Читать книгу Himmelslandtourist - Henny Frank - Страница 11
I. 8.
ОглавлениеInzwischen sind drei Wochen vergangen.
Ich hatte Geburtstag und bin jetzt achtzehn; volljährig also.
Wenigstens das hab ich geschafft…
Aber Paul… Mir kommen die Tränen und ich zupfe verzweifelt an meiner Decke rum.
In letzter Zeit hab ich viel gebetet; dass heißt, zumindest hab ich’s versucht. Ich habe nach einer halbwegs plausiblen Erklärung für Pauls Tod gesucht. Ich weiß, dass er krank war, doch selbst an einer Leukämie muss man heutzutage ja nicht mehr zwangsläufig sterben.
Bei Paul schlug aber nichts mehr an und das mit der Transplantation ging auch nicht, weil sie keinen passenden Spender gefunden haben.
In einem solchen Fall kann man auch heute nicht mehr viel tun.
Jesus hat mir versprochen, dass Paul es dort, wo er jetzt ist,
viel besser hat, als er es hier auf der Erde jemals hätte haben können,
und ich hab beschlossen, ihm zu glauben.
Ich hab Jesus allerdings auch gefragt, warum manche denn krank werden und sterben, oder warum wir so ganz allgemein überhaupt erstmal auf der Erde rumhängen müssen, wenn es bei ihm sowieso viel schöner ist.
In meiner Verbitterung hab ich jedoch keine Antwort abgewartet.
In dem Moment hätte mir Jesus auch sonst was erzählen können.
Es wäre einfach nicht zu mir durchgedrungen.
Dann aber hab ich geträumt. Fast war es so, als würde mir Jesus persönlich erscheinen. Mitten in der Nacht stand er an meinem Bett im Krankenhaus und sagte, dass er solche bescheuerten Krankheiten eben auch nicht verhindern kann. Allerdings könnte er einem wenigstens so halbwegs die Verzweiflung darüber nehmen - wenn man sich denn darauf einlassen kann.
Das Problem sei aber, dass es kaum jemand kann und das fände er sehr schade, sagte Jesus - und “du kannst das ja auch nicht, Henny“,
oder so was ähnliches.
Dann seufzte er und im nächsten Moment war er verschwunden.
Ich sah ihm nach und bemerkte, dass meine Augen offen standen.
Wirklich, ich konnte alles um mich herum deutlich erkennen;
ich musste also wach sein.
Oder war ich bloß tot und meine Seele schwebte hier rum…
Nein, ich lag ja im Bett und konnte die Bettdecke auf mir spüren,
ich musste also noch mit meinem Körper vereint sein.
Ich rätselte jetzt darüber, ob ich auch in den Momenten zuvor wach gewesen war.
Sollte ich nämlich nicht geschlafen haben, dann hätte ich das Erscheinen von Jesus ja gar nicht geträumt, sondern…
Dann wäre er wirklich bei mir gewesen, so ganz in echt.
Das ist ein ziemlich erhabener Gedanke und in den nächsten Tagen hatte ich mich so angestrengt, davon überzeugt zu sein, dass ich schließlich fast tatsächlich daran glaubte.
Inzwischen ist das aber wieder anders und ich gehe davon aus, dass ich wohl doch geträumt hab.
Warum sollte Jesus auch gerade mir erscheinen, wo er ja sonst so gut wie nie jemanden erscheint. Schließlich bin ich kein Heiliger oder so,
und besonders gefestigt in meinem Glauben bin ich auch nicht.
Wenigstens aber versuch ich nun davon überzeugt zu sein, dass Jesus mir diesen Traum geschickt hat und jedes Mal, wenn ich wieder so verzweifelt bin, dass ich den ganzen Tag nur heulen könnte, erinnere ich mich daran.
Wisst Ihr, verzweifelt bin ich zur Zeit ziemlich oft. Selbst Musik mag ich dann nicht hören und das will bei mir wirklich was heißen.
Ich hasse diese Leukämie, die alles zerstört so sehr, dass es weh tut.
Ich hasse sie dafür, dass sie Paul einfach aus seinem bis dahin glücklichen Leben gerissen und bei mir alles noch viel schlimmer gemacht hat.
Früher hätte ich das niemals für möglich gehalten - aber im Ernst,
wie gern würd ich jetzt zur Schule gehen!
Zwar ist es furchtbar dort, aber immerhin besser als hier im Krankenhaus.
Und Angst hab ich, das ist kaum auszuhalten.
Bevor die Leukämie kam, hab ich mir manchmal gewünscht,
dass ich sterben würde… Ach, ich weiß auch nicht, was ich will.
Jetzt jedenfalls macht mir der Tod Angst und sollte ich das mit dem Sterben damals tatsächlich ernst gemeint haben, dann dachte ich wohl doch eher an einen kurzen und schmerzlosen Tod und nicht an einen,
der qualvoll und langsam vor sich hin mäandert, bis er einen schließlich erreicht hat.
Vielleicht werd ich auch wieder gesund - wer weiß das schon?
Ich hab jedenfalls heute beschlossen, nicht mehr so ängstlich zu sein und ganz verwegen zu tun - (auch wenn s schwerfällt…)
Und nein, diese Psycho-Heinis von der Krankenhausseelsorge brauch ich auch nicht mehr. Gebracht haben sie mir sowieso nicht viel, aber das werf ich denen nicht vor. Manchmal nützt eben alles Gerede nichts mehr.
Paul ist am zweiten Februar gestorben und am siebten war seine Beisetzung.
O Mann, wenn ich mich daran erinnere, vergeht mir das mit dem Verwegen tun gleich wieder…
Ich brauch bloß an diese Urne zu denken, die da langsam in die Erde gelassen wurde und wie unheimlich und unangenehm mir dieser Anblick war. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, dass dies alles war, was von Pauls Körper geblieben ist - so wenig, dass er nun komplett in dieses kleine Ding reinpasste.
Hinzu kam noch, dass ich die ganze Zeit über daran denken musste,
dass es wohlmöglich nicht mehr allzu lange dauert und ich selber lande auch in so einem Teil.
Ich hätte viel lieber daran gedacht, wie ich Paul damals kennen gelernt hab und was wir alles miteinander erlebt und worüber wir gesprochen haben. Doch diese anderen Gedanken waren übermächtig und ich konnte nichts dagegen tun.
Ich fand diese Urne so was von schlimm und ich hatte solche Angst,
bald sterben zu müssen, dass ich kaum noch an mich halten konnte.
Bestimmt hatten meine Eltern und die von der Krankenhausseelsorge das gemeint, als sie gesagt haben, ich solle mir gut überlegen, ob ich wirklich zu Pauls Beisetzung gehen will und dass er wohl Verständnis dafür gehabt hätte, wenn ich im Krankenhaus bleibe.
Aber da ist es ja auch nicht viel angenehmer….
Ich ging also und stand dann ziemlich verkniffen auf dem Friedhof rum.
Irgendwie fand ich auch, dass einige Leute dort mich so merkwürdig ansahen. Im Ernst, mir war, als könnte ich denen geradewegs ansehen, was die dachten.
Und zwar: Na, der wird wohl demnächst auch fällig sein…
Für so ne Urne nämlich. Dass ich krank bin, sieht man ja auf den ersten Blick.
In Pauls Stammschuppen, wo wir nach der Beisetzung noch waren, lächelte ich so unbefangen wie möglich in die Runde; immer dankbar, wenn jemand mein Lächeln auffing und erwiderte.
Trotzdem aber hatte ich das Gefühl, dass ich vielen da suspekt blieb.
Wisst Ihr, sie schienen ne ganz merkwürdige Form von Respekt vor mir zu haben und wenn einer mit mir sprach, ging es auch fast nur um diese bekloppte Krankheit.
Doch vielleicht bilde ich mir das mit diesem komischen Respekt und dem ganzen anderen Kram auch bloß ein und bin mir lediglich selbst suspekt.
Ich weiß nicht.
Es scheint übrigens üblich zu sein, dass bei so ner Trauerfeier drei Lieder gespielt werden können. Paul hat sich seine noch selbst ausgesucht; es waren Boneflower von Avatarium, Taking Back My Soul von Arch Enemy und Bomber von Motörhead.
Bomber ist auf Motörhead-Konzerten immer der letzte Song und so soll es bei ihm auch sein, meinte Paul.
Dann war da noch so ein Trauerredner, weil Paul nicht in der Kirche war und so eben kein Pastor gesprochen hat. Ich fand zwar ganz gut, was der erzählt hat, aber ich glaub, wenn ich sterbe, dann will ich vielleicht doch lieber fünf bis sieben Lieder spielen und gar keiner soll da rumquatschen. Bei mir gibt’s auch nicht so viel zu erzählen.
Ich hab übrigens beschlossen, mit der Geschichte weiterzumachen.
Das hab ich Paul, dort wo er nun ist, letzte Nacht versprochen.
Bevor ich Euch jetzt wieder von Tibor und Carsten erzähle, erklär ich aber erst mal den Unterschied zwischen lymphatischer und myeloischer Leukämie - oder nee, ich erklär bloß, was ne akute myeloische Leukämie ist. Das andere weiß ich nämlich auch nicht so genau.
Also, akute myeloische Leukämie ist ne Form von Leukämie,
bei der unreife (myeloische) Blutzellen wachsen und sich unkontrolliert vermehren. Myeloische Zellen sind Vorläufer verschiedener Blutzellen und deren unkontrolliertes Wachstum führt nun dazu, dass die normalen Blutzellen (weiße und rote Blutkörperchen, Blutplättchen) verdrängt werden.
So einfach ist das - also zumindest der theoretische Vorgang.
Ich weiß nicht, warum ich Euch das gerade jetzt erklären musste.
Ist ein wenig deplaziert, aber immerhin hatte ich ja angekündigt,
dass ich diese Erklärung noch nachreichen werde und wenn ich es auch nicht geschafft hab, den Unterschied zwischen myeloisch und lymphatisch zu erklären, so hab ich doch zumindest dem ersten Teil entsprochen. -
Seit dem letzten Chemozyklus vor einer Woche sind die Ärzte sehr zufrieden mit mir. Mein Blutgehalt ist gestiegen und die Zahl der Krebszellen gesunken.
Dr. Wegener ist glücklich darüber, dass diese Chemotherapie so gut bei mir angeschlagen hat und gesagt, ich solle so weitermachen.
Ja, hab ich geantwortet, ich tu, was ich kann.
Schließlich soll ich ja noch ne Weile leben. Das wiederum hab ich Paul versprochen und was Dr. Wegener betrifft, also ich glaub,
der kann in nächster Zeit auf einen weiteren toten Jugendlichen auf seiner Station verzichten.
Irgendwann wird es schon wieder so weit sein, aber bitte nicht sofort…
Dr. Wegener ist noch ziemlich jung und ich hab schon manche hinter vorgehaltener Hand sagen hören, er habe sich noch nicht so recht an das Sterben hier gewöhnt. -
Ich lehne mich zurück und nehme langsam Pauls Tuch ab.
Wenn ich ganz allein bin, sitze oder liege ich manchmal auch mit kahlem Kopf rum und gerade jetzt möchte ich Pauls Tuch hier in meinen Händen spüren.
Ich halte mich an seinem Tuch fest und stelle meinen MP3-Player an.
Ich schließe die Augen und sofort sehe ich wieder die weiße Pastorenvilla in Tiszafüred vor mir.
Sie befindet sich direkt neben der evangelischen Kirche am Stadtrand und wenn Tibor zu Hause ist, kann er die Turmuhr zu jeder halben und vollen Stunde schlagen hören.
Mittags um zwölf schlägt sie sogar minutenlang - das hat Paul mir erzählt. Ihr heller, klarer Klang ertönt gleich nach der Glocke der katholischen Kirche.
Die katholische Kirche steht übrigens in der Innenstadt, direkt an der Hauptstraße; der Debreceni Utca.
In Tiszafüred kommt Tibor jetzt aus dem Proberaum.
Er hat heute einen ziemlich guten Tag gehabt und ist zufrieden mit sich und der Welt.
Neben dem täglichen Spiel ist er gerade dabei, ein paar neue Songs zu schreiben und dabei kann er einen schier unglaublichen Ehrgeiz entwickeln. Nun ist er müde, aber auch glücklich, denn er hat wirklich viel erreicht.
Umso wütender wird er dementsprechend am Abendbrotstisch, als seine Mutter wieder anfängt, ihm Vorhaltungen zu machen.
Sie verlangt zum Beispiel, dass er jetzt, wo er mit der Schule fertig ist, sich endlich einen “ernstzunehmenden Ausbildungsplatz” suchen soll. Ohnehin ist sie ziemlich verdrossen darüber, dass er nie zur Oberschule gegangen ist. Wisst Ihr, sie gehört zu diesen Leuten, für die nichts anderes zählt.
“Was glaubst du, was ich heute den ganzen Tag lang gemacht hab?“
Mit bewegter Geste stellt Tibor sein Glas auf den Tisch zurück.
“Ich hab gearbeitet!”
Judit, seine Mutter, zieht geringschätzig die Mundwinkel nach unten.
“Das soll Arbeit sein?! Das ist doch wohl allenfalls ein Hobby!”
Sie ist ja Musikprofessorin und irgendwie hat sie Tibor bis heute nicht recht verziehen, dass er sich mit zwölf Jahren für die Gitarre und nicht in erster Linie für das Klavier entschieden hat.
Wäre es nach ihr gegangen, hätte Tibor Pianist werden sollen.
Er hat bereits mit vier Jahren angefangen zu spielen und stellte sich schnell als beachtliches Talent heraus. Trotzdem hat es das Instrument nie geschafft, ihn vollständig für sich zu vereinnahmen. Nein, er hatte und hat so viele andere musikalische Vorlieben und seine Mutter fand und findet, dass er zuviel herumexperimentiert.
Ihrer Meinung nach ist das nichts halbes und nichts ganzes und wie sollte Tibor bei diesem Chaos eines Tages von der Musik leben können?
Selbstverständlich irrt sie aber - Mann, wie die sich irrt…
In Wirklichkeit ist Tibor nämlich weder konfus noch planlos,
Nein, er ist bloß vielfältig und genau das ist eine seiner großen Stärken als Musiker.
Nun sieht Tibor seine Mutter kühl an.
“Pff. Schlimm, wie wenig Ahnung du hast…“
Sein Blick gefriert zu Eis. “Das was du ein Hobby nennst, ist der beste Metal in ganz Ungarn. Und nicht nur das, sondern auch weit darüber hinaus!” An Selbstbewusstsein mangelt es Tibor ja nicht.
“Klar, so wird’s sein”, murmelt sein Bruder vor sich hin. Er ist zwei Jahre älter und heißt Ferenc, was bei uns soviel wie Franz heißen würde.
Die Mutter schüttelt unzufrieden den Kopf. Sie kann nicht viel anfangen mit Tibor. Im Ernst, dieser Judit ist er ziemlich suspekt, doch ich weiß gar nicht, ob sie ihn überhaupt gut genug kennt, um ihn angemessen beurteilen zu können. Das Verhältnis zwischen Tibor und seiner Mutter ist - bis heute - ziemlich distanziert und kühl .
Sie nahm damals Tibors musikalische Ambitionen nicht ernst,
fand ihn mit seinem mäßigen Mittelschulabschluss ungebildet und kannte nur das selbstverliebte Zerrbild, dass er selbst von sich in die Öffentlichkeit getragen hatte.-
Tibor hat inzwischen den Blick gewendet und sieht zu Ferenc hin.
“Hat einer dich Zinkenträger um deine Meinung gebeten?”,
fragt er betont gelangweilt und zieht abfällig die Brauen seiner hellblauen Gletscheraugen nach oben.
“Und jetzt zieh dir nen Sack übern Kopf, Rübezahl…”
In der Tat ist Ferenc´ Nase ein wenig lang und auch sonst entspricht er nicht gerade einem gängigen Schönheitsideal.
Ähnlichkeit mit Tibor hat er jedenfalls nicht und Tibor wird auch nicht müde, Ferenc auf seine optischen Mängel hinzuweisen. Besonders auf die Nase seines Bruders hat er es abgesehen.
Dabei hat Ferenc ein liebes Gesicht; ohne schön zu sein ansprechend und charismatisch. Vor allem aber ist er im allgemeinen ein friedfertiger und besonnener Junge - bloß Tibor bringt ihn regelmäßig auf die Palme.
Ferenc erwartet von seinen Mitmenschen eine gewisse Ernsthaftigkeit in deren Lebensauffassung und die kann er bei seinem jüngeren Bruder nicht finden.
Seiner Meinung nach ist Tibor ein oberflächlicher Schönling und Blender, dem andere Menschen völlig egal sind - es sei denn sie gereichen ihm gerade in irgendeiner Form zum Vorteil.
Auch er sieht also nur jenes Zerrbild von Tibor und außerdem sitzt der Keil zwischen den Beiden zu jener Zeit so tief, dass Ferenc gar kein anderes Bild zugelassen hätte.
“Ich muss mich nicht von dir beleidigen lassen”, entgegnet er jetzt so beherrscht wie möglich.
Wenn er ehrlich ist, tut Ferenc sein Spruch inzwischen fast schon wieder leid. Ohne Frage ist Tibor ein selbstsüchtiger Idiot - aber ein schlechter Musiker ist er nicht und das weiß auch Ferenc.
Wer weiß - wohlmöglich kommt der eines Tages, begabt und charismatisch wie er ist, tatsächlich noch groß raus.
Doch solche Gedanken würde Ferenc selbstverständlich niemals laut äußern. Im Gegenteil - eher würde er sich die Zunge blutig beißen,
als diesem eingebildeten Kerl irgendwelche Zugeständnisse zu machen.
“Musst du immer auf deinem Bruder herumhacken?”, fragt die Mutter verärgert.
“Genau - ich find das auch nicht gut von dem, doch er kann wohl nicht anders.” Tibor grinst arglos vor sich hin.
Selbstverständlich weiß er nur zu gut, an wen diese Unmutsbekundung in Wahrheit gerichtet ist.
Ferenc sieht ihn bloß kurz an und seufzt. Diesmal will er sich nicht provozieren lassen, das passiert ihm ohnehin viel zu oft.
Dieses Getue immer bei diesem Tibor, denkt er. Wahrhaftig, für den ist die ganze Welt nichts weiter als ne riesige Theaterbühne und die Leute, denen er darin begegnet, sind ein - mehr oder weniger - dankbares Publikum.
“Ich meine nicht Ferenc, sondern dich”, klärt die Mutter jetzt überflüssigerweise Tibor auf und der macht sich noch nicht mal die Mühe, überrascht auszusehen.
“Echt? Ach was…”
Dann steht er abrupt auf und schiebt seinen Stuhl energisch an den Tisch zurück. Er weiß schon, was jetzt kommen wird:
Die Mutter macht genau da weiter, wo sie vorhin aufgehört hat und Tibor hat nicht die geringste Lust, sich das anzuhören.
Im Grunde ist es ja geradewegs eine Zumutung, findet er,
dass sie ihm überhaupt mit so was kommt wie er solle sich “einen ernstzunehmenden Ausbildungsplatz” suchen.
Als ob er das notwendig hätte…
Nein, die Musik ist seine Arbeit und dafür braucht er keinen Ausbildungsplatz. Überhaupt ist sie mehr als bloß Arbeit.
Sie ist seine Passion, seine Liebe, sein Herzblut - ach, sie ist sein ganzes Leben.
Es ist auch nicht so, dass sich niemand dafür interessieren würde und er so ein peinlicher Möchtegern-Rockstar ist.
Nein, so ist es nicht, ganz bestimmt nicht, da braucht er ja nur an den letzten Auftritt Woche zurückzudenken.
Der Mitte-der-Welt-Club, in dem er mit seiner Band gespielt hatte,
war gerammelt voll und draußen vor der Tür standen noch etliche Leute, die nicht mehr in den Club reinpassten, rum.
Manche waren sogar extra aus Debrecen nach Tiszafüred gekommen.
Sie waren wegen ihm hier. Warum sonst sollte sich jemand in diese Einöde verirren?
“Ich hab mit Papa besprochen, dass ich mich ab jetzt nur noch auf die Musik konzentrieren will und vielleicht kannst auch du das endlich mal zur Kenntnis nehmen”, zischt Tibor seiner Mutter zu.
Sein Blick gefriert zu gletscherblauem Eis.
“Und falls nicht, dann behalts für dich. Du bist ja sowieso bloß eingeschnappt, weil ich keinen Bock mehr hatte, ausschließlich Klavier zu spielen.” Dabei belässt er es und geht so schnell, dass die Mutter gar nicht mehr dazu kommt, was zu erwidern aus der Küche.
Macht nichts. Tibor hat ja ohnehin keinerlei Lust auf irgendwelche Kommentare. Überhaupt findet er es sehr großzügig von sich, dass er sich jetzt noch zu diesem Statement herabgelassen hat -
ursprünglich hatte er das nämlich gar nicht vor.
Es ist nun aber auch nicht so, dass Tibor was gegen das Klavier hätte;
im Gegenteil. Ich hab ja schon erwähnt, dass er sehr vielseitig ist.
Neben dem Klavier und der Gitarre spielt er noch Sitar, Mundharmonika, Spinett und vor allem Kirchenorgel.
Auch seine musikalischen Vorlieben sind breit gefächert und er findet seine Inspiration bei verschiedenen Musikrichtungen.
Überwiegend wohl im Metal, aber auch bei klassischer und geistlicher Musik, Rock, Indie und der Musik der Roma.
Ja, all diese Musik berührt Tibor; sie hat seine Entwicklung als Musiker beeinflusst und genau diese Vielfalt ist es ja auch, die ihn so einmalig und besonders macht.
Aber davon hat seine Mutter keine Ahnung.
Zwar beeindruckt es sie insgeheim schon ein wenig, dass er so viele Instrumente spielen und die unterschiedlichsten Musikstile miteinander verknüpften kann.
Vor allem aber findet sie, dass Tibor so was wie eine gerade Linie; der berühmte rote Faden, fehlt.
Das wiederum will Tibor nicht; er will frei sein, in seiner Musik.-
Nun bleibt er erst mal auf dem Treppenabsatz der Pastorenvilla stehen, kramt in der Jackentasche nach seinen Zigaretten und als er sich gerade eine der Kippen zwischen die Lippen gesteckt hat, sieht er seinen Vater über die Wiese kommen.
Es ist Samstag Abend und der Pastor war noch in der Kirche, um dort den Sonntagsgottesdienst vorzubereiten.
Nun hat der Vater erreicht.
“Na, Tibi, willst du heute noch in den Proberaum?”, fragt er.
“Oder willst du in die Kirche - zum Orgelspielen?”
Tibor denkt nach. “Erst geh ich in die Kirche, dann in den Proberaum und um elf ins Mitte der Welt”, erklärt er.
Der Vater nickt. “Aha.”
Er reicht Tibor den Kirchenschlüssel herüber und lächelt ihm zu.
“Eine schöne Zeit! Aber bring mir den Schlüssel wieder zurück,
bevor du in den Proberaum gehst.”
“Klar”, meint Tibor und in solchen Dingen kann man sich tatsächlich auf ihn verlassen.
In Gegensatz zu mir… O Mann, ich kann mir richtig vorstellen, wie ich an seiner Stelle selbstverständlich vergessen würde, den Schlüssel zurückzubringen, um ihn dann später im Suff auch noch zu verlieren. Tibor aber ist da ganz anders.
Wisst Ihr, langsam bekomm ich ernsthaft Minderwertigkeitskomplexe, doch bestimmt hab ich nichts besseres verdient.
Es ist halt so; es gibt solche Leute wie Tibor, die schön, selbstbewusst und begabt sind. Und es gibt solche wie mich - verklemmte Loser,
die nichts auf die Kette kriegen, dauernd Schlüssel verlieren und auch sonst nichts können.
Tibor ist auch kein oberflächlicher Blender, wie Ferenc immer meint,
sondern ein beispielloser Individualist mit Tiefe.
Okay, diese ruppig-arrogante Attitüde hat er schon, aber irgendwelche Fehler hat doch wohl jeder.
Ja, irgendeinen Fehler hat in der Tat jeder - aber ich - ich hab ein paar zuviel und als ob das nicht schon schlimm genug wär, musste ich auch noch krank werden. Aber lassen wir das.
Letztendlich ist es um einen wie mich sowieso nicht schade und außerdem will ich jetzt lieber erzählen, wie es weitergeht.
“Was gibt es zum Abendbrot?”, fragt der Pastor gerade.
Tibor zieht an seiner Zigarette. “Marta (die Haushälterin) hat heute Mittag so ne Frühlingssuppe gekocht, davon ist noch ne ganze Menge übrig.”
Sein Vater nickt erfreut. “Sehr gut. Meine Güte, hab ich einen Hunger…” Er klopft seinem Sohn auf die Schulter und geht anschließend ins Haus.
“Tschüss”, murmelt Tibor hinter ihm her.
Wenn er ehrlich ist, muss er zugeben, dass er seinen Vater, der immer so ruhig, ausgeglichen und ernsthaft an dem, was er, Tibor, tut interessiert ist, sehr gern hat.
Hohles Gemecker kommt bei ihm jedenfalls nicht vor und Tibor hat auch nicht vergessen, dass der Vater ihm seinen Proberaum verschafft hat -
ein kleineres Gebäude, das sich im hinteren Teil des Kirchengrundstücks befindet. Früher wurde es als Gästehaus genutzt, doch jetzt dient es nur noch Tibors Musik.
Es ist geräumig dort, die Wände sind schallisoliert und vieles, was für die Band von Belang ist - die Anlage und die meisten von Tibors Instrumenten - ist dort untergebracht.
Sein Augenstern, die Kirchenorgel, allerdings nicht.
Dass er Kirchenmusik darauf spielen kann, weiß Tibor ja längst.
Mit neun Jahren hatte er angefangen, dieses Instrument zu lernen und seit einiger Zeit weiß Tibor auch, wie hervorragend sich die Orgel in seine Musik integrieren lässt.
Früher haben übrigens auch die Konzerte im Proberau stattgefunden, doch dafür ist er längst zu klein geworden und dieser Club in Tiszafüred ist es eigentlich auch.
Tibor zieht an seiner Zigarette und lächelt vor sich hin.
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er dieses Kaff verlassen und in Debrecen spielen wird. Und den Plattenvertrag gibt es gleich dazu.
Das weiß er. -
Mein Album (Colours In The Dark von Tarja) ist zu Ende und ich spiele mit Pauls Tuch herum.
Ich kann die große weiße Kirche genau vor mir sehen und die gesamte Atmosphäre an jenem Abend in Tiszafüred spüren.
Zwar war dort zu dem Zeitpunkt gerade Herbst, aber ich stelle mir das ganze trotzdem an einem milden Frühlingsabend vor.
Es wird allmählich dunkel und von der Puszta her weht eine sanfte Brise in den Ort hinein. Das Storchenpaar, das in einem Horst an der Straße vor der Kirche brütet, hat sich bereits zur Ruhe begeben, doch aus dem Ligusterbusch hinter dem Kirchenschiff ertönt der Gesang einer Amsel.
Wie gern wär ich dann dort…
Doch auch im Oktober ist es wunderschön in Tiszafüred mit seiner stillen, klaren Luft.
Ich schließe die Augen. Vielleicht kann ich ja wenigstens in meinen Träumen dorthin gelangen…
Bevor ich nun hoffentlich schnell einschlafe, fällt mir noch was ein:
Wohlmöglich habt Ihr ja den Namen Debrecen nie gehört.
Wisst Ihr, Debrecen ist die zweitgrößte Stadt in Ungarn und die einzig größere in der Großen Tiefebene. Wie eine Festung aus Stein ragt sie aus den flachen Weiten der Puszta heraus; so jedenfalls hat es Paul mir erzählt.