Читать книгу Himmelslandtourist - Henny Frank - Страница 13
I. 10.
ОглавлениеO Mann, was für Arschlöcher…
Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber mir tut Carsten unendlich leid.
Er ist lieb, tut niemanden was und trotzdem (oder deswegen?) lassen die anderen ihn nicht in Ruhe.
Diese ewige Mobberei kenn ich übrigens auch. Bevor die Leukämie kam, waren die Anderen eines meiner größten Probleme, doch im Moment ist das unwichtig geworden.
Ich finde aber, dass ich für das in Ruhegelassen werden einen ziemlich hohen Preis zahlen muss.
Nun aber werde ich Euch ein bisschen mehr über Carsten erzählen; seinen Lebenslauf und so und ob es nicht vielleicht eine Verbindung zu Tibor gibt.
Also:
Carsten Wilke wurde am 21. Februar 1973 in Debrecen geboren.
Das ist übrigens auch mein Geburtstag, nur halt ein paar Jahre später.
Vielleicht werden ein paar von Euch jetzt merken, dass ich Debrecen schon mal erwähnt hab - war das nicht die steinerne Festung, die aus der Großen Tiefebene herausragt?
Ja, das ist wahr und dort wurde Carsten geboren.
Seine Eltern heißen Johannes und Ilona und bevor Ilona Johannes geheiratet hat, hieß sie mit Nachnamen Kiss (Klein).
Ausgesprochen wird das Kisch und es ist ein ungarischer Name. Carstens Mutter ist nämlich Ungarin.
Ich schätz mal, sie hätte ihren Namen gern behalten, doch ich glaub in den 1970ern ging das noch nicht und in Ungarn bestimmt auch nicht oder noch weniger.
Paul hat mir erzählt, manche nehmen dort nach der Hochzeit sogar den Vornamen des Mannes an und zwar mit einem angehängten né.
Das heißt dann soviel wie die Frau von soundso.
Wenn einer zum Beispiel Janos heißt, dann würde die Frau von dem nach der Hochzeit Janosné heißen; Frau von Janos also.
O Mann…
Ich weiß aber nicht, ob das damals tatsächlich alle so gemacht haben, weil man das musste und so hab ich das in meiner Geschichte weggelassen und die Frauen haben wenigstens ihren Vornamen behalten.
Lieber Gott, ich bin gerade so traurig, dass Paul nicht hier bleiben konnte - ich kann mich kaum auf das konzentrieren, was ich Euch erzählen wollte.
Ich hab soeben beschlossen, dass ich trotz seines Todes immer in der Gegenwart von Paul sprechen werde; also nicht er “war” oder er ”wusste”, sondern er ist und er weiß!
Dort wo er jetzt ist, ist er ja noch immer und wissen tut er auch noch alles genauso wie vorher.
Paul lebt - eben nur nicht mehr hier.
Ja, das glaub ich und ich werde nie in der Vergangenheit von ihm sprechen! Nie! -
Nun geht es mir ein wenig besser und ich erzähle ich Euch meine Geschichte weiter.
Carstens Eltern haben sich im Sommer 1971 in Tiszafüred kennengelernt. Johannes wollte seinen Urlaub in Ungarn verbringen und kam schließlich, nachdem es ihm am Balaton zu langweilig geworden war,
in die Großen Tiefebene.
Dort lernte er ein Mädchen namens Ilona kennen.
Es war Liebe auf den ersten Blick und Johannes vergaß darüber völlig, dass er ursprünglich vorgehabt hatte, seine Reise noch fortzusetzen.
Nein, jetzt reiste er nicht mehr weiter - er kehrte nicht mal nach Deutschland zurück.
Stattdessen blieb er in Tiszafüred, heiratete im September seine Ilona und im Februar 73 wurde Carsten geboren.
Ursprünglich sollte er ja Levente heißen, doch dann stieß Ilona in einem Bildband über die Nordsee, den Johannes aus Deutschland mitgebracht hatte, auf diesen einen Namen und sie fand, dass dies der schönste Name sei, den sie je gehört hatte.
So wurde aus Levente Carsten. Sie schrieben es damals allerdings Karszten, denn wenn du es Carsten schreibst, dann würden die meisten Ungarn es in etwa wie Zorschten aussprechen - auch das hat Paul mir erklärt. Er hat während seiner Aufenthalte in Ungarn die Sprache ein wenig gelernt und dementsprechend weiß er, wie man die einzelnen Buchstaben ausspricht.
Später in Deutschland wurde die Schreibweise allerdings in Carsten geändert - okay, das reicht, sonst wird es noch langweilig(er).
Ich wollte ja auch nur mal kurz erklären, warum einer als Quasi-Ungar ausgerechnet Carsten heißt - also deshalb.
Nun aber zurück zur Geschichte: Johannes und Ilona waren damals so glücklich und Carsten hing sehr an seinen Eltern.
Als er etwa vier Jahre alt war, brach aber das Schicksal unerbittlich über die Familie herein. Ilona starb bei einem Verkehrsunfall und Johannes verzweifelte am Leben.
Carsten konnte nicht verstehen, wo seine Mutter geblieben war, denn den Tod konnte er noch nicht begreifen.
Wisst Ihr, es gibt doch diesen französischen Film, wo die Mutter von einem vierjährigen Mädchen plötzlich stirbt.
Falls einer von Euch diesen Film kennt, dann kann er sich Carstens Gefühlslage in etwa so vorstellen. -
Ilonas Eltern und ihr Bruder, die ebenfalls schwer an dem Verlust zu tragen hatten, versuchten den gezeichneten Johannes wieder aufzurichten. Es gelang ihnen aber nicht.
Auch wenn er die Familie sehr liebgewonnen hatte, wollte er ohne Ilona nicht mehr länger in Ungarn bleiben und so ging er eines Tages zurück zu seinen Eltern in den Schwarzwald.
Bei sich hatte er einen traumatisierten Sohn, der seit Ilonas Tod kaum noch sprach, und wenn ausschließlich Ungarisch.
Die Großeltern im Schwarzwald schafften es aber, Carstens Vertrauen zu gewinnen, doch ein paar Monate später starb auch seine Oma. -
Ich weiß ja, dass es viel ist, was ich Carsten zumute, doch ich verspreche Euch, dass er daran und trotz allem nicht zugrunde gehen wird.
Nein, am Ende meiner Geschichte wird vieles gut sein. Nicht alles,
doch zumindest einiges.
Wisst Ihr, Carsten wird einen Schatz finden; etwas, das wie ein wahrer Segen auf ihn hernieder regnet. Im Ernst, es wird für ihn so ähnlich sein, wie in dem Märchen mit der Sterntaler, wo die Goldstücke auf sie nieder regnen.
Das soll er mir voraus haben, doch ansonsten sind wir uns schon recht ähnlich.
Auch ich kam in der Schule nie mit und war ein Außenseiter.
Selbst meine so genannten Freunde haben mich nicht ernst genommen und mein Vater hat getrunken.
Das Schicksal mit der verschwundenen Mutter teile ich ebenso mit Carsten. Allerdings ist meine Mutter nicht gestorben, sondern absolut lebendig und freiwillig verduftet.
Wisst Ihr, Ulrike ist mein Adoptivmutter; die zweite Frau von meinen Vater.
Was aber meine leibliche Mutter betrifft; also irgendwie glaub ich doch, die ist gestorben, zumindest für mich.
Ich war drei, als sie wegging und anfangs war ich sehr traurig darüber.
Diese Trauer legte sich aber mit der Zeit und inzwischen empfinde ich nur noch Wut.
Im Ernst, sollte mir meine Mutter in diesem Leben noch mal gegenüber stehen, würd ich ihr, glaub ich, sagen, dass sie sich verpissen soll.
Vielleicht hatte sie ja ihre Gründe, dass sie weggegangen ist und mich nie wieder besucht hat, aber ich hab keinen Bock, dafür Verständnis aufzubringen.
Nein, ich für meinen Teil fühle mich einfach bloß ausgemustert und weggeworfen.
Nachdem meine Mutter weg war, hat mein Vater zu trinken angefangen und erst wieder damit aufgehört, als er Ulrike kennengelernt hat.
Nun aber überleg ich gerade, woran Carstens Oma gestorben ist -
ein weiterer Unfall erscheint mir ein wenig übertrieben.
Aber was dann… Ne Krankheit… Aber welche…
Ich lasse meinen Blick umherschweifen und schließlich fällt es mir ein…
Es ist ja auch so naheliegend. Krebs. Und zwar ein besonders fieser; einen, den man erst bemerkt, wenn es schon zu spät ist und den deshalb auch so gut wie keiner überlebt.
Bauchspeicheldrüse, Leber oder so.
O Mann. Was ist bloß los mit mir? Reagier ich mich vor lauter Frust an Leuten ab, die ich selbst erfunden hab?
So was mieses…
Ich bleib aber dabei. Carstens Mutter stirbt bei einem Verkehrsunfall und seine Oma an Bauchspeicheldrüsen- und Leberkrebs.
Johannes weiß nach diesem erneuten Schicksalsschlag kaum wohin mit sich und Carsten verbringt daraufhin nur sehr wenig Zeit mit ihm.
Meistens ist er jetzt bei seinem Opa, der zwar auch trauert, aber trotzdem die Geistesgegenwart besitzt, sich um ihn zu kümmern.
Als Carsten sechs Jahre alt ist, lernt Johannes eine neue Frau kennen.
Die beiden heiraten ziemlich schnell und die neue Frau adoptiert Carsten.
Damit gibt es nach Ungarn kein Zurück mehr und Carsten wird nun für sehr lange Zeit nicht mehr dort sein.
Stattdessen zieht er mit dem Vater und seiner neuen Mutter nach Schleswig-Holstein - in dieses Kaltenkirchen, das ich schon erwähnt hab.
Wisst Ihr noch, wie er dort die Alvesloer Straße entlanggegangen ist?
Ich selber wohne übrigens auch dort.
Es ist nicht allzu schlecht, allerdings gibt es da fast nur noch Supermärkte, Friseure sowie Zahnärzte und ansonsten viele leer stehende Läden.
Was vernünftiges, wo man abends hingehen könnte gibt es jedenfalls nicht so, aber was soll’s. Ich persönlich bin ja eh nie ausgegangen und im Moment… na ja.
Carsten hat seine gesamte Schulzeit in Kaltenkirchen verbracht und nicht selten verlief sie so wie die Sportstunde, von der ich Euch erzählt hab.
Seine Grundschulzeit war allerdings nicht ganz so schlimm wie das,
was später folgen sollte. Dort nämlich hatte Carsten noch den einen oder anderen Freund gehabt. Es waren - tja, zwei genau.
Na ja, besser als nichts.
Von den Kindern aus seiner Nachbarschaft durften viele nicht mit Carsten spielen, weil die Leute da gemerkt hatten, dass Johannes ziemlich viel trank.
Bis kurz nach der Hochzeit hatte er sich zwar zusammengerissen,
doch dann dauerte es nicht lange und er verfiel wieder in alte Trinkmuster.
Johannes kam einfach nicht über Ilonas Tod hinweg.
Seine neue Frau mochte er zwar, doch sie reichte nie an Ilona heran und dies wurde Johannes immer deutlicher und schmerzlicher bewusst.
Ulrike gegenüber hatte er deshalb ein schlechtes Gewissen und dies ertränkte er im Alkohol.
Um seine Ehe stand es jedenfalls unheimlich schnell unheimlich schlecht und erschwerend kam noch hinzu, dass Ulrike nur wenig mit Carsten anfangen konnte.
Sie hatte immer gern Kinder haben wollen, konnte selber aber keine bekommen. Da sie sich jedoch so sehr einen Sohn wünschte,
(keine Ahnung, warum so unbedingt einen Sohn, aber ich lass das jetzt einfach mal stehen und im Grunde ist es auch egal) hatte sie Carsten adoptiert. Dann aber musste sie sich eingestehen, dass ihr Argwohn ihm gegenüber - zumindest was ihre Sichtweise betraf - absolut begründet war. Zwar hatte sie sich ja einen Sohn gewünscht, aber so einen wie Carsten - also so einen nicht.
Sie hatte anfangs fest damit gerechnet, dass, wenn sie Einfluss auf ihn nehmen konnte, sich seine Eigenheiten geben würden.
Nun aber musste sie zur Kenntnis nehmen, dass dies ganz und gar nicht der Fall war. Im Gegenteil - sie fand, dass sich sein merkwürdiges Verhalten eher noch verschärfte.
Carsten erschien ihr in sich gekehrt und verstockt; nahezu abwegig.
Oft war er allein in seinem Zimmer und murmelte dort die ganze Zeit auf einer Sprache, die sie nicht verstand, vor sich hin.
Es war aber Ungarisch und Carsten sprach zu seiner toten Mutter.
Er fühlte sich noch immer innig mit ihr verbunden und mit der Zeit trauerte er auch nicht mehr so sehr um sie, sondern gab sich ganz der überweltlichen Bindung, die er nun zu ihr aufgenommen hatte, hin.
So schaffte er es auch, die ungarische Sprache nicht zu vergessen.
Eines allerdings gab es, das ihm fehlte; was er vermisste und was er einfach nicht vergessen konnte, und das war Ungarn.
Carsten vermisste seine Großeltern und ihr Haus an der Debreceni Utca; der Hauptstraße, gegenüber der katholischen Kirche mit ihrem großen weißen Steinkreuz und dem gekreuzigten Jesus, er vermisste den wilden,
schönen Garten, er vermisste die Puszta, er vermisste den Theiß-See und dessen dicht bewachsenen Ufer, er vermisste seine Cousins und seine Cousine, mit denen er oft gespielt hatte und er vermisste seinen Onkel,
den Pastor, der immer so nett zu ihm gewesen war.
Dies alles aber war längst in unerreichbare Ferne gerückt.
Ulrike war jetzt seine Mutter und er sollte Ilona und all das vergessen. -
Falls nun jemanden von Euch Carstens Onkel, der Pastor, aufgefallen ist, weiß er ja vielleicht schon, worauf dies hier hinausläuft.
Jener Pastor in Tiszafüred ist jedenfalls Ilonas Bruder; Carstens Onkel und der Vater von Tibor.
Ja, Tibor und Carsten sind Cousins.
Ich hab all das genau geplant und ich glaube, dass es ein guter Plan ist.
Im Moment ist es allerdings so, dass sich Tibor nur noch vage an Carsten erinnern kann und auch Carsten hat jetzt nur noch undeutliche Erinnerungen an seinen Cousin. Wisst Ihr, als die Beiden sich das letzte Mal gesehen haben, waren sie vier.
Nun sind zwölf Jahre vergangen und der Unterschied zwischen ihnen könnte kaum größer sein. Hier der schöne, begünstigte, selbstbewusste und kühl überlegene Tibor, der einer glorreichen Zukunft als Musiker entgegensieht, und dort der unscheinbare, ängstliche, gebeutelte und liebe Carsten, der nicht weiß, was ihm die Zukunft sonst noch schlimmes bringen wird. Ja, es ist wirklich ein Unglück mit ihm und wie so oft im Märchen wird es jetzt, bevor es besser wird, erst mal schlimmer.
Denkt aber daran, was ich gesagt hab - es wird besser, ganz bestimmt.
Das hab ich Carsten versprochen und dieses Versprechen werd ich auch halten.