Читать книгу Himmelslandtourist - Henny Frank - Страница 6
I. 3.
ОглавлениеDie nächsten Tage verbringe ich im Krankenhaus.
Ich liege auf meinem Bett rum und sehe zu, wie das gelbe Zeug;
diese Zytostatika, aus dem Infusionsbehälter mit der Flüssigkeit in den dünnen Schlauch, der unter die Haut in meine Brustwand eingesetzt wurde, läuft. So ein Ding nennt sich Hickman-Katheter und er führt in eine große Vene in der nähren Umgebung des Herzens.
Aus ihm werden übrigens auch die Blutproben entnommen.
Das hier ist nun mein dritter Zyklus.
Ich bin jetzt schon drei Tage dabei und die ersten Nebenwirkungen; das Kotzen und so, haben nachgelassen.
Ich seufze und starre auf das Buch, das vor mir auf der Bettdecke liegt. Irgendwie ist mir doch nicht nach Lesen. Davon werd ich immer so müde (oder besser gesagt: noch müder) und auf den Inhalt konzentrieren kann ich mich auch nicht. Das ist wieder so ne Nebenwirkung der Chemotherapie, dass die Konzentrationsfähigkeit total eingeschränkt ist.
Lustlos wie ich im Moment bin macht mir das zwar noch nicht mal was aus. Ich muss bloß so oft daran denken, was mir ein paar Andere hier auf der Station erzählt haben: nämlich dass diese Konzentrationsstörungen selbst lange nach der Behandlung bleiben und oft auch nicht mehr viel besser werden… Irgendwie geht dieses Zytostatika-Zeug wohl auch aufs Gehirn, glaub ich. Na ja.
Ich stelle nun meinem MP3-Player an. Ich höre gerade A Midwinter Night`s Dream von Loreena McKennitt.
An für sich ist das ja n Weihnachtsalbum doch was soll’s.
Erstens hör ich immer, worauf ich gerade Lust hab und zweitens leb ich im Dezember ja vielleicht gar nicht mehr…
Okay, so genau weiß keiner, wie lange er noch lebt, aber ich hab im Moment ja nen Anlass, um an so was zu denken.
Während ich hier auf dem Bett liege, Musik höre und leise vor mich hinsumme, vergeht etwas Zeit und plötzlich taucht er wieder auf.
Wer? Na ja, wisst Ihr, es ist ein Junge, etwas jünger als ich vielleicht.
Ich weiß nicht so genau, ob ich ihn erfunden hab, oder ob er mir irgendwie geschickt wurde.
Es ist sehr einsam, allein zu sein und darauf zu warten, dass die Chemo durchläuft. Ich wünschte, ich würde das Zeug in Tablettenform bekommen können…
Nun aber bricht dieser Junge in meine Einsamkeit hinein.
Als ich vor ein paar Tagen nicht schlafen konnte, war er das erste Mal da. Ich hatte gerade solche Angst davor, nicht wieder gesund zu werden und zu sterben. Nachts, wenn es still und dunkel ist, ist es besonders schlimm.
Ich schaltete meinen Mp3-Player ein und plötzlich; mitten in Porcupine Tree`s Sleep together auf der Fear of a blank planet, ist er hinein gebrochen. Allerdings verschwand er ebenso schnell wieder, wie er gekommen war…
Ja, er tauchte ab; zurück in die Tiefen meines Unterbewusstseins und dort blieb er fürs erste auch.
In der Nacht, in der er zum ersten Mal kam, war ich aber von meinen Gedanken an den Tod abgelenkt und konnte schlafen.
In den nächsten Tagen blieb der Junge verschwunden, doch nun ist er plötzlich wieder da. Wie aus dem Nichts ist er gekommen und in diesem Moment scheint er mich eingehend zu mustern.
Zuerst ist sein Blick abschätzend und kühl, doch dann huscht für den Bruchteil einiger Sekunden ein angedeutetes Lächeln über sein Gesicht. Und was für ein Gesicht der hat - soll ich Euch erzählen, wie er aussieht? Zwar ist er so schön, dass ich ihn kaum hinreichend werde beschreiben können, aber ich versuch es trotzdem.
Okay - also, er hat rotbraune Haare, die in leichten, schönen Wellen bis auf seine Schultern fallen. Paul hat mir erzählt, dass er solche Haare hatte. Überhaupt hat der Junge irgendwie Ähnlichkeit mit Paul, wie ich gerade feststellen muss.
Ich sehe ihn mir jetzt noch genauer an, denn ich will ihn Euch so gut wie möglich beschreiben.
Meine Güte, ist der hübsch - so ne klassische Schönheit und Look of the Year in einer Person, find ich.
Im Ernst, so würd ich auch gerne aussehen… Doch selbst wenn ich nicht krank wär, könnte ich da nicht mithalten… Aber wer kann das schon?
Paul vielleicht…
Na ja, ich werd Euch jetzt lieber weiter beschreiben, wie der Junge aussieht. Seine Augen sind so hellblau, wie der Himmel an einem wolkenlosen Sommertag. Meine Güte, wie schöngeistig…
Aber irgendwie läuft es darauf hinaus. Ich hätte nun auch etwas weniger euphorisch babyblau sagen können, oder dass er so blaue Augen hat wie n Siamkater. Mir aber gefällt der Vergleich mit dem Himmel und wem das zu schwülstig ist, der kann ja vergissmeinnichtblau dazu sagen.
Wie dem auch sei - der Junge hat jedenfalls so hellblaue Augen wie Paul. Der hat die blausten Augen, die ich je gesehen hab.
Meine sind zwar auch blau, allerdings eher so graublau. Die Augen des Jungen aber wirken oft gletscherblau wie Eis; glasklar und kühl,
während Pauls Blick gar nicht kalt, sondern warm und strahlend ist.
Oder war. Im Moment ist er nämlich eher matt. Nahezu erloschen…
Also, ich bleibe nun lieber bei dem Jungen.
Ich möchte unbedingt erzählen, wie er aussieht und außerdem unterdrückt dies das seltsam leere, unangenehme Gefühl und die quälende Sorge um Paul.
Der Junge hat hübsch geformte, dunkle Augenbrauen und lange, dichte, fein geschwungene schwarze Wimpern, wie sie in irgendwelchen Werbespots für Mascara diese ganzen Mädchen immer haben.
So was wie Schminke hat er aber gar nicht notwendig.
Seine Gesichtszüge sind fein, der Teint ebenmäßig und rein - nicht so n Clerasiltestgelände wie ich eins hab.
Seine Nase ist klassisch geformt und seine Lippen sind…
Sinnlich und prall (oder so). O Mann, wie das klingt…
Na ja, aber seine Lippen zeigen nun mal eine unübersehbare Affinität zu roten, reifen Obst und genau das denkt auch das Mädchen, das gerade aus dem Pastorat herauskommt und nun an ihm vorbei geht.
Der Junge mit dem Kirschmund fläzt sich auf einer Sonnenliege im Garten vor der Kirche und bedenkt sie mit einem halbherzigen Blick.
Sie errötet daraufhin und geht hastig weiter.
Nach und nach kommen auch andere Jungen und Mädchen in den Garten hinaus, denn für heute ist der Konfirmandenunterricht vorbei.
Der Junge mit dem Kirschmund sieht an ihnen vorbei.
Er weiß, welche Blicke ihn jetzt streifen; er kennt das bereits.
Diese Blicke sind zu gleichen Teilen eifersüchtig, unwillig, respektvoll, bewundernd oder lüstern. Der Junge lächelt selbstverliebt. Er weiß, dass er gut aussieht, ist sich seiner Wirkung absolut bewusst und strotzt nur so vor Selbstvertrauen.
Aus dem Pastorat tritt nun ein Mann, der eine ausgebeulte, schlichte schwarze Hose und einen etwas unförmigen, dunklen Pullover trägt, heraus. Er sieht gutmütig und emphatisch aus, doch er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Jungen auf der Sonnenliege.
Trotzdem ist dies sein Vater und überdies der Gemeindepastor.
Der Kirschmund-Junge seufzt, als er ihn erblickt - er weiß nur zu gut,
was jetzt kommen wird.
Der Vater geht auf die Sonnenliege zu und als er sie erreicht hat, sieht er auf den Jungen, lächelt nachsichtig und fragt mild tadelnd:
“Tibor - kannst du nicht, wenn du schon während des Konfirmandenunterrichts mitten auf der Kirchwiese herumliegen und dich sonnen musst, wenigstens das T-Shirt dort sitzen lassen, wo es für gewöhnlich sitzt?“ Der Pastor mustert noch einmal seinen Sohn, der eine enge, schwarze Strechjeans trägt und das angesprochene, ohnehin knappe T-Shirt, über den Bauchnabel nach oben geschoben hat.
Tibor zuckt mit den Schultern.
“Um diese Tageszeit steht die Sonne hier nun mal am besten”, erklärt er.
“Und außerdem kann ich ja nichts dafür, wenn dieser Kindergarten jedes Mal ausflippt, nur weil draußen auf der Liege einer ist.“
Sein Vater schüttelt den Kopf. “Als ob du dir deiner Wirkung nicht bewusst wärst…”
Tibor sieht ihn gelangweilt an. “Ist ja schon gut“, erklärt er,
“künftig bin ich um diese Zeit im Proberaum! Ich will mir ja nicht nachsagen lassen, dass ich es darauf anlege, dass sich irgendwelche Kleinkinder an mir aufgeilen…“
Damit steht er anmutig von der Liege auf und geht über die Kirchenwiese davon. -
Eine coole Sau, dieser Tibor, findet Ihr nicht auch.
Ich komme noch um vor Bewunderung.
So selbstbewusst und attraktiv ist der… Wie Paul…
Ich kann ihn genau vor mir sehen, wie er über die Wiese bei der Kirche förmlich davon schwebt; gut gebaut und leicht.
Genauso ging Paul damals, als er mir draußen auf dem Gang vor den Krankenzimmern entgegen oszillierte, oder wie das heißt.
Ich sehe nun auf und stelle fest, dass von der gelblichen Flüssigkeit zumindest in dem Fläschchen kaum noch was zu sehen ist, wohl aber im Katheter.
Manchmal beunruhigt es mich ja, wenn ich das Gefühl hab, dass ich mich zu absolut nichts mehr aufraffen kann. Doch diese Sache mit Tibor fasziniert mich. Soviel weiß ich jedenfalls schon:
Tibor kommt aus Ungarn; aus einem kleinen Ort in der Puszta.
Den Namen weiß ich allerdings nicht, aber vielleicht kennt Paul ja einen. Er war früher nämlich oft mit seinen Eltern dort.
Tibor ist sechzehn Jahre alt, zwei Jahre jünger als wir.
Paul und ich werden dieses Jahr beide achtzehn; Paul im März und ich im Februar.
Tibors Vater ist der Pastor der evangelischen Kirchengemeinde des Ortes und seine Mutter ist Musikprofessorin.
Tibor selbst hat gerade die Schule hinter sich gebracht und von daher Zeit, sich uneingeschränkt seiner Zukunft zu widmen.
Tibor ist nämlich Musiker. Vor zwei Jahren hat er ne Band gegründet, deren Namen ich aber leider auch noch nicht weiß. Es wird ja wohlmöglich sogar ein ungarischer sein und auf dieser Sprache kann ich ungelogen kein Wort.
Ich frage mich, wie ich überhaupt auf Ungarn als Tibors Heimat gekommen bin. Bestimmt liegt es an der Dokumentation über die Große Tiefebene, die Paul und ich vor einiger Zeit im Fernsehen gesehen haben, und auch daran, dass Paul schon so oft dort war.
O Mann, wie sehr wünsch ich mir, dass ich die Puszta auch mal gesehen hätte! Nicht nur im Fernsehen, sondern ganz in echt…
Ich kann mich genau daran erinnern, wie ich auf den Bildschirm gestarrt hab und ganz plötzlich Sehnsucht nach all dem verspürte; nach der unendlichen Weite und nach dem grenzenlosen Himmel darüber.
Während ich hier jetzt auf meinem Bett liege, sehe ich wieder die grasenden Graurinderherden vor mir und die Ziehbrunnen, die aus der Weite herausragen. Heute Abend vor dem Einschlafen werde ich die ersten sechs ungarischen Rhapsodien von Liszt hören, soviel steht fest.
“Ja“, hatte Paul mir nach der Sendung bestätigt, “das ist wirklich absolut schön da. Weißt du, Sandor Petöfi, das war ein ungarischer Volksdichter, also, der hat geschrieben, dass die Puszta dem oberflächlichen Betrachter als karg und trist erscheinen mag - es ist, als trage sie einen unsichtbaren Schleier, den sie nicht für Jeden lüftet. Doch für denjenigen, für den sie es tut, offenbart sie sich als die Schönste von allen.”
Dafür liebe ich Paul. Er ist nicht nur hübsch, sondern er ist auch belesen und klug und er kennt so schöne Sachen und Zitate.
Die Puszta jedenfalls lüftete ihren Schleier für mich und nun lebt Tibor dort.
Mir fällt jetzt sogar noch was ein: Ich sehe wieder diesen See vor mir,
aus dessen dicht mit Schilf bewachsenen Saum fünf wunderschöne weiße Seidenreiher in die Luft emporstiegen…
Ich spüre einen Schauer, so schön war das, und jetzt weiß ich, dass es wahrhaftig kein Zufall ist, dass ich Tibor gerade dort angesiedelt hab.
Ein Problem könnte allerdings das mit sich bringen:
Ich hab absolut keinen Schimmer über die Lebensverhältnisse in Ungarn.
Ich weiß lediglich, dass es früher mal zu den sozialistischen Staaten des so genannten Ostblocks gehörte, hier aber so ne Art Sonderstellung eingenommen hatte. Das heißt wohl soviel wie dass Ungarn - wie das ehemalige Jugoslawien - für einen Staat des Warschauer Paktes ziemlich westlich orientiert war, über ein reichhaltiges Warenangebot und einigermaßen passable Lebensbedingungen verfügte sowie vom Westen touristisch erschlossen war. Dies galt insbesondere für den Balaton, die Puszta und die Hauptstadt Budapest, glaub ich.
1989 öffnete Ungarn seine Grenze zu Österreich, sodass viele Bürger der DDR in den Westen fliehen konnten.
Damit leitete Ungarn den Zusammenbruch des Sozialismus in Europa ein. War wohl eh gar kein richtiger…
Heute steht Ungarn öfter mal wegen Orban in der Kritik, mehr weiß ich aber nicht.
Ich seufze.
O Mann, ich hab von Politik wirklich absolut keine Ahnung - und von Außenpolitik schon gar nicht.
Seit ich krank bin, sehe ich nicht mal mehr Nachrichten.
Vielleicht ist das alles aber gar nicht so schlimm, weil ich mich wohlmöglich ohnehin vor allem auf Tibor und seine Musik konzentrieren soll. Schließlich will ich ja kein Sachbuch oder nen Tatsachenbericht über die Politik und die Lebensverhältnisse im heutigen und historischen Ungarn verfassen.
Ich sehe nachdenklich vor mich hin und urplötzlich hab ich wieder so eine von meinen Ideen:
Vielleicht spielt die Geschichte ja gar nicht heute, sondern, - sondern schon viel früher - so um 1989 oder in den frühen Neunzigern des letzten Jahrhunderts.
Des letzten Jahrhunderts…
Das klingt, als wäre das sonst wie lange her, aber in Wirklichkeit sind es noch nicht mal dreißig Jahre.
Trotzdem schüttle ich jetzt den Kopf über mich selbst.
Zwanzig, dreißig oder vierzig Jahre - wie um alles in der Welt komm ich bloß auf so was? Was ist so überzeugend oder gar cool daran, Tibor in ne Zeit versetzen, die immerhin fast ne ganze Generation zurückliegt?
Ich denke angestrengt nach, doch außer dass ich das irgendwie gut find, fällt mir kein Grund ein.
Sei’s drum, ich belasse es jetzt einfach dabei und falls ich den Gedanken irgendwann doch nicht mehr so toll finden sollte, kann ich Tibor ja wieder in die heutige Zeit zurückholen.
Und so lange ist das doch wie gesagt auch nicht her -
jedenfalls reden wir nicht über die Zeit des Barock oder gar über das Mittelalter.
Heutzutage ist Tibor längst ein bekannter Musiker, und das nicht nur in Ungarn, sondern auch weit darüber hinaus.
Genaues weiß ich noch nicht, jedenfalls aber macht er Metal.
1989 wusste Tibor noch nicht, wie berühmt er werden sollte,
wenngleich ihm das, selbstbewusst und gesegnet wie er ist, keinesfalls unmöglich oder abseitig erschienen wäre.
Er verfügte und verfügt über eine große musikalische Begabung,
ist ehrgeizig, zielstrebig und wie beseelt von der Musik, die er bereits damals ausnahmslos selbst schrieb.
Tibor spielt (unter anderem) Gitarre. Einen Bassisten und einen Schlagzeuger hatte er auch schon und damals fehlte ihm zu seinem Glück nur noch eins: die ultimative Stimme.
Wie die klingen soll? Keine Ahnung mal wieder, gut würd ich sagen, übermäßig gut. Aber das ist wohl etwas zu vage und außerdem versteht ja auch jeder was anderes darunter.
Ich kann nur sagen, dass es viel war, was Tibor diesbezüglich verlangte. Er zumindest wusste, wie diese Stimme klingen sollte und er wurde allmählich ungeduldig, weil er sie nicht finden konnte…
Die Tür zu meinem Zimmer öffnet sich und Steven kommt herein.
Steven ist einer der Krankenpfleger auf der Onkologischen.
Bis vor kurzem hatte ich mir das Zimmer mit Paul geteilt geht, aber seit es ihm so schlecht geht, und er immer schwächer wird…
Na ja.
Mit schnellen Schritten geht Steven an mein Bett heran und ich schalte den MP3-Player aus.
“So, Henny”, meint er zu mir, während er an dem Behälter, in dem das Medikament war, herumfingert und den Katheter überprüft,
“das war die Chemo für heute.”
Ich nicke ihm zu. Ja, das weiß ich schon…
Ich will jetzt zu Paul und ihm alles erzählen.
Über Tibor, seine Band, die Stimme, die er nicht finden kann - ja, und über die Puszta auch.