aufbrausenden Jüngling getroffen hatte. Schnell ergriff er das Wort, bevor der erregte Ado Unheil anrichten konnte. „In der Tat, der König richtet alle Kräfte darauf, vom Papst in Rom die Kaiserwürde zu empfangen. Wie es heißt, beschwichtigt er auch den süddeutschen Adel durch seine Verlobung mit Beatrix von Staufen.“ Dietrich machte eine Pause. „Sicherlich verfolgt sein Handeln einen höheren, absichtsvollen Anspruch. Aber seht Ihr nicht, dass das Land nach mehr als zehn Jahren Krieg, den Frieden bitter nötig hat?” „Das ist recht“, sprach Adolf von Berghe, „doch geht der Frieden zu unseren Lasten. Die Position des Adels ist in Gefahr – das Geld, die Städte…“, pflichtete er Ado bei und wollte eine bedeutungsvolle Kunstpause einlegen. Als er sah, dass Ados wulstige Lippen beginnen wollten, Worte zu formen, setzte Adolf von Berghe seine Rede fort, während Ado verzweifelt und unwillig nach Luft schnappte. „… Und, im Süden mag es wohl so aussehen, als seien die Grafen befriedet. Doch sehe ich dort, dass der Zorn der Wittelsbacher und Andechser durch das Massaker, das der König in ihren Reihen für die Sühne am Mord Philipps, dem Staufer, angerichtet hat, nicht besänftigt ist.” Der mächtige Abt schmunzelte. Er hatte die Reizbarkeit Ados erkannt und begann seinen Spaß mit ihm zutreiben. „Warum, werter Graf, folgt Ihr dem König nicht zur Krönung nach Rom, um ihn im Reich zu stärken?!“ „Hin und Her“, sprang Simon von Tecklenbourgh, der die Ausbrüche Ado zu kennen schien, hastig ein, „endlich herrscht doch Klarheit. Es gibt einen König. Nach zehn Jahren. Der Welfe ist aus dem Norden. Einer von uns. Nach dem langen Krieg zwischen Welfen und Staufern haben wir jetzt die Gelegenheit, für unseren König zu streiten und die staufische und welfische Partei zu einen. Ja, es gilt den ewigen Widerstreit endlich beizulegen.” Simon und Dietrich versicherten sich ihrer, in dem sie sich einen kurzen Blick zu warfen. Friedrich stand im Rücken des jungen Ados und Adolfs von Berghe. Interessiert verfolgte er jedes Wort. „Der König hat den Klerus und Adel hinter sich. Er ist bald bereit, Deutschland zu verlassen, um in Rom vom Papst die Kaiserkrone zu empfangen. Sobald es meine Geschäfte erlauben, werde ich selbst nach Italien ziehen und Otto meinen Dienst erweisen.” Friedrich schnürte es den Hals zu und seine Ablehnung kippte. Sein Herr, der so voller Willen und Überzeugung sprach, der von Tatendrang und Heldenmut erfüllt war. Diesen Herrn, der nach Italien ziehen wollte, diesen edlen Herrn, seinen Oheim, wollte er begleiten. Das war es, wofür er die letzten zwei Jahre seiner Knappenschaft am Hof zu Cleve ausgebildet worden war. Sein Trotz war nun endlich der Begeisterung für die großen Weltenworte gewichen. Plötzlich jedoch erstarrte er. Sein Blick hatte die Augen Dietrichs gekreuzt und Friedrich bemerkte erschreckt, dass dieser ihn unvermittelt mit einem Blick wie ein Schwert bannte. Offensichtlich hatte Dietrich das Feuer, welches in seinen Augen loderte erkannt. Friedrich konnte nicht anders, als den Blick als einen schweren Verweis seiner unmäßigen Abschweifungen wegen aufzufassen. Er schämte sich seiner mangelnden Maze. Er schämte sich, sich nun scheinbar in nichts mehr heimisch fühlen könnend. Nicht einmal in der Andacht und Zucht, die noch vor nicht all zu ferner Zeit zum Inhalt seines Tagewerks zählten. Verschämt schlug er die Augen nieder und wandte sich von der Gruppe ab. Warum durfte er bei den Gesprächen der Herren nicht zuhören, geschweige denn teilnehmen? Eine Mischung aus Demütigung und Pein beschlich ihn. Zu allem Überfluss spürte er eine Hand auf seinem Haarschopf. „Wie groß du geworden bist, mein Junge!“ Friedrich entzog sich dem Übergriff und sah, dass es Adolf von Altena, sein Vaterbruder und anderer Oheim, neben Dietrich, war, der ihn so kindisch behandelte. Den meisten Erwachsenen reiche ich bis zum Kinn. Warum behandeln mich alle wie ein Kind?, dachte er verärgert. „Oh, Oheim Adolf“, entwich es seinem Mund und um nicht unhöflich zu erscheinen und seinen ablehnenden Gesichtsausdruck zu überspielen, fragte er schnell etwas, das ihm zuvor durch den Kopf gegangen war. „Wer,…, wer ist der große Abt dort drüben, Herr?“ „Das“, Adolf schaut mit einer langsamen Drehung des Hauptes zu dem Mönch hinüber, „ist Bernhard zur Lippe, der Abt im Kloster Marienfeld. Er war ein Fahrensmann der Welfen und war mit deinem Vater im Heiligen Land, bevor er nach dem Kreuzzug mit vielen anderen Herren Westfalens das Kloster gründete, in dem er nun Abt ist. Ein streitsüchtiger Geselle war er einst.“ Adolf rümpfte die Nase. „Ah, so“, unbeholfen nickte Friedrich, der Meinung, dass Adolf das Gespräch über Bernhard zur Lippe nicht vertiefen wollte, seinem Oheim zum Dank zu und stolperte weiter, als sich ein hoher Geistlicher, den Friedrich ebenfalls nicht kannte, mit einer einladenden Geste auf seinen Oheim zu bewegte. Er war froh, dem Oheim entronnen zu sein. Jeder Kontakt mit ihm war ihm unangenehm. Adolf war niemand, der es verstand, eine natürliche, menschliche Nähe herzustellen. Stets verspürte Friedrich zudem den Verdacht, dass sein Oheim wissen wollte, was er tue. Andererseits schien er selbst der einzige zu sein, der Mitleid mit dem abgesetzten Erzbischof hatte. Es ging dem Oheim nicht gut; das sah er seinem Vaterbruder an. Denn mit dem Tod des Staufers, Philipps von Schwaben, gehörte er zu den Verlierern des Umschwungs in deutschen Landen.

Vor seinem Wechsel zu den Staufern herrschte im Rheinland und in Westfalen Friede. Er, Adolf, war als Erzbischof die Stütze der Welfen gewesen. Klar, er wollte die erzbischöfliche Würde nicht abgeben. Doch nun hatte König Otto dafür gesorgt, dass der welfentreue Bruno von Sayn das Erzbistum bekam. Seither litt Adolf unter seiner Absetzung. Die Schmach war unerträglich für ihn. Doch sein Wechsel zum Staufer, Philip von Schwaben, hatte einen Keil in das Rheinland und auch Westfalen getrieben. Friedrich fühlte seine Zerrissenheit. Sein Vater war, wie fast alle weltlichen Fürsten, den Welfen treu geblieben. Daran hatte auch der Wechsel Adolfs nichts geändert. In der Familie war nur Adolf von Berghe zu Philipp von Schwaben gewechselt. Ansonsten stand Oheim Adolf allein da. Im Domkapitel allerdings hatten viele Amtsträger auf die Gunst des mächtigsten Kirchenfürsten im Nordreich, der Adolf als Erzbischof von Cölln lange Zeit gewesen war, gehofft und waren ebenfalls zu den Staufern gewechselt.

Friedrich verließ den Innenhof durch einen Torbogen und ging in den Klostergarten, der fast bis zum Ufer der Ruhr reichte. Er blickte auf ein Dorf auf der anderen Uferseite des Flusses. Es war zum Greifen nahe und lag malerisch verschlafen am Fuße des Bergischen Landes. Aus Süden, von den Waldbergen herunter, flutete die sanfte Frühjahrssonne in das Land und wärmte sein Gesicht, während es von den Waldschluchten und dem Flusse noch kühl zu ihm herüber drang.

Gibt es einen Zweifel? Hatte der Welfe die deutschen Lande befriedet, so tobte einzig hier am Rhein der Streit um das Erzbistum und teilte den Adel in Welfen und Staufer. Nein. Friedrichs Entscheidung war klar. Die Würfel liegen für die Welfen. Er musste als Weltlicher seinen König unterstützen – auch wenn Adolf ihn drängte, zum Staufer zu wechseln. Das war Kirchenpolitik und er war froh, ihr entflohen zu sein. Überdruss verspürte er gegenüber dieser immer anwesenden, heiligmäßigen Verlogenheit. Letztlich ging es um nichts anderes als Macht. Plötzlich erinnerte er sich des strafenden Blickes seines Mutterbruders. Der Ärger über die Zurechtweisung überwog sein Schuldbewusstsein.

Warum darf ich nicht bei den Gesprächen der Großen dabei sein? Schließlich wollen sie, dass ich meinem Vater nachfolge. Dann müssen sie mich auch so behandeln, als sei ich an seiner Stelle. Ich lasse mich nicht länger wie ein kleines Kind behandeln!

Was machst du hier?“, fragte ihn eine Knabenstimme hinter ihm. Friedrich erschrak. Er wendete den Kopf und erblickte einen edlen, in Samt und Brokat gekleideten Jungen, der vom Stift zum Ufer herunter gekommen war.

Nichts“, antwortete Friedrich trotzig.

Wie, nichts?!“

Ja, eben nichts.“

Man kann nicht nichts tun.“

Friedrich verdrehte die Augen.

Gerade schaust du zu dem Dorf da drüben. Gehört es dir?!“, sagte der Junge.

Friedrich nickte. „Ich denke, ja“, sagte er etwas unsicher. Die Fragen des Jungen bedrängten ihn. Er fühlte sich unwohl.

Wer bist du und was willst du?!“, fragte er barsch.

Otto, der Sohn des Simon von Tecklenbourgh.“

Ah“, sagte Friedrich.

Es tut mir leid – das mit deinem Vater.“

Schon gut. Habe ihn kaum gekannt“, murrte Friedrich zurück.

Oh. Verstehe. Ich kann ebenfalls nicht sagen, dass ich meinen Vater gut kenne. Ich diene, seit ich sieben bin, dem Herrn von Holte, meinem Oheim.“

Friedrich begann die ruhige und überlegte Art, wie Otto sprach, zu berühren. Ganz anders, als er selbst gab sich dieser feine Knabe.

Wie kommt es dann, dass du mit nach Isenbourgh durftest? Der Herr von Holte ist nicht anwesend, obwohl seine Tochter meinem jüngsten Bruder versprochen ist.“

Ich bin so zu sagen sein Abgesandter.“

Friedrich lachte auf. „Pah, du und abgesandt!“

Otto lächelte. „Naja, ich bin nun fünfzehn und mein Vater hat mich aus Holte zurückgeholt, um mich in seine Geschäfte einzuführen.“

Also bist du der Älteste.“

Otto nickte.

Ich auch“, sagte Friedrich, „aber ich werde nach Italien ziehen, um meinem König zu dienen.“

Oh, das ist großartig. … Hm, aber wer übernimmt dann hier die Geschäfte, wenn du es als Ältester nicht tust?“

Friedrich zuckte mit den Achseln.

Mir doch egal. Wird sich schon einer finden. …Ich muss erst die Ritterschaft erwerben, bevor ich hier meinen Platz einnehmen kann.“

Otto zeigte sich beeindruckt. „Toll, das würde ich auch gerne.“

Und, warum kommst du nicht mit?!“

Vater meint, das sei nicht mein Weg. Denn wir hatten auch schon darüber gesprochen.“

Wie, will er dem Kaiser nicht Gefolgschaft leisten?!“

Wir sind treue Fahrensleute der Welfen. Doch, so scheint es, sind wir befreit. Mein Vater sagt, er habe im Kreuzzug genug geblutet.“

Das hat mein Vater auch.“

Das ist wohl wahr!“, rief jemand aus dem Hintergrund.

Friedrich und Otto schauten sich ruckartig um. Der mächtige Ritter von vorhin kam leicht hinkend auf sie zu.

Ich war mit deinem Vater zusammen im Morgenland. Unsere beiden Heere haben hohe Verluste hingenommen. Und es ist schon lange her. Aber im Thronstreit mit Philipp dem Schwaben in den letzten zehn Jahren, waren die Verluste noch höher als zur Zeit der Kreuzzüge, mein Junge. Während der König im Süden weilt, ist es mein Auftrag, den Frieden in den Welfischen Stammlanden zu bewahren.“

Friedrich schaute Simon von Tecklenburg ehrfürchtig und mit großen Augen an. „Sind wir dann auch befreit?!“

Schon möglich, Junge. Außerdem will ich, dass Otto“, dabei legte er seinem Sohn die Hand auf die Schulter, „in die Kunst des Regierens eingewiesen wird.“

Er machte eine Pause, um dann fortzufahren.

Es tut mir sehr leid um deinen Vater. Wir waren enge Freunde. Und ich trauere nicht nur, weil einem der Tod in meinem Alter ebenfalls nahe sein kann, sondern weil meine Liebe für diesen guten Mann groß ist.“

Na, wenigsten gibt es hier jemanden, der gut von Vater spricht, dachte Friedrich bei sich.

Komm, mein Junge“, sagte Simon und führte Otto, indem er ihn an der Schulter hielt, mit sich.

Ich möchte auf keinen Fall, dass dir der junge Isenberghe den Mund auf den Italienfeldzug wässrig macht.“

Warte, Vater!“

Otto entzog sich dem Griff seines Vaters.

Ich möchte Friedrich Lebewohl sagen.“

Simon ließ seinen Sohn gewähren. Otto lief zurück und streckte Friedrich die Hand entgegen. Ohne sich zu erheben schlug Friedrich ein.

Viel Glück in Italien, Friedrich.“

Dann wandte Otto sich um und lief zu Simon.

Ja, lauf nur zu deinem Vater, dachte er. Doch sein trauriger Blick verriet sein Verlangen nach ihrer Zweisamkeit. Wut stieg in seinen Kopf. Er wendete sich wieder dem Flusse zu und starrte auf das ruhig dahin fließende Wasser. Nach einer Weile mischte sich die Wut mit Trauer. Tränen rannen über Friedrichs Gesicht. Auf dem angespülten Baumstamm hockend schluchzte er bitterlich.

Das Friedrich-Lied - 1. Buch

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