Читать книгу Himmelslandtourist - Henny Frank - Страница 15
I. 12.
ОглавлениеIch hab im Krankenhaus im Internet nachgesehen, aber “Bled white” wurde da mit “zahlen bis zur Weißblütigkeit” übersetzt.
Ich weiß nicht genau, was damit gemeint ist, könnte mir aber vorstellen, dass jemand für eine Schuld bezahlen soll, bis es zu einer Art Reinheit durch Sühne gekommen ist.
Das ist auch nicht schlecht, aber für mich ist damit die Leukämie gemeint und dieses Lied ist für mich mittlerweile zu meinem Leib- und Seelensong geworden. Die ganze Wucht der Verzweiflung liegt darin.
Letzte Nacht hatte ich einen Traum.
Ich ging den Weg beim Schwarzerlenwald im Fasa-Park entlang, als auf einmal Paul vor mir stand. Er sah auf, grinste und meinte:
”Nicht schlecht, was du dir alles ausdenkst, Henny…
Mach bloß weiter damit! Ich will unbedingt wissen, wie sich alles in deiner Geschichte findet.”
Er warf mir durch die Luft eine Kusshand zu.
“Ich muss jetzt zurück…” Damit wandte er sich ab, kletterte über den Zaun und verschwand im Dickicht des Schwarzerlenwaldes.
Als ich erwachte, konnte ich mich mit solcher Deutlichkeit an den Traum erinnern, dass ich mir - wie bei dem Jesus-Traum - nicht sicher war,
ob ich überhaupt bloß geträumt hatte.
So real erschien mir alles…
Mittlerweile ist es Nachmittag und es ist keinesfalls so, dass der Traum allmählich zu verblassen beginnt, wie Träume es doch sonst so oft tun. Nein, ich sehe noch immer alles klar und deutlich vor mir, und ich weiß noch genau, dass ich genickt hab, als Paul zu mir meinte, dass ich unbedingt mit der Geschichte weitermachen soll.
Das werde ich auch tun.
Morgen steht erst mal eine Knochenmarkpunktion an und bereits heute wurde mir Blut abgenommen.
Da ich ja diesen Hickman- Katheter eingesetzt bekommen hab, bekomm ich so wenigstens nicht noch andauernd Spritzen.
Ich gehe gerade durch den Krankenhauspark und während ich hier rumschlendere, muss ich die ganze Zeit daran denken, dass Paul morgen Geburtstag hat.
Wie seine Freunde und seine Familie diesen Tag, wohl verbringen werden…
Ich hab keine Ahnung, aber ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass dies ein sehr trauriger Geburtstag für sie werden wird.
Nein, mehr noch; ich weiß es. Und für mich selbst wird es das auch.
Letzten Monat hatte ich selbst ja Geburtstag und da war mir auch nicht nach Feiern. Mit wem auch…
Aus diesem Grund hab ich meinen Geburtstag schon seit Jahren nicht mehr gefeiert und nun ist es ja nicht so, dass sich meine Situation gebessert hätte.
Meine Eltern haben alles versucht, um mir den Tag so schön wie möglich zu machen. Wir waren im Fasa-Park und außerdem hab ich total viel Musik geschenkt bekommen.
Auch auf der Station waren alle sehr nett zu mir. Ich kam aber nicht umhin, die ganze Zeit daran zu denken, ob ich meinen nächsten Geburtstag wohl auch noch erleben werde - oder ob dies hier mein letzter ist. Wird es auf einmal so schlimm mit mir, dass die Krankheit explodiert, keine Chemotherapie mehr hilft, sie auch bei mir keinen Spender finden und alles innerhalb kurzer Zeit vorbei ist?
Oder krieg ich meinen soundsovielten Zyklus, der mich zwar nicht krebsfrei macht, aber wenigstens die Verbreitung der Blasten eindämmt?
Oder werde ich wieder gesund? (Sollte vermutlich Remission heißen.)
Und interessiert mich das alles überhaupt (noch)?
Oder ist es mir (jetzt schon) egal…
Ich hab keine Ahnung, und jetzt, ohne Paul, stehe ich ohnehin dem Tod plötzlich reichlich reserviert gegenüber.
Suspekt ist er mir zwar nach wie vor, doch ich will nicht länger solche Angst vor ihm haben.
An manchen Tagen gelingt mir das auch, dann komm ich mir stark und gefasst vor. Manchmal hab ich sogar göttlichen Beistand.
Zumindest wenn ich mich darauf einlassen kann und seit diesem Traum mit Jesus kann ich das jetzt hin und wieder sogar.
O Mann, ohne ihn wäre das alles echt noch weniger zu ertragen…
Meine Eltern glauben nicht an Gott, doch wenn ich jetzt damit anfange, widersprechen sie mir nie.
Vermutlich denken sie, naja, wenn es ihm hilft, oder so, und es ist ja auch so, dass es mir tatsächlich hilft.
Manchmal wenigstens…
Aber wisst Ihr, ich zweifle auch nach wie vor.
Ich hab jetzt meine Bank unter der Buche erreicht und zum Glück ist sie nicht besetzt.
Heute ist der 17. März, doch der Winter dauert in diesem Jahr ziemlich lang. Die Luft ist eiskalt und der Himmel über mir mit dichten grauen Schleiern bedeckt - gleich wird es wieder schneien.
Ich drücke die Mütze fester auf meinem Kopf. Darunter trage ich Pauls Tuch. Ich muss es ständig bei mir haben, denn dann hab ich das Gefühl, dass auch ein greifbarer Teil von ihm noch immer bei mir ist.
Du kannst das doch verstehen, Carsten?
Ja, das kannst du.
Zwar hast du kein Tuch von deiner Mutter, dafür aber ein kleines Kreuz an einer silbernen Kette.
Seit nun mehr zwölf Jahren trägst du es bei dir und du bist so froh, dass du es nicht verloren hast.
Das ist nämlich keinesfalls so selbstverständlich, wie ich Euch jetzt erzählen werde.
Carsten war damals acht Jahre alt und trug das Kreuz in seiner Hosentasche bei sich.
Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, zog er es hervor und sah es sich an. Dieser Anhänger an der Kette war alles, was ihm aus Ungarn und von seiner Mutter geblieben war.
Bis auf ein paar Klamotten waren alle seine Sachen dort geblieben und als Carsten älter wurde, fragte er sich manchmal, was wohl aus ihnen geworden war.
Nun aber stand er als Achtjähriger in einer einsamen Ecke des Grundstücks, dem so genannten Schulgarten, der ohne Begleitung der Lehrer von den Schülern eigentlich gar nicht betreten werden dufte.
Carsten wollte aber allein sein und als er schließlich vor den Blumen-, Gemüsebeeten und dem kleinen Erdbeerfeldchen stand, zog er sein Kreuz aus der Tasche hervor.
Er wähnte sich allein, doch plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch und im nächsten Moment versetzte ihm jemand einen Stoß, so dass er einen Schritt nach vorne stolperte. Erschrocken fuhr Carsten herum.
Vor ihm standen Heiko und Thomas.
Während seiner Grundschulzeit waren sie für Carsten in etwa das,
was später dieser Marcel Sigel mit seiner Clique werden sollte.
Lauernd sahen sie die Beiden ihn an.
“Na - was haben wir denn da?”
Carsten antwortete nicht. Stattdessen versuchte er, den Anhänger und die Kette wieder in seiner Hosentasche verschwinden zu lassen, doch
die Beiden hatten ja bereits gesehen, dass er irgendwas in er Hand hielt.
Heiko schnappte auch prompt danach und wollte ihm die Kette fortreißen. Carsten hielt den Anhänger fest; niemals würde er den freiwillig hergeben.
“Nun rück schon raus!”, forderte Heiko und versuchte, Carstens Finger auseinander zu drücken.
Carsten verkrampfte förmlich, doch dieser Heiko war viel stärker als er. Schließlich gelang es ihm, Carstens Griff zu lösen und bekam einen Teil der Kette zu fassen. Er zog kräftig daran und die Kette riss.
Heiko warf einen oberflächlichen Blick auf die kleinen silbernen Ösen in seiner Hand. Dann warf er sie achtlos auf das Ranunkelbeet vor sich und packte anschließend mit harten Griff wieder nach Carstens Hand.
Der starrte entgeistert auf die zerrissene Kette.
Heiko presste Carstens Hand auseinander und der hatte diesem erneuten Anflug von grober Gewalt nichts mehr entgegenzusetzen.
Seine schmerzenden Finger gaben nach und das Kreuz lag frei.
Sofort riss Heiko es an sich.
“Ach wie hübsch.” Verächtlich sah er Carsten, der wie versteinert stand, an. “Und wegen dem Ding machst du so viel Theater? Guck mal, Thomas, wie der jetzt aus der Wäsche guckt!“
Die Beiden lachten. Dann warf Heiko auch das Kreuz fort.
Es landete in der Hecke, die das Schulgrundstück zur Straße hin eingrenzte und Carsten seufzte erschrocken auf.
“Ja, jetzt plärrt er bestimmt wieder!” Thomas stieß Carsten in die Seite. “Wilke, weißt du was du bist? Ne richtige Heulsuse!”
Damit ließen sie ihn stehen.
Für die nächsten Augenblicke war Carsten nicht imstande sich zu rühren. Er war wie gelähmt. Als das dumpfe Gefühl aber nachließ, lief er hastig zur Hecke und suchte angsterfüllt zwischen ihren kurzen krausen Ästchen nach seinem Kreuz.
Carsten konnte den Anhänger nicht finden und schließlich läutete die Schulglocke die neue Unterrichtsstunde ein.
Der Garten lag aber außer Sichtweite des Schulhofes vor dem Gebäude und so bemerkte Carsten nicht, dass sich der Platz allmählich zu leeren begann. Auch die Glocke hatte er kaum wahrgenommen.
Mama, dachte er, ich brauch das Kreuz und die Kette. Sonst hab ich nichts mehr von dir und außerdem ist dieser Anhänger von allem was mir gehört das schönste…
Dann fiel Carsten die zerrissene Kette auf dem Ranunkelbeet ein und seine Tränen tropften in die störrischen Zweige der Hecke.
Nicht weinen, sagte er sich.
Bei der Kette weiß ich ja wenigstens, wo sie ist. Den einen Teil hab ich hier und der andere liegt da vorne im Beet.
Bestimmt können Papa und Ulrike das reparieren.
Wo aber ist das Kreuz…
Carsten war nun vollständig aus seiner Erstarrung erwacht.
Er konnte den Anhänger jedoch nicht finden und seine Suche wurde immer verzweifelter.
Plötzlich wurde im Schulgebäude ein Fenster aufgerissen.
“Carsten Wilke, was treibst du da?”
Laut und grell klang eine weibliche Stimme zu Carsten herüber.
Sie schrillte förmlich in seinen Ohren.
Frau Schenker… Erschrocken fuhr er herum.
“Wie oft haben wir euch schon gesagt, dass ihr im Garten nichts zu suchen habt! Hast du das noch immer nicht kapiert? Außerdem hat es längst geklingelt!“
Carsten bekam vor Aufregung einen Schluckauf und er machte jetzt so eilig kehrt, dass er fast über seine eigenen Füße gestolpert und gestürzt wäre. Die Lehrerin sah ihn bedenklich an und schüttelte den Kopf.
Während Carsten nun in die Klasse lief, wurde er abwechselnd blass und rot vor Erregung. Wisst Ihr, er hatte ziemliche Angst vor dieser Lehrerin.
Sie war streng und ungerecht und insbesondere auf ihn schien sie es abgesehen zu haben. Fast täglich schimpfte sie mit Carsten und überdies machte sie ihn ständig vor den anderen Kindern lächerlich.
Carsten seufzte. Im Grunde konnte er ja jetzt gar nicht reingehen -
nein, er musste weitersuchen und wenigstens den Teil seiner Kette vom Ranunkelbeet aufheben.
Niemals aber hätte er gewagt, ausgerechnet dieser Lehrerin zu widersprechen und von seinem Kreuz erzählen mochte er ihr auch nicht.
Carsten vertraute ihr nicht und am Ende machte sie sich nur wieder über ihn lustig.
Neulich erst hatte sie dies getan und während die anderen Kinder über ihn lachten, hatte sie vorn an ihrem Pult gesessen und so merkwürdig vor sich hingeblickt; nahezu hämisch.
Nein, diese Schenker wäre die letzte gewesen, der Carsten sich anvertraut hätte.
Nun betrat er den Klassenraum.
Ein paar Kinder grinsten, als er hineingestolpert kam.
Vermutlich hatten Heiko und Thomas ihnen erzählt, was sich vorhin im Schulgarten zugetragen hatte. Vielleicht aber waren sie auch einfach nur schadenfroh, weil Carsten Ärger bekommen hatte und aller Voraussicht nach noch größeren bekommen würde.
Jeder wusste, wie ängstlich er war, wie schnell er weinte
und jetzt warteten sie auf einen neuen peinlichen Auftritt.
Angstvoll setzte Carsten sich auf seinen Platz und blinzelte verstohlen zu der Lehrerin herüber. Dabei flehte er innerlich, dass sie es nun dabei belassen und mit dem Unterricht fortfahren würde.
Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht.
“Hast du die Pausenglocke nicht gehört?“, fragte sie ihn unfreundlich.
Und bevor er hätte antworten können:
“Was hattest du überhaupt im Garten zu suchen?!”
“Ich - ich…”, stotterte Carsten. Er brach ab und rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her.
Warum starrten ihn jetzt bloß alle an…
Carsten wurde beinahe schlecht vor Aufregung.
Dann dachte er an das Kreuz, das noch immer draußen in der Hecke lag und das war zuviel. Seine Tränen begannen zu fließen.
Er konnte noch so viel “Bitte nicht” denken; sie ließen sich einfach nicht zurückhalten. Unterdrücktes Kichern in der Klasse. Einige bekamen nun genau das, worauf sie gewartet hatten.
“Nun hör bloß auf, gleich wieder zu heulen!”
Die Stimme der Lehrerin klang unwirsch.
“Ich will jetzt endlich wissen, was du da draußen gemacht hast!“
Carsten versuchte auf ihre Frage zu antworten, doch er brachte nur ein klägliches Schluchzen hervor.
“Das ist doch nicht zu glauben!! Reiß dich gefälligst zusammen!“
Carsten weinte so sehr, dass seine Schultern zuckten.
Er fiel ein Stück nach vorn. “Meine Kette…”, stammelte er.
Die Lehrerin sah ihn kritisch an. “Deine Kette?” Was für eine Kette?“
“Von meiner - von meiner Mutter…”
“Und deshalb veranstaltest du so ein Theater?”
Die Schenker machte kein sonderlich emphatisches Gesicht.
“Also jetzt spinnst du wohl völlig!”
Carsten schluckte und starrte auf die Tischplatte vor sich.
“Wie auch immer”, fuhr die Schenker fort, “diese Kette, also die ist jetzt jedenfalls weg. Vielleicht begreifst du dann, dass ihr nichts im Garten zu suchen habt!“
Erschrocken sah Carsten auf.
“Aber ich muss…“, brachte er mühsam hervor.
“Du musst gar nichts! Und wehe dir, wenn ich dich in der nächsten Pause dort erwische!”
Versucht nun, Euch in einen ängstlichen, empfindsamen achtjährigen Jungen hineinzuversetzen, der fest davon überzeugt ist, dass man ihm soeben verboten hat, nach dem Liebsten und Kostbarsten zu suchen,
das er besitzt.
Ich selbst sollte nun allerdings aus Gründen der Fairness auch zugeben, dass diese Schenker wenigstens nicht wusste, dass die Kette Carstens toter Mutter gehört hatte - auch wenn mir überhaupt nicht danach ist.
Es war aber so, dass sie von Ilona noch nie gehört hatte und dass Carsten adoptiert war, wusste sie auch nicht. Sie hielt ihn für Ulrikes leiblichen Sohn, denn dass er das nicht war, hatten Johannes und Ulrike bei Carstens Einschulung verschwiegen. Ulrike wollte das so.
Überhaupt gaben sie seit ihrer Zeit in Kaltenkirchen Carsten überall als Ulrikes echten Sohn aus. -
Damals aber, in jener Schulstunde, beschloss diese komische Lehrerin gerade, sich wieder ihrem Unterricht zu widmen.
Daran war aber absolut nicht zu denken. Carstens Schluchzer wurden immer heftiger - er konnte absolut nichts dagegen tun.
In seinem Inneren war ein Damm gebrochen und er wusste nicht mehr ein noch aus. Nur noch an eines konnte er denken: dass er nicht nach seinem Kreuz suchen durfte.
Jetzt nicht und nie wieder.
Carstens Verzweiflung darüber war grenzenlos und er selbst wie entfesselt. Die Tränen spritzen ihm aus den Augen, er unterlag einem Weinkrampf und konnte sich kaum noch auf seinem Platz halten.
Aus seiner Klasse lachte jetzt niemand mehr. Viele Kinder sahen Carsten erschrocken an und auch die Lehrerin musterte ihn peinlich berührt.
Mit einer solch heftigen Reaktion hatte sie nicht gerechnet.
Bisher war es für sie das übliche gewesen:
Carsten war mal wieder lächerlich empfindlich. Er heulte ja sowieso wegen jeder Kleinigkeit und heute heulte er eben wegen einer Kette.
Wirklich nichts besonderes.
Überhaupt empfand sie Carsten als sonderbar.
Neben der für ihre Begriffe übertriebenen Empfindsamkeit war er auch noch zerstreut, unerhört ungeschickt und für ein Kind seines Alters seltsam ernst und introvertiert.
Ihrer Meinung nach war es überhaupt nicht verwunderlich, dass seine Mitschüler ihn ständig veralberten und sollte sie etwas dagegen unternehmen? Nein.
Oft spitzte sie die Situation sogar noch zu. Sie fand Carsten müsse lernen, sich durchzusetzen - obwohl bei einem wie ihm ja eigentlich von vornherein feststand, dass er für immer und ewig der Prügelknabe seiner Umgebung bleiben würde.
Sie beobachtete ihn eine Weile, schüttelte schließlich resigniert den Kopf und sagte in fallendem Ton:
“Mein Güte, dann geh jetzt nach draußen und such weiter!
Ich kann ja wegen deinem hysterischen Geheule nicht den ganzen Unterricht ausfallen lassen!“
Noch einmal schüttelte sie den Kopf.
“Mann, Mann, Mann, das gibt’s ja wohl nicht! Wie kann man nur so ein Theater aufführen - schämen solltest du dich!”
Von Carsten kam keine Reaktion. Er war noch immer außer sich;
weinte und hatte die Worte seiner Lehrerin gar nicht wahrgenommen.
Die Schenker trat vor und klopfte energisch auf seinen Tisch.
“Ja, hast du nicht gehört? Du kannst jetzt nach deiner Kette suchen! Noch mal möchte ich dich aber nicht im Garten sehen, hast du mich verstanden?“
Carsten zuckte zusammen. Innerlich aber bebte er - hatte er richtig gehört und er durfte weiter nach seiner Kette suchen?
Jetzt und sofort? Nein, bestimmt hatte er sich verhört…
Unsicher sah er seine Lehrerin an.
“Ja, wie schwer von Begriff kann man sein? Verschwinde endlich,
hast du nicht kapiert!”
Carsten schluckte und er stand auf. Noch immer entrannen kleine Schluchzer seiner Kehle. Er hatte so heftig geweint, dass er sich jetzt nicht wieder sofort beruhigen konnte.
Nun wollte Carsten so schnell wie möglich die Klasse verlassen, doch er fühlte sich seltsam schwach. Seine Beine waren schwer wie Blei, so dass er Angst hatte zu stürzen.
So kam es, dass Carsten sich äußerst langsam und vorsichtig bewegte und seiner Lehrerin ging das alles auch prompt viel zu langsam.
“Das gibt’s doch nicht…“, stöhnte sie.
“Also wirklich, erst machst du hier so einen Aufstand wegen dieser Kette! Wenn man dir erlaubt, danach zu suchen, muss man dich dreimal auffordern und jetzt schleichst du hier auch noch im Schneckentempo aus der Klasse!” Die Lehrerin schnalzte ungeduldig mit der Zunge.
In der Klasse begannen die ersten Kinder wieder über Carsten,
der jetzt so langsam und auf jeden einzelnen Schritt bedacht aus dem Raum ging, zu lachen.
Er konnte aber nicht schneller gehen. Noch immer hatte er das Gefühl, gleich den Halt zu verlieren.
Schließlich erreichte Carsten die Tür und drückte mit zitternden Händen die Klinke herunter. Dann ging er aus der Klasse, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich schwer atmend gegen sie.
Nach einer Weile begann er, den Gang herunterzugehen.
Ihm war, als könne er den rohen Tonfall seiner Lehrerin und das Lachen seiner Mitschüler noch immer laut und deutlich hören.
Es verfolgte Carsten in dieser Nacht bis in seine Träume.